Kategorie: Uncategorized (Seite 1 von 2)

Unschuldig!

Nachtwolke Teil 3

Weh deinen Töchtern, die der Rosen pflegen,
Wie ihnen auch die weiße seltsam steh‘.

Über diese beiden Zeilen bin ich doch arg gestolpert. Die Töchter definiere ich einmal als Frauen allgemein, denn alle sind ja Töchter. Sie pflegen Rosen. Das ist für junge und ältere Frauen aus der Bürgerschicht nichts Ungewöhnliches. Jede und jeder, die und der einen Garten hat, pflegt dort in der Regel auch Rosen.

Weiße Rosen sollen es sein. Da fällt mir gleich Nana Mouskouri ein, die das Lied „Weiße Rosen aus Athen“ 1962 sang und zum Nummer-1-Hit machte. Es wird als Sehnsuchtslied bezeichnet.

Gitte Haenning sang 1969 das Lied „Weiße Rosen“ mit den Zeilen „Weiße Rosen für eine Hoffnung, / von der nur eine Träne mir blieb.“

Für uns heute sind weiße Rosen in Blumensträußen bei Hochzeiten und auch in Trauergestecken gebräuchlich. Weiß als Farbe der Unschuld sehen wir bei Taufen.

Gärtnereien bieten Alba-Rosen gern mit dem Hinweis auf ihre Symbolik an. Schon in der Antike sollen sie kultiviert worden sein, als Zeichen der Eleganz, Reinheit und Demut, des Neuanfangs, aber auch der Entsagung und Trauer.

Aphrodite soll sich an den Dornen eines weißen Rosenstrauches verletzt haben. Ihr Blut tropfte auf eine weiße Rose und färbte sie rot. Nur die weiße Rose war unbefleckt.

Jakob/James II. wurde 1685 König von England, Irland und Schottland. Als er wegen seiner katholischen Konfession abgesetzt wurde, hielt der schottische Adel heimlich zu ihm. Ihr Zeichen wurde eine weiße Rose am Barett, die Jakobitenrose.

Für Martin Luther bedeutete die weiße Rose, dass der Glaube der Anfang himmlischer Freude war und Trost und Frieden gibt. Sein Markenzeichen und Siegelbild wurde die Lutherrose, eine weiße Rose auf rotem Grund, in der Mitte ein rotes Herz und das Kreuz. Auf einem Fenster im Chorraum der Augustinerkirche seines Ordens in Erfurt befand sich solch eine Rose.

Die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen die Nationalsozialisten um die Geschwister Scholl steht im Zeichen der Toleranz und Humanität.

Theodor Storm schrieb 1848 das Gedicht „Weiße Rosen“.

Leb wohl, meine weiße Rose, / Mein Herz, mein Weib, mein Kind!

Storm hatte sich mit der dänischen Regierung angelegt, die seine Zulassung als Rechtsanwalt ablehnte. Er musste eine Stelle in Berlin annehmen.

In Clemens Brentanos Gedicht „Frühes Lied“ soll die weiße Rose sein altes Leben brechen, „aus den Tränen, aus den Schmerzen“.

Von Gottfried Keller stammt das Gedicht „An meine Dame“ aus dem Jahr 1846. Die weiße Rose in der Mitte bringt mit ihrem Blumenflor Sitte und Hoffnung „am Lebenstor“.

Anastasius Grün dichtete 1842: „Du herrlichste aller, o weiße Rose, / Du zarte und reine, du makellose“.

Warum aber steht den Töchtern die weiße Rose seltsam? Und warum steh‘ und nicht steht? Es muss sich auf Ninive reimen. Nur deshalb? Warum pflegen sie nicht die, sondern der Rosen? Warum droht auch ihnen mit Weh die Zerstörung, der Ruin? Warum wie ihnen auch?

Bei Friedrich Schiller findet man den Genitiv nach „pflegen“ in „Die Räuber“. Amalia schimpft im dritten Akt über ihren Vater: „Daheim labt er sich mit süßem köstlichem Wein und pflegt seiner morschen Glieder in Kissen von Eider.“ Bei Wilhelm Busch heißt es: „Denen, die der Ruhe pflegen, / Kommen manche ungelegen.“ Vielleicht empfand er wie Weber „die die“ nicht ästhetisch

Wenn die weiße Rose für Weber das Symbol für Reinheit, Unschuld, also Jungfräulichkeit ist, wirft er vermutlich den Frauen das vor, was er auch den Städten vorwirft: Heuchelei, Hohn und Trug oder, wie in derselben Strophe Babel und Ninive, Lüste und Hoffart.

Über dieses Frauenbild kann ich nur spekulieren. Frauen, die nur so tun, als ob sie unschuldig wären, könnte er bei seiner Europa-Reise in Wien, Paris, Berlin oder Greifswald kennengelernt haben. Andererseits ist belegt, dass er weiblichen Bekannten, adligen oder gutbürgerlichen Damen, Briefe geschrieben und auch harmlose Gedichte geschickt hat.

Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

„Vorbei, vorbei!“

Nachtwolke Teil 2

Die Romantik, das Biedermeier, der Vormärz, das Junge Deutschland und weitere Strömungen konkurrierten Mitte des 19. Jahrhunderts miteinander.

Friedrich Wilhelm Weber war ein fleißiger Leser. Wenn die Bad Driburger heute etwas von ihm lernen könnten, dann wäre es das fleißige Lesen. Weber hatte im Paderborner Theodorianum Latein als Unterrichtsfach. Seine Doktorarbeit über das Struma musste er in lateinischer Sprache verfassen.

