Monat: November 2024

Schein und Sein – Im Elfenbeinturm

Hyperion Teil 3

Wer baute das siebentorige Theben? Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Wohin gingen die Maurer, als sie die Chinesische Mauer fertiggestellt hatten? Hatte Cäsar einen Koch bei sich, als er die Gallier besiegte?

In Bertolt Brechts berühmtem Gedicht aus dem Jahre 1935 stellt ein lesender Arbeiter Fragen.

Wir könnten also fragen: Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen wahr, die um ihn herum dafür sorgten, dass er in seinem Elfenbeinturm sitzen und erhabene Literatur produzieren konnte?

 

Die Familie Gontard und ihre Angestellten kamen aus der glänzenden Residenz Kassel und fühlten sich plötzlich „in eine urweltliche Umgebung versetzt“. Vor allem die schlechten Straßenverhältnisse werden erwähnt: die kahlen Berge, „schmutzige, unbeschreiblich ärmliche Dörfer und noch schmutzigere, ärmlichere holperige Wege“. Hölderlin sieht „Hütten, wo der fromme Landmann schlief“.

Der Kutscher saß bei Wind und Wetter auf einem der Pferde oder stand zeitweise auf der Deichsel und schwang die Peitsche. Er ist dem Dichter keine Zeile wert.

 

Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen in Driburg wahr, als er 1796 mit der Familie Gontard in unsere Stadt kam? Zunächst nahm er nur seine geliebte Diotima wahr, an zweiter Stelle schwärmte er von der Natur, und an dritter Stelle galt sein Interesse der Legende der Varusschlacht. Er stellte sich „Legionen erschlagener Krieger“ vor, die „mit ihrem Blut die Erde färbten“.

„In unserem Bade lebten wir sehr still.“

Der Bankier Gontard sollte ja auch möglichst unwissend bleiben.

Den erhabenen Dichter beeindruckte nicht die menschliche, sondern die landschaftliche Umgebung. Er wanderte nach Herste, von wo der Sauerbrunnen kam, der „Brunnengeist“, das Mineralwasser, das er mit Wein und Zucker genoss. Er besuchte das Glasmacherdorf Siebenstern, sah eine Schmiede in Neuenbeken. Aber wenn seine Diotima bei ihm war, flirrten die Hormone. Da war er ganz Hyperion.

Wer servierte ihm das Wasser, den Wein und den Zucker, wenn er durstig von der Wanderung zurückkehrte?

 

Rund 60 bis 80 Kurgäste, darunter Träger bekannter Namen, hielten sich im August 1796 im Bad auf. Die Stadt konnte „wegen der Ackerwirthschaft seiner meisten Bewohner nichts zur Erheiterung der Badegäste beitragen“, schreibt der Brunnenarzt Wilhelm Ficker.

Immerhin spielten bis in den Abend hinein die „böhmischen Musikanten“. Auf der „Liebhaberbühne“ des Kurhauses wurden Komödien aufgeführt, allerdings durch Kurgäste selbst. Es gab einen Raum zum Billardspielen.

Nicht so heiter war natürlich das Wecken morgens um fünf Uhr, wenn die „Dienstboten“ für die Badegäste Wasser pumpten und in den Badewannen verteilten. „Stubenmädchen“ eilten durchs Haus, über Dielen, Galerien, Promenaden, durch Säle und Säulengänge. Sie bereiteten das Frühstück vor.

Das Brunnentrinken und verschiedene Anwendungen füllten den Vormittag aus. Hölderlins Magen soll das Driburger Wasser sehr gut bekommen sein. Vielleicht saß er dann mit Diotima im Pavillon auf dem Rosenberg und schwärmte von Hermann dem Cherusker. Im besten Fall schwärmte sie zurück. Dann konnten sie sich auf das Mittagessen freuen: sechs Hauptschüsseln, drei Sorten Fleisch, etwa Wildbret, Geflügel, Forellen, Krebse, und Kuchen zum Nachtisch. Auch in seinem „sehr anständig“ möblierten und tapezierten Zimmer konnte Hölderlin sich bedienen lassen. Als Hauslehrer und Hofmeister durfte er aber auch „an gemeinsamer Tafel ohne Berücksichtigung von Rangunterschieden“ speisen.

Wer lieferte die Zutaten? Wer bereitete in der Küche die Speisen zu? Wer deckte die Tische? Wer spülte in der Küche?

 

Hölderlin könnte den Besitzer des Bades, den Freiherrn Kaspar Heinrich von Sierstorpff, kennengelernt haben. Er, anfangs begeistert von der Französischen Revolution und von der Republik träumend, erwähnt ihn nicht. Eine andere Quelle beschreibt die „Masse der Emigranten, die damals Westfalen überschwemmten und deren Gehaben er [Sierstorpff] so aus nächster Nähe beobachten konnte“. Von ihnen hatte der Freiherr „keine günstige Meinung“, während seine Frau sich „ihrer warmherzig annahm“.

