Hyperion Teil 3
Wer baute das siebentorige Theben? Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Wohin gingen die Maurer, als sie die Chinesische Mauer fertiggestellt hatten? Hatte Cäsar einen Koch bei sich, als er die Gallier besiegte?
In Bertolt Brechts berühmtem Gedicht aus dem Jahre 1935 stellt ein lesender Arbeiter Fragen.
Wir könnten also fragen: Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen wahr, die um ihn herum dafür sorgten, dass er in seinem Elfenbeinturm sitzen und erhabene Literatur produzieren konnte?
Die Familie Gontard und ihre Angestellten kamen aus der glänzenden Residenz Kassel und fühlten sich plötzlich „in eine urweltliche Umgebung versetzt“. Vor allem die schlechten Straßenverhältnisse werden erwähnt: die kahlen Berge, „schmutzige, unbeschreiblich ärmliche Dörfer und noch schmutzigere, ärmlichere holperige Wege“. Hölderlin sieht „Hütten, wo der fromme Landmann schlief“.
Der Kutscher saß bei Wind und Wetter auf einem der Pferde oder stand zeitweise auf der Deichsel und schwang die Peitsche. Er ist dem Dichter keine Zeile wert.
Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen in Driburg wahr, als er 1796 mit der Familie Gontard in unsere Stadt kam? Zunächst nahm er nur seine geliebte Diotima wahr, an zweiter Stelle schwärmte er von der Natur, und an dritter Stelle galt sein Interesse der Legende der Varusschlacht. Er stellte sich „Legionen erschlagener Krieger“ vor, die „mit ihrem Blut die Erde färbten“.
„In unserem Bade lebten wir sehr still.“
Der Bankier Gontard sollte ja auch möglichst unwissend bleiben.
Den erhabenen Dichter beeindruckte nicht die menschliche, sondern die landschaftliche Umgebung. Er wanderte nach Herste, von wo der Sauerbrunnen kam, der „Brunnengeist“, das Mineralwasser, das er mit Wein und Zucker genoss. Er besuchte das Glasmacherdorf Siebenstern, sah eine Schmiede in Neuenbeken. Aber wenn seine Diotima bei ihm war, flirrten die Hormone. Da war er ganz Hyperion.
Wer servierte ihm das Wasser, den Wein und den Zucker, wenn er durstig von der Wanderung zurückkehrte?
Rund 60 bis 80 Kurgäste, darunter Träger bekannter Namen, hielten sich im August 1796 im Bad auf. Die Stadt konnte „wegen der Ackerwirthschaft seiner meisten Bewohner nichts zur Erheiterung der Badegäste beitragen“, schreibt der Brunnenarzt Wilhelm Ficker.
Immerhin spielten bis in den Abend hinein die „böhmischen Musikanten“. Auf der „Liebhaberbühne“ des Kurhauses wurden Komödien aufgeführt, allerdings durch Kurgäste selbst. Es gab einen Raum zum Billardspielen.
Nicht so heiter war natürlich das Wecken morgens um fünf Uhr, wenn die „Dienstboten“ für die Badegäste Wasser pumpten und in den Badewannen verteilten. „Stubenmädchen“ eilten durchs Haus, über Dielen, Galerien, Promenaden, durch Säle und Säulengänge. Sie bereiteten das Frühstück vor.
Das Brunnentrinken und verschiedene Anwendungen füllten den Vormittag aus. Hölderlins Magen soll das Driburger Wasser sehr gut bekommen sein. Vielleicht saß er dann mit Diotima im Pavillon auf dem Rosenberg und schwärmte von Hermann dem Cherusker. Im besten Fall schwärmte sie zurück. Dann konnten sie sich auf das Mittagessen freuen: sechs Hauptschüsseln, drei Sorten Fleisch, etwa Wildbret, Geflügel, Forellen, Krebse, und Kuchen zum Nachtisch. Auch in seinem „sehr anständig“ möblierten und tapezierten Zimmer konnte Hölderlin sich bedienen lassen. Als Hauslehrer und Hofmeister durfte er aber auch „an gemeinsamer Tafel ohne Berücksichtigung von Rangunterschieden“ speisen.
Wer lieferte die Zutaten? Wer bereitete in der Küche die Speisen zu? Wer deckte die Tische? Wer spülte in der Küche?
Hölderlin könnte den Besitzer des Bades, den Freiherrn Kaspar Heinrich von Sierstorpff, kennengelernt haben. Er, anfangs begeistert von der Französischen Revolution und von der Republik träumend, erwähnt ihn nicht. Eine andere Quelle beschreibt die „Masse der Emigranten, die damals Westfalen überschwemmten und deren Gehaben er [Sierstorpff] so aus nächster Nähe beobachten konnte“. Von ihnen hatte der Freiherr „keine günstige Meinung“, während seine Frau sich „ihrer warmherzig annahm“.
Der Hausherr „ließ die alten, verwahrlosten Einrichtungen erneuern, Brunnenhaus und Kursaal errichten, die Umgebung durch Anlagen, wie den vorher kahlen Rosenberg, verschönern und verstand auf diese Weise das Ansehen des Bades […] zu heben“.
Wer erneuerte die Einrichtungen? Wer baute das Brunnenhaus? Wer pflegte die Anlagen?
Die Bürgerinnen und Bürger Driburgs spielen 1796 in der erhabenen Literatur keine Rolle. Arbeiter hatten in der Regel auch keine Zeit zum Lesen.
Literatur-Empfehlung:
Beatrix Langner: Übermächtiges Glück, Insel-Taschenbuch 2020
Erich Hock: „Dort drüben in Westphalen“, Metzler 1949/1995
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