Weber lernte bei einem Besuch in Schweden 1836 die schwedische Sprache kennen und erlernte sie überwiegend als Autodidakt. Er übersetzte schwedische Literatur (Tegnér). Die englische Sprache musste er auch sicher beherrschen, denn er übersetzte auch englische Literatur (Tennyson).

Schon seine Schulzeit und das Abitur in Paderborn entfernten ihn von einem Großteil der Driburger Bevölkerung, die sich mit der Bildung etwas schwertat. Seine literarischen Studien und sein umfangreiches Wissen verwendete er in seinen eigenen literarischen Arbeiten, so auch in der Nachtwolke.

Nie habe ich von dem Ausdruck „Firnen“ im Zusammenhang mit einem Zecher gehört. „Firn“ verband ich mit Schnee und Eis. Tatsächlich ist er geläufig als alter, mehrfach verdichteter Schnee.

beim Gelag, vom Firnen unterjocht (2. Str., 2. Z.)

Das Gelage muss nicht erläutert werden. Umgangssprachlich würden Bad Driburger mit dem Ausdruck Saufgelage kein Verständnisproblem haben. Dass jemand unterjocht wird, könnte schon weniger geläufig sein. Bauern kennen vielleicht noch das Joch, das je zwei Zugtieren, also Pferden oder Ochsen, über den Hals gelegt wurde, damit sie größere Lasten ziehen konnten.

Winzer wissen, dass Wein falsch gelagert und durch Oxidation bitter werden kann. Überlagerter Wein bekommt einen Firn-Geschmack. Wenn der Zecher zu viel von diesem – fehlerhaften und dadurch billigen – Wein zu sich nimmt, unterdrückt ihn der Alkohol. Der „greise“ Zecher verträgt nicht viel davon. Schlechte Träume und Aggressionen sind die Folge.

Weber vergleicht die sinnlos daliegende Stadt mit solch einem Zecher. Die Stadt lässt sich unterdrücken, ihre Bürgerinnen und Bürger lassen sich unterjochen. Ihre wüsten Träume behalten sie für sich.

Mein Feuer war’s, das Sodoma verbrannte,
Mein Donner war’s, der zu Gomorrha sprach. (3, 3+4)

Auch wenn Bad Driburger heute nicht mehr so bibelfest sein dürften wie zu Webers Zeit, wissen die meisten etwas mit Sodom und Gomorrha anzufangen. Die Zerstörung der beiden Städte um 1650 v.Chr. gilt als historisch gesichert. Laut der Bibel werden sie von Gott zerstört, der die Bewohner für ihr sündiges Verhalten bestraft.

Schergen (4, 3) kann man im heutigen Sprachgebrauch Handlanger nennen. Im Mittelalter waren es Stadtknechte oder Gerichtsdiener, die im Auftrag der Obrigkeit Bürgerinnen und Bürger verhafteten und auch vor Folter nicht zurückschreckten.

Mietlingshaufen (4, 3) bezeichnen gemietete, also bezahlte, käufliche Leute, Söldner. Sie waren in den früheren Gesellschaften sozial geächtet. In der Bibel waren Mietlinge Hirten, die über die Schafherden wachten, nicht weil ihnen die Schafe am Herzen lagen, sondern weil sie dafür bezahlt wurden.

Die biblische Geschichte von Kain und Abel ist sicher noch den meisten Bad Driburgern bekannt. Kain erschlug Abel aus Neid und Eifersucht.

mit dem Blut der Märtyrer (6, 3)

Die sechste Strophe ist vor allem durch die komplizierte Satzstruktur nicht leicht zu verstehen. Als Märtyrer sieht Weber die Opfer der Regierungen in der Metternich-Ära und möglicherweise auch während und nach der gescheiterten Revolution 1848. Von dem Kölner Robert Blum etwa könnte Weber erfahren haben, dem populärsten Demokraten des Vormärz, der für Freiheit, Einheit und Völkerverständigung eintrat. Blum wurde im November 1848 hingerichtet. — Im Berliner Schloss Bellevue, dem Amtssitz unseres Bundespräsidenten, wurde 2020 ein Saal nach Blum benannt.

Weh dir, o Babel, deiner Lüste wegen,
Weh dir um deine Hoffart, Ninive! (7, 3+4)

Wieder nutzt Weber biblische Erzählungen. Babel oder Babylon war eine Stadt im heutigen Irak. Als Sündenbabel steht sie sprichwörtlich für Unmoral, Verdorbenheit, Unzucht und Laster. Wie Sodom und Gomorrha wird Babel von Gott zerstört.

Der Begriff Hoffart kennzeichnet Hochmut, Anmaßung, Stolz und Überheblichkeit ohne Rücksicht auf andere. Die Bürger von Ninive in Mesopotamien, dem heutigen Irak, sind laut Bibel überheblich und böse, aber weil sie Buße tun, in „Sack und Asche“, werden sie von Gott verschont.

Wie Amos weint, der Held von Thekoa. (10, 4)

Der Prophet Amos trat laut Bibel für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter und Lohnabhängigen in Tekoa/Juda und im Nordreich Israel ein. Er legte sich mit den Großgrundbesitzern an und predigte gegen Verschwendung, Betrug, Bestechung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung der Armen. Amos weint, weil er die Zerstörung Israels durch Gott unweigerlich kommen sieht.

Das Prophetenwort (11, 4) „Von unten auf!“ bezieht sich auf den in Detmold geborenen Schriftsteller Ferdinand Freiligrath, der 1846 den Gedichtband „Ça ira!“ veröffentlichte, „Wir schaffen das!“, ein Motto aus der Französischen Revolution 1789. Er floh aus Furcht vor der Verhaftung und Hinrichtung ins Ausland. Nach einer Amnestie lebte er im schwäbischen Cannstatt.