Der Hausherr „ließ die alten, verwahrlosten Einrichtungen erneuern, Brunnenhaus und Kursaal errichten, die Umgebung durch Anlagen, wie den vorher kahlen Rosenberg, verschönern und verstand auf diese Weise das Ansehen des Bades […] zu heben“.

 

Wer erneuerte die Einrichtungen? Wer baute das Brunnenhaus? Wer pflegte die Anlagen?

Die Bürgerinnen und Bürger Driburgs spielen 1796 in der erhabenen Literatur keine Rolle. Arbeiter hatten in der Regel auch keine Zeit zum Lesen.

Literatur-Empfehlung:

Beatrix Langner: Übermächtiges Glück, Insel-Taschenbuch 2020

Erich Hock: „Dort drüben in Westphalen“, Metzler 1949/1995

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 2

Im ersten Teil ging es um Diotima, die zur Dichtung gewordene Geliebte Friedrich Hölderlins, die ihm kein Glück brachte. Ein Menschenfreund wurde der Dichter nicht, und auch der Staat bekommt in seinem Briefroman sein Fett ab und weg.

„Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen.

Aber was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden dürre liegt? Da hilft der Regen vom Himmel allein. O Regen vom Himmel! o Begeisterung! Du wirst den Frühling der Völker uns wiederbringen. Dich kann der Staat nicht hergebieten.“

 

Wenn man den Grad der Erhabenheit an der Anzahl des pathetischen „O“ in Friedrich Hölderlins „Hyperion“ misst, erreicht er große Höhen.

Erhaben ist zuerst die Kunst, das erste Kind göttlicher Schönheit, jedenfalls bei den Athenern.

Das zweite ist die Religion als Liebe der Schönheit, unendlich und allumfassend. „Ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürr Gerippe ohne Leben und Geist.“

 

Friedrich Wilhelm Weber ist ein religiöser Mensch. Des Himmels Huld ist sein Schirm, er lässt die Engel Gottes auch durch niedere Türen ein und aus gehen. „Dir dank ich, Gott, für jede Gabe.“

Hölderlin lässt seinen Hyperion sagen, dass er die Götter und die Menschen nicht mehr braucht. „Ich weiß, der Himmel ist ausgestorben, entvölkert, und die Erde, die einst überfloß von schönem menschlichen Leben, ist fast, wie ein Ameisenhaufe, geworden.“

Hyperion will nicht mehr zu friedenslustig, zu himmlisch, zu träge sein, er zieht in den Kampf. „Gerechter Krieg macht jede Seele lebendig.“

Hyperion schwärmt in einem Brief an Diotima von künftigen Vaterlandsfesten. Er geht heiter in den Kampf. Das kommt einigen von uns sicher bekannt vor.

Dann kommt es, wie es kommen muss. Hyperion schwärmt nicht mehr, er jammert. „O meine Diotima, hätte ich damals gedacht, wohin das kommen sollte? Es ist aus, Diotima! Es ist des Unheils zu viel.“

Auch seine Liebesgeschichte endet tragisch, Diotima stirbt einen schönen Tod. Ruhelos reist er durch Europa und:

„So kam ich unter die Deutschen.“

Hölderlin teilt als Hyperion aus, verbreitet seine Wut über die Landsleute, die seine Dichtergröße nicht anerkennen. Er bezeichnet die Deutschen als Barbaren, unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark, beleidigend für jede gutgeartete Seele.

 

Da will man doch gleich wieder zu Webers Gedichten greifen! Der fand „Ein Tal und Herzen, treu wie Gold. – Ein Städtchen dann im trauten Heimatland!“

 

Hyperion schwärmt nicht mehr, er ätzt, er verteilt Gift, als müsste er böse Kommentare in unseren „sozialen“ Medien schreiben.

 

„Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“

 

Friedrich Wilhelm Webers Welt ist auch nicht nur idyllisch. Als Arzt hat er manches bittere Schicksal, Krankheit und Tod kennengelernt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb bleibt er bescheiden und positiv.