So lag Pompeji in des Schlummers Schoß:
Da barst der Berg, da brach sein altes Hassen,
Die rote Lava seines Zornes los. (12, 2-4)

Pompeji schlummert wie die schlafversunkne Stadt in der ersten Strophe. Die Zerstörung der Stadt durch den Ausbruch des Vulkans Vesuv 79 n.Chr. ist bekannt. Weber schildert ihn als hassenden, zornigen Berg.

Die Iburg war eine sächsische Fliehburg, keine Zwingburg (14, 1), aber Burgruinen sind den Bad Driburgern bekannt.

Völlig unbekannt dürfte den meisten Ragnarök (15, 1) sein und die Sage vom Untergang der nordischen Götterwelt, von der auch die ältere isländische „Edda“ singt. Nach dem Untergang der alten Welt entsteht eine neue, jung, frisch, grün und brüderlich.

Nach alter Tafeln frommer Satzung (15, 4) sollen die Menschen nun leben. Da fällt mir die Tafelrunde ein, der runde Tisch des König Artus, die guten Ritter Lancelot, Parzival und Tristan. Ich denke an die Geschichten von Richard Löwenherz und Robin Hood. Die Ritter sind Kämpfer für Gerechtigkeit, gegen Willkür, ihr runder Tisch macht alle ohne Unterschiede gleich. Artus ist der ideale mittelalterliche König.

Eine Satzung könnte hier Verfassung bedeuten, fromm weniger religiös bezogen als ethisch und moralisch. Weber hing an der Idee einer konstitutionellen Monarchie mit weitreichenden bürgerlichen Freiheiten.

Es ist nicht Gottes jüngstes Gericht, das Weber beschwört, aber aus der Zerstörung des Alten entsteht neues Licht. Die 16. Strophe ist der Kern der Nachtwolke.

So wird aus deinem Staub zu neuem Lichte
Ein freies Volk erblühn voll That und Macht. (16, 1+2)

Das Volk soll erblühen, es soll frei, aktiv und mächtig sein. Da kommt der „rote Weber“ zum Vorschein. Das sind die demokratischen Ideen des Vormärz. Die Geschichte wartet mit erhobenem Griffel darauf, die neue Zeit zu dokumentieren. Dass die Stadt sie peinlich verschlafen hat, wird dann vergessen sein.

Aber die letzte Strophe erklärt alle vorherigen zur Farce. Weber hat das Gedicht 1839 begonnen und 1852 abgeschlossen, wohl auch mit den 1848er Träumen.

Vorbei, vorbei! (17, 1)

Die Hoffnung auf Freiheit, Brüderlichkeit und Demokratie ist zerstört. Nur der Wald, die vielgerühmte Natur in den Werken Friedrich Wilhelm Webers, bleibt als Trost.

Über Baalbeks Trümmer (17, 4) zu weinen lohnt nicht mehr. Baalbeks Tempel sind Ruinen, die Stadt im Libanon gibt es noch. Die Zerstörung hat noch kein Ende gefunden. Aber das ist eine andere Geschichte.

„Von unten auf“

Nachtwolke Teil 1

Das Gedicht „Nachtwolke“ entwarf Friedrich Wilhelm Weber 1838 und bearbeitete es bis 1852. Wenn die Menschen, denen er Demagogenriecherei vorwarf, es 1848 gelesen und auch richtig interpretiert hätten, wäre wohl auch Weber zum Auswandern gezwungen gewesen.

Es ist sehr komplex, historisch überladen, zu symbolhaft geraten, als dass es zur Lektüre der Dreizehnlinden-Liebhaber hätte werden können.

Warum nannte er das Gedicht Nachtwolke?

Am 21. Juni jedes Jahres findet die sogenannte Sommersonnenwende statt. Die Tage werden nun wieder kürzer. Um diesen längsten Tag herum kann man am Nachthimmel bläulich leuchtende Wolken sehen. Die Engländer nennen sie „Noctilucent clouds“. Sie bilden sich in etwa 80 Kilometern Höhe, dort, wo auch Sternschnuppen entstehen. Dort oben ist die Luft extrem dünn. Bei minus 140 Grad gefriert der Wasserdampf, die Eiskristalle verbinden sich zu Wolken und reflektieren das Sonnenlicht. Dieses Strahlen kann man in nördlicheren Gebieten sehen, wenn die Sonne gerade unter dem Horizont versinkt und der übrige Himmel bereits dunkel ist.

Die nachtleuchtenden Wolken werden als wunderschön bläulich bis hin zu silbrig-weiß gefärbt beschrieben und sind in sich fein gewellt. Man sieht sie am besten spät abends oder vor Sonnenaufgang bei klarem Himmel.

„Vergiß nicht, daß jede schwarze Wolke eine dem Himmel zugewandte Sonnenseite hat.“ Webers Nachtwolke?

Weber geht in seinem Gedicht nicht auf das Himmelsphänomen ein. Er schreibt von dunklen Flügeln, umdüsterten Stadtmauern, der in Schlaf versunkenen Stadt, vom schlummernden Pompeji, von dem blassen Mond als Leichenfackel, von der Nacht, die eine Schmach verdeckt und vergessen macht. Er ruft die Stadt auf, wach zu werden. Sie wird als Ruine enden, doch aus dem Staub soll neues Licht entstehen.

Weber war belesen und gebildet. Es ist möglich, dass er Nachtwolken gesehen hat, auf seiner Reise nach Schweden etwa. Es ginge zu weit, hier über den Hoffnungsschimmer am dunklen Horizont zu spekulieren.

Webers Stadt – Greifswald? –  ist groß und stolz, aber sie schläft. Weber vergleicht sie mit einem sinnlos betrunkenen Zecher nach einem Weingelage, der wüst, unverschämt und frech träumt, dem es im Hirn und in den Adern kocht, aber eben nur im Traum.

In dem Gedicht folgt harsche Kritik an den Herrschenden: an der Justiz und ihren Handlangern, an der Kirche, an den Fürsten, aber auch an den Frauen, an den Reichen, an den Banken. Dann kommt der Rächer, aber nicht von oben, sondern „von unten“.

Weber bezieht sich hier auf den geflohenen Dichter Ferdinand Freiligrath, der in seinem Gedicht „Von unten auf“ eine radikal neue Welt beschwört.

„Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat,
Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat!“

Aber Weber weiß, dass die Revolution vorbei ist. Am Ende wendet er sich weinend seinem grünen Freund, dem Wald zu.

Er kapituliert.

Wie rot war der rote Weber?

Wenn man Friedrich Wilhelm Webers Würdigung in der Stadtgeschichte von Bad Driburg betrachtet, zählt in erster Linie sein spätes Epos über die Christianisierung der Sachsen. In Bad Driburg griff man an wonnigen Frühlingstagen nach dem Wanderstab und streifte mit dem Blumenstrauß am Hut durch Gottes Garten.

Webers Geburtshaus in Alhausen mit der Dreizehnlinden-Gaststätte, die jetzt Lindenhof heißt, der Dreizehnlinden-Halle, dem Dreizehnlindenweg, der Straße Auf der Thingstätte legt sich auf das Alterswerk ihres Arztes, Politikers und Dichters fest. Das allerdings entstand in Thienhausen, nicht in Alhausen.

Die Alhauser Webseite nennt die Reihenfolge Arzt, Dichter, Politiker. Immerhin heißt es dort:

Neben seiner medizinischen Tätigkeit engagierte sich Weber aktiv in der Politik. Bereits während der Ereignisse von 1848 gründete er den „Verein der Volksfreunde“ in Driburg und setzte sich in öffentlichen Reden für demokratische Rechte ein. Von 1862 an vertrat er mehr als 30 Jahre den Wahlkreis Höxter-Warburg im Preußischen Abgeordnetenhaus.

Auf der neuen Seite friedrich-wilhelm-weber.de der Friedrich-Wilhelm-Weber-Gesellschaft steht an erster Stelle sein Glaube, an zweiter Dreizehnlinden als Beispiel für Heimat und Natur und an dritter Stelle Dichtung und Politik. Darin heißt es lapidar:

Weber war nicht nur Arzt. Er engagierte sich politisch als Demokrat …

War Weber rot? Stritt er für eine demokratische Ordnung?

Im Jahr 2013 erschien von Rüdiger Bernhardt im Rahmen der „Beiträge zu Studium und Dichtung“ der Brakeler Schriftenreihe 25 ein Beitrag über Friedrich Wilhelm Weber.

Bernhardt weist darauf hin, dass Weber selbst wenig Autobiografisches über seine „frühe Haltung“ hinterlassen habe. Auch der Biograf Julius Schwering habe das Zeitgeschehen in Webers Frühphase kaum beachtet.

Zeitgeschehen war 1815 der Wiener Kongress, der mit Napoleons Herrschaft aufräumte. Weber war zwei Jahre alt. Zeitgeschehen war die Julirevolution 1830 in Frankreich. Die Adelsherrschaft wurde beendet und Frankreich wurde Republik. In den über 40 deutschen Fürstentümern wuchs die Angst vor den Demokraten. Zeitgeschehen war das Hambacher Fest 1832, das wichtigste Ereignis in der Geschichte der deutschen Demokratie und des Liberalismus, im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold. Weber war 19 Jahre alt.

Zeitgeschehen war die Revolution 1848, die im März in Berlin ankam und auch in anderen deutschen Landesteilen Bürger auf die Barrikaden brachte. Zeitgeschehen war das 1848 veröffentlichte Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels.

Die Epoche vor 1848 wird in der Literaturwissenschaft als Vormärz und Junges Deutschland bezeichnet.

Bernhardt befasst sich zunächst mit Webers Studentenakte. Die Bezeichnung „roter Weber“ bezieht er aus Johannes Heinemanns Arbeit „Der Streiter für eine demokratische Ordnung“ von1994. Nachdem er ihn als konservativen Politiker und traditionell orientierten Dichter einstuft und ihn zeitlich ab 1862 im preußischen Landtag einordnet, schreibt er:

Er wurde auch als der „rote Weber“ in Folge seines ausgeprägten Gerechtigkeitssinnes bezeichnet, den Weber mit seiner ärztlichem [sic!] Verpflichtung verband und während seines Berufslebens in tätige Hilfe umsetzte.

Demnach ist also ein Arzt „rot“, der für Gerechtigkeit eintritt und seinen Beruf ernstnimmt.

Das ist eine erstaunlich unwissenschaftliche und ziemlich verschwurbelte Einordnung.

Rot waren die Mützen der Jakobiner während der Französischen Revolution 1789, denen es um die Abschaffung der Monarchie ging.

Rot war die Kleidung der Arbeiter in der Lyoner Seidenindustrie, die gegen ihre Hungerlöhne protestierten. Rot waren 1834 die Fahnen der Pariser Demonstranten,

Rot waren die Fahnen der Kölner Revolutionäre, als 1848 die Nachricht von den revoltierenden Franzosen in die Stadt kam und die Bürger auf die Straße trieb. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hatten Kölnerinnen auf die rote Fahne gestickt. Karl Marx war in der Stadt. Eine Demokratische Gesellschaft wurde gegründet.