„So zog ich aus zum fernen Ziele / Getrosten Muts bergab, bergan: / Es gibt der Täler ja so viele, / Wo man sein Hüttchen bauen kann.“

 

Und Beethoven, der erhabene Meister der Töne, der bei uns mit Hölderlin verkuppelt wurde? Der mit seiner Taubheit haderte? Er hat uns unter anderem eine Hymne hinterlassen mit Worten aus Schillers Ode an die Freude, die jeder auswendig kennt: „Alle Menschen werden Brüder.“

Hölderlin statt Weber

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 1

Es hat mehrere Ansätze gegeben, dem kleinen Städtchen Driburg am Osthang des Egge-Gebirges ein Flair zu verleihen, das es als etwas Besonderes erscheinen lässt, es über andere Orte erhebt. Heute nennt man es auch Alleinstellungsmerkmal. Mit dem Nationalpark hat es nicht geklappt.

Die Bemühungen der Familie von Sierstorpff, später von Oeynhausen-Sierstorpff, um den Ausbau der Kuranlagen gehörte eindeutig dazu. Die Einwohner der Stadt kamen nicht immer hinterher, bisweilen verharrten sie sogar in einer ablehnenden Haltung.

Als Driburg sich Bad Driburg nennen durfte, gefiel es fast allen, kurz nach einem verlorenen Krieg. Das Flair ließ noch auf sich warten. Nach dem zweiten großen Krieg war es noch schwieriger, weil auch der Kurbetrieb gelitten hatte.

Friedrich Wilhelm Weber gab der Stadt lange das Gefühl der Erhabenheit. Seine Büste findet man im Kurpark, seit 1934. Als Arzt nutzte er den Bürgern persönlich, als Politiker vertrat er sie unauffällig im fernen Preußischen Landtag in Berlin, und als Dichter rührte er ihr Herz. Die folgenden Generationen konnten gar nicht oft genug seine Verse zitieren: „Wonnig ist’s, in Frühlingstagen / Nach dem Wanderstab zu greifen / Und, den Blumenstrauß am Hute, / Gottes Garten zu durchschweifen.“ Man definierte ihn fast ausschließlich über sein Epos „Dreizehnlinden“.

Im Nationalsozialismus konnte man ihn leicht für völkisch-nationalistische Erzählungen missbrauchen. Er konnte sich nicht wehren.

Nun ist er aus der Mode gekommen.

An seine Stelle ist, auf Initiative von Annabelle Gräfin von Oeynhausen-Sierstorpff, Friedrich Hölderlin getreten. Zuletzt stellte man ihn an die Seite Ludwig van Beethovens, den er zwar nie kennenlernte, mit dem er aber dasselbe Geburtsjahr teilte. Beethovens Erhabenheit zweifelt niemand an.

Welcher Driburger könnte aber spontan einen Vers von Hölderlin aufsagen?

„Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings / Aufgegangen das Tal, wenn … Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume / Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft.“ Zu schwer.

Einfache Kost ist auch „Hyperion“ nicht. Webers Dreizehnlinden-Kloster kann man immerhin in unserer Region verorten. Hyperion schwärmt im fernen Griechenland, etwa von den geselligen Städtern in Smyrna. Sicher hätte er sie auch in unserem Badeort gefunden, wenn er es versucht hätte. Er will sich den Sitten und Gebräuchen der Bewohner anpassen, findet aber unter ihnen nicht genug Kraft und Geist.

„Es war mir wirklich hie und da, als hätte sich die Menschennatur in die Mannigfaltigkeiten des Tierreichs aufgelöst, wenn ich umher ging unter diesen Gebildeten. Wie überall, so waren auch hier die Männer besonders verwahrlost und verwest.“

Geistesschönheit und Jugend des Herzens vermisst er.

„Sahn jene Menschen einen Funken Vernunft, so kehrten sie, wie Diebe, den Rücken.“

Da möchte man doch lieber wieder Webers Idylle sehen: „Das ist dort hinter den Weiden, / das Dörfchen treu und gut, / Der einzige Winkel der Erde, / wo meine Seele ruht.“

Hölderlin hätte mehr als drei Wochen in Driburg bleiben sollen. Er hätte in Webers Dörfchen, Alhausen, sein pessimistisches Welt- und Menschenbild ändern sollen. „Komm! ins Offene, Freund!“ schreibt er doch zu seinem Gang aufs Land. Er hätte zur Iburg wandern sollen, wo er dem Himmel näher gewesen wäre. Stattdessen zieht er sich zurück. „Weder die Berge sind noch aufgegangen / des Waldes Gipfel nach Wunsch.“

„Ich war es endlich müde, mich wegzuwerfen, Trauben zu suchen in der Wüste und Blumen über dem Eisfeld.“

Weber begegnet den Widrigkeiten des Lebens pragmatischer, und wenn es hart wird, sucht er Trost im Glauben. Hölderlin fehlt solch ein Anker.

„Pathos, Schönheitssinn, Erhabenheit besitzen ja heute keine große Konjunktur mehr“, sagt ein Hölderlin-Experte. Vielleicht hat er unrecht.

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