Die meisten Bürger aber wollten nicht radikal sein. Biedermeiers wollten nicht politisch agitieren. Sie wollten eine einheitliche deutsche Nation, sie wollten Schwarz-Rot-Gold, die Fahne der studentischen Burschenschaften. In den Augen der Herrschenden war auch diese Version radikal und revolutionär.

Die Sozialdemokraten führen ihre Partei auf das Gründungsjahr 1863 zurück, als der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein entstand. 1869 nannte sich die Partei Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Ihre Fahne war rot, „bandiera rossa“.

Sozialisten und Kommunisten hatten rote Fahnen.

Friedrich Wilhelm Weber als einer der ersten Driburger Sozialdemokraten!? Das wäre doch einmal eine wirklich neue Sicht.

Wie rot war Weber?

1834 begann er sein Medizinstudium in Greifswald. Die Preußen hatten die ehemals schwedische, als liberal geltende Universitätsstadt übernommen. 1835 trat Weber der Burschenschaft Pomerania bei, einer schlagenden Verbindung. Er studierte neben Medizin auch Literatur. Er schrieb Gedichte, die den Einfluss der vormärzlichen Literatur zeigten.

Bernhardt zitiert früh eine späte Aussage Webers aus dem Jahr 1888:

„Irrung? Vielleicht! Wer schwärmte nicht im Lenze?“

Weber geriet als Burschenschafter ins Visier der preußischen Behörden. Ihm wurde der Freitisch entzogen, das kostenlose Mensa-Essen.

Der Student Weber machte nun selbst die Erfahrung sozialer Not. Seine Existenz stand auf dem Spiel, er musste vorsichtig sein. Oppositionelle wurden als „Demagogen“ verfolgt, verhaftet, zum Tode verurteilt. 1836 wurden die Schriften des Jungen Deutschland verboten.

Weber wurde mehrmals wegen angeblicher politischer Aktivitäten verhaftet, aus Mangel an Beweisen jedoch entlassen. 1837 sekundierte er bei einem verbotenen Duell, ein weiteres Mal leistete er dabei ärztliche Hilfe und wurde zu je einer Woche Karzer verurteilt. Politisch aktiv wurde er nie, und kritische Gedichte veröffentlichte er nicht.

Er promovierte 1838 und schloss sein Studium ab. Trotz seiner finanziell unsicheren Lage reiste er durch Europa. Erst 1841 ließ er sich in Alhausen und dann in Driburg als praktischer Arzt nieder.

Was ging im Revolutionsjahr 1848 in Driburg vor sich? Welche Rolle spielte Weber dabei?

Weber äußert selbst, dass er von den Ergebnissen der 1848er Revolution enttäuscht war. Er hatte auf eine nationale Einigung der vielen deutschen Fürstentümer unter einem Monarchen und einer Verfassung gehofft. Er hatte sich mehr bürgerliche Freiheiten gewünscht. Sein Namensgeber, der seit 1840 preußische König Friedrich Wilhelm, war seine Hoffnung gewesen.

Weber engagierte sich als Arzt, schilderte sein Mitgefühl mit den Armen, Mittellosen, Kranken, Sterbenden, pflegte seine christliche Grundhaltung. Er wurde als Menschenfreund wahrgenommen.

„Ich hatte in jungen Jahren einen heißen Kopf“, soll er gesagt haben. 1848 war er 35 Jahre alt und nicht mehr jung.

Die Revolution kam 1848 auch in der „kleinbürgerlichen Beschränktheit der Landstadt“ (Schwering 126) an. Sie konnte Weber einen Ausflug aus seinem „Mangel an geistiger Anregung und Förderung“ bieten. Schwering sieht ihn „mit seinen vollen Sympathien auf der Seite der Linken“ (136), gegen Demagogie, aber für eine „bessere Demokratie für die Armen und Leidenden“. Das klingt nach Sozialdemokratie.

Ein „Funken“ (139) der Revolution fiel in das Driburger Tal, in den „stillen westfälischen Badeort“. Ein „Verein der Volksfreunde“ wurde gegründet.

Weber sah sich als Demokrat und wurde Mitglied dieser demokratischen „Partei“. Er trat als Redner auf, nicht radikal, sondern gemäßigt. Die Bezeichnung „roter Weber“ entstand.

Eine aufgehetzte Gruppe wollte das Haus eines jüdischen Kaufmanns stürmen und plündern. Weber, der „volksfreundliche Arzt“, trat den Leuten entgegen und konnte sie zur Besinnung bringen. Trotzdem eckte er an, der Driburger Kaplan (Vikar) Johannigmann, ein Monarchist, kanzelte ihn in St. Peter und Paul mehrmals ab. Er predigte, Demokraten störten die öffentliche Ordnung, und Katholiken dürften keine Demokraten sein.

Eine Gruppe von Driburgern und Auswärtigen zog protestierend und Freiheitslieder singend mit roten Fahnen zum Gräflichen Bad. Der Hausherr hatte sich in Sicherheit gebracht. „Ein gewisser Arzt Weber“ wurde von dem Kaplan mit den Aufrührern in einen Topf geworfen, obwohl er gar nicht dabei war. Er versuchte den Zuhörern bei den Gastwirten Wolff und Huneke die Demokratie zu erklären.

Seine Freunde wollten Weber dann auch als Kandidaten für die zweite Nationalversammlung in Berlin Anfang 1849 nominieren.

Stattdessen gründete er eine Familie.

Im Juli 1848 lernte er bei einem Hausbesuch in Altenbeken Anna Gipperich aus Meschede kennen, die Tochter eines königlichen Bergbeamten. Im Haus des Direktors Simmersbach, der die Eisenwerke leitete, nannte man ihn den „schönen, schwarzen Doktor“ (142). Nun wandelte er auf Freiersfüßen. Er reiste nach Meschede, die beiden verlobten sich. Sie schrieben sich Briefe. Er bedauerte, dass er „in einem so verlorenen Winkel der Erde“ wohne und die Welt nur vom Hörensagen kenne. „Welch eine traurige Hauptstadt ist die Hauptstadt Paderborn!“

Weber fürchtete, dass die Paderborner Goldschmiede den Verlobungsring zu weit gearbeitet hatten, weil sie die „breiten Hände ihrer Landsmänninnen“ (145) zum Maß genommen hatten. Die Liebe hatte ihn angeblich „edler, besser und menschlicher“ gemacht.

Dann endlich schrieb er ihr von seinem „Volksverein“, der ihn und sechs weitere „Demokraten“ gewählt habe. Er sollte als Deputierter nach Berlin gehen. Er aber lehnte ab.

Statt mit der Steuerverteilung, bäuerlichen Lasten, Arbeitsschutz und Gewerbeordnung befasste er sich mit der Heiratsanzeige und Gedichten an seine Verlobte sowie der Einrichtung einer Mietwohnung im Haus des Färbers Bobbert der Kirche gegenüber.

Die Hochzeit fand am 21. Januar 1850 in Meschede statt. Webers Bruder Konstanz traute die beiden. Im Februar 1851 kam Elisabeth zur Welt.

Da war die Revolution längst vorbei. Weber war erst einmal nur noch Arzt und Dichter. Erst einige Jahre später wurde er in den Rat gewählt und durfte Protokolle schreiben. Lesen und schreiben konnte er ja.

Die Lieder von der Teutoburg, in denen er zum Freiheitskampf aufruft und die Fürsten ebenso wie die Geistlichen kritisiert, wurden nicht veröffentlicht. Er schrieb Gedichte über christliche Nächstenliebe, soziales Elend und die Natur in seiner Heimat. Also reduzierten auch seine Nachfahren ihn auf die westfälische christliche Tradition und zitierten den berühmten Blumenstrauß am Hut. Im Preußischen Landtag gehörte Weber ab 1862 der katholischen Fraktion und dann dem Zentrum an.

Da blieb nichts Rotes.

Über Thomas Mann (1875 – 1955) titelten Presseorgane im Jahr 2025: „Vom Reaktionär zum Antifaschisten“, „Vom Reaktionär zum Demokraten“, „Vom Reaktionär zum Vernunftrepublikaner“. Von politischer Emanzipation zum mutigen Streiter für die liberale Demokratie war die Rede.

Schön wäre es für uns Demokraten, wenn wir auch unseren Lokaldichter so einordnen könnten. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass seine Entwicklung umgekehrt verlief.

Der Uhu in Friedrich Wilhelm Webers „Dreizehnlinden“

Vogelkundige kennen den Begriff des Hassens. Manche Vögel versuchen mögliche Feinde, Eindringlinge oder Angreifer zu vertreiben, indem sie sich auf diese stürzen, sie direkt anfliegen oder attackieren. Eulen sind Ziel der Angriffe von Greifvögeln oder Krähen, die sich vor allem in Brutzeiten zu Gruppen zusammenschließen. Eulen jagen selbst überwiegend nachts Vögel, darunter auch Tauben oder Entenküken, und in Bodennähe Igel, Kaninchen, Mäuse, Schnecken oder Regenwürmer. Zur Jagdbeute der Uhus gehören außerdem andere Eulen wie der Waldkauz und die Waldohreule.

Nur Adler können einem ausgewachsenen Uhu gefährlich werden.

Lange galt der Uhu als Jagdschädling und Konkurrent der Jäger. Heute zählt er zu den streng geschützten Arten.

 

Im Alten Testament zählt der Uhu laut Martin Luthers Übersetzung zu den unreinen Tieren, die nicht verzehrt werden durften. Im Mittelalter wurden Eulen als Hexenvögel bezeichnet. Der Ruf des Uhus in der Nacht wurde oft als böses Vorzeichen gedeutet. In einem Märchen der Brüder Grimm erschreckt der „Schuhu“ ein ganzes Dorf. Im Kinderlied „Die Vogelhochzeit“ bringt der Uhu der Braut die Hochzeitsschuhe. Bei Shakespeare ertönt der Ruf des Vogels der Nacht, als Macbeth den König ermordet. „Le Grand-duc“ – Der Großherzog – nannte Edouard Manet sein Gemälde eines toten Uhus.

In einigen Ländern der Erde jedoch und sogar in der Lausitz galt der Uhu als Glücksbringer.

Wir haben den Aberglauben abgelegt und verehren die Eule als weisen Vogel, etwa als Leseeule. Er erscheint als Symbol für Wissenschaft und Technik.

 

Welche Rolle übernimmt der Uhu bei Friedrich Wilhelm Weber?

 

Im ersten Kapitel des Versepos „Dreizehnlinden“ tritt der Uhu als mürrischer Kritiker auf. Er verhöhnt den Dichter: „Rauh sind deines Sanges Töne.“ Er fordert ihn auf: „Laß das Leiern, laß das Klimpern! / O es schafft dir wenig Holdes; / Beßres Klingen, bestes Klingen / Scheint das Klingen mir des Goldes …“

Der Dichter soll lieber die eigene Haut pflegen, im Garten Rüben und Gerste auf dem Acker anbauen. Er soll auf den „Wust papierner Träume“ verzichten. Literatur gilt dem Uhu als „öder Plunder“. Das große Ziel der großen Zukunft sei die „Einerleiheit“, die schrankenloseste Bewegung sei die wahre Völkerfreiheit.

Der Dichter nennt den Uhu einen „gelben Neidhart“, einen Vertreter der Verneinung der seelenfrohen gotterlösten Welt. Der Dichter setzt die Schönheit der Natur dagegen, das Grottenheiligtum, in dem eine stille blaue Blume träumt.

 

Im elften Kapitel erscheint der Uhu wieder. Er sitzt „einsam grollend“ in einer dunklen Felsenritze und spottet über den Knaben, der eine Meinung haben will. Weise sei es, sich selbst zu verleugnen und zu denken, was die Starken denken. Das Recht lasse sich biegen und beugen. Freiheit ist für den Uhu nur dann ein Vergnügen, wenn man auf seinen eigenen Willen verzichtet und sich fremdem Willen fügt, wenn man im Tross der Macht läuft, immer mit dem großen Haufen. Hass und die Lust am Schaden sind besser als Liebe.

Wenn zwei sich streiten, rot vor Zorn und blass vor Neid, ist es für den Uhu köstlich anzusehen. Der alte Neidhart freut sich über die gezupften und gezausten Federn und polstert mit ihnen sein Nest.

Er spottet über Tugend und Moral, über Güte und humanen Liebesdusel. Der sei gekünstelte Erregung. „Morgen macht ihr euch, ihr Frommen / Selbst das Recht zu atmen streitig.“

Wenn er nichts zu essen hat, geht er zu den Nachbarn. Nur ein dummer Gimpel lebe und sterbe auf seinem Ast. Das Vaterland gilt ihm wenig. Es sei die dümmste Liebe, ein Vaterland zu lieben, wenn man daraus vertrieben worden sei.

Das richtet sich an Elmar, den träumerischen Schwärmer, der auf seiner Flucht das Klostertor erreicht und bewusstlos vom Pferd sinkt.

 

Im 24., dem vorletzten Kapitel des Epos, gibt sich der Uhu, in einer Felsenritze verborgen, struppig, verdrießlich und böse, weil Elmar das Christenwasser genommen hat, sich also taufen ließ. Christen und Heiden seien blöde Toren.

„Keine Götter sind dort oben / Und deshalb kein Recht hienieden.“

Nur mit Waffen schaffe man sich Recht. Der Glaube sei nur Ballast. Er, der Uhu, glaube nur an sich selbst. Als Oberuhu sei er der Denker, seine Lehre werde siegen. Die schärfste Klaue bekomme das beste Stück. Heimat sei für ihn dort, wo es ihm gutgeht, wo er jagen und überleben kann.

„Jene Welt ist für die Katze, / Diese Welt gehört der Eule.“

Der Dichter antwortet dem Uhu am Ende trotzig mit einem „dennoch“. Er verzagt nicht vor dessen Hohn.

Weber sieht den technischen Fortschritt der Eisenbahn, der „dampfbeschwingten Rosse“, als Symbol einer schweren Zeit, eines neuen Babel, in dem Gold, also Geld und Macht den Glauben verdrängen. Er will den Heuchlern und Spöttern etwas entgegensetzen, „abseits der großen Straße“, er schwimmt nicht mit dem Strom, dem Mainstream. „Helf‘ uns Gott den Weg zur Heimat / Aus dem Erdenelend finden.“ Er bittet darum, für den armen Schreiber zu beten. Seine Heimat ist christlich.

 

Friedrich Wilhelm Weber nutzt den Uhu als unbeteiligten Beobachter, als negativen Kritiker, als Gegenpol, so wie Gero der Gegenpol von Elmar ist. Der christliche Widersacher fügt dem Heiden Elmar Schaden zu, obwohl dieser eine Christin liebt und Christen in Brandgefahr rettet. Darüber spottet der Uhu, über die Doppelmoral, die Tugendheuchelei. Die Christianisierung lief unter Karl d.Gr. bekanntlich nicht immer sehr christlich ab.

Die Welt ist grausam. Weber hat sie als Politiker und Arzt direkt erfahren, in einem Jahrhundert voller kriegerischer Auseinandersetzungen. Es ist eine bittere Realität, der der Dichter sein Dennoch entgegenhält, den Glauben an Gott und seine Schöpfung, also auch den Menschen, obwohl er die menschlichen Schwächen kennt. Der Leser hat die Wahl.

Konstanz Weber – der große Bruder

Teil 2: Abenteuer Auswanderung

Childe Harold heißt das amerikanische Schiff, das am 5. April 1852 in Bremerhaven ablegt. Das Ziel ist New York. Die Überfahrt dauert 48 Tage. Der Kapitän heißt McHenry, er ist für 398 Passagiere verantwortlich. Angeblich sorgt er für gute Kost, eine gute Behandlung und eine ziemlich gute Reise.

Die New Yorker Auswanderer-Zeitung berichtet von monatlich 30.000 Einwanderern, von denen mindestens die Hälfte aus erwachsenen, arbeitsfähigen Männern besteht. Die Amerikaner begrüßen alle, „Weib und Kind und Mann“, als wertvolle Neubürger. „Ist es noch ein Wunder, daß Amerika blüht?“, fragt der Autor. Er versteht nicht, warum es „Natives“ gibt, die die Einwanderung scheel ansehen.

Unter den Passagieren des Dreimasters befindet sich Konstanz Weber. „Mit westfälischer Tinte“ beschreibt er in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Wilhelm die Überfahrt und seine Tränen, weil „eine Macht von Ursachen“ ihn aus seinem Vaterland vertrieben hat. Den Betrieb im Hafen empfindet er als chaotisch, bevor alle Passagiere an Bord sind und Ruhe einkehrt. Aus der Wesermündung geht es an Norderney, an Helgoland, an der englischen und französischen Küste vorbei.

Als Dolmetscher kann Konstanz Weber sprachliche Barrieren zwischen den Passagieren und der Besatzung überwinden helfen. Als Priester kann er zwei Kinder taufen und für drei Gestorbene die Trauerfeier gestalten.

Als der eigene Proviant zur Neige geht, verteilt der sparsame Steuermann weißen und schwarzen Schiffszwieback, „so hart, daß es den Untergang der Welt überdauern kann“, Brötchen ohne Mehl, schlechten Kaffee oder Tee und später „faul gewordenes, stinkendes Trinkwasser“. Ab und zu gibt es übel zubereitete Kartoffeln, Heringe, Bohnen, Graupen, Sauerkraut, Erbsen und Reissuppe. Als die Fahrt zu lange dauert und Passagiere hungrig bleiben, kommt es zu einer Meuterei mit Plünderungen. Konstanz Weber übersetzt und schlichtet, er beruhigt den Kapitän, der Waffengewalt anwenden will.

Das Unterhaltungsprogramm enthält einen Ball auf dem Verdeck und heimatliche Gesänge im Mondschein, eine Walpurgisfeier, Andachten. Konstanz Weber sucht Trost im Gebet, mit Trauer denkt er an die Kommunion in Grönebach, die er verpasst.

Der Atlantik bietet Sturm und Flaute, Gewitter, Orkan und turmhohe Wellen. In Höhe der Neufundländer Sandbänke wird es bitterkalt. Den Männern geht der Tabak aus, sie behelfen sich mit gedörrtem Tee, Seegras aus den Matratzen und getrocknetem Kaffee.

Das erwartete Land des Friedens erreicht Konstanz Weber am 27. Mai 1852, nachts um 2 Uhr 27 deutscher Zeit. Er verbrachte 51 Tage auf dem Schiff.

 

Quelle:

Kuhne, Wilhelm: Sauerländer Gottesmänner. Nicht nur für die Seelen da …, Jahrbuch des HSK 2007

 

Leider gibt es kein Bild von Konstanz Weber.

 

Konstanz Weber – der große Bruder

Teil 1

„Konstanz war scheinbar ein intellektueller Überflieger, Künstlertyp, kein Verhältnis zu Finanzen oder Verwaltung, der in so einem Lausedorf wie Grönebach sicher völlig fehl am Platz, unterfordert und vielleicht deshalb unglücklich war.“

Konstanz? Der älteste Bruder Friedrich Wilhelm Webers kommt in der Familiengeschichte in der Regel nur als der Mentor des kleinen Fritz vor, der ihn in Paderborn auf den Besuch des Theodorianum vorbereitet und als „gestrenger Lehrmeister“ gilt.

Konstanz tritt in das Paderborner Priesterseminar ein und kommt dann in der Biografie des jüngeren Bruders nicht mehr vor. Ebenso wenig Interesse gilt in unserer Stadt dem jüngsten Bruder Louis und der kleinen Schwester Auguste.

Grönebach? Der Verfasser des obigen Zitats stammt aus diesem Ort, der heute Stadtteil von Winterberg im Hochsauerlandkreis ist. Vollends neugierig macht dann sein Hinweis darauf, dass Konstanz überstürzt nach Amerika ausgereist ist. Warum?

Konstanz Johannes Weber wird 1806 in Falkenhagen in Brandenburg geboren. Die Familie zieht nach Alhausen. Konstanz macht am Theodorianum Abitur, studiert Theologie und wird 1829 in Paderborn zum Priester geweiht. Er geht als Vikar nach Bad Driburg. Im Mai 1836 wird er nach Bühne versetzt, wo er eine Stelle als Pfarrverweser erhält. Von 1841 bis 1843 ist er Vikar in Medebach.

Im Jahr 1843 schreibt der Amtsbürgermeister in Niedersfeld, heute ebenfalls Stadtteil von Winterberg, die Stelle des Pfarrverwesers in Grönebach aus, ohne sich mit dem Generalvikariat in Paderborn abzusprechen. Der „Kaplan Konstantin Weber“ wird von diesem dennoch zum Pfarrverweser ernannt. Der falsche Vorname wird kopiert.

Der Bürgermeister bekommt Ärger, da eigentlich dem Baron von Gaugreben in Bruchhausen das Recht zusteht, die vakante Pfarrstelle zu besetzen. Die Gemeinde hat zudem das Vorschlagsrecht. Ein Gegenkandidat wird gefunden, doch in einer „Kampfabstimmung“ erhält Konstanz Weber die Mehrheit.

Ärger gibt es dann aus verschiedenen Gründen. Das Generalvikariat versucht zunächst zu schlichten.

Konstanz streicht die Frühmesse an Sonn- und Feiertagen. Er möchte eine neue Kirche bauen, weil die alte St. Lambertus-Kirche baufällig und zu klein ist. Das Pfarrhaus, die Scheune und der Stall sind in schlechtem Zustand. Drei Kühe, zwei Rinder, ein Kalb und 15 Schafe gehören zur Pfarrstelle.

Manche Gemeindemitglieder fürchten die Mehrkosten. Immerhin liefern sie ans Pfarramt zu Ostern vier Eier und zu Michaelis 23 Silbergroschen und 1 Pfennig. Auch der Küster erhält einen Teil. Das Pfarramt bringt 300 Taler ein. Zum Vergleich: Lehrer oder Förster bekommen jährlich 50 bis 60 Taler.

Konstanz Weber mischt sich in den Hausierhandel ein, in das Bauernrecht, die Holzzuteilung, die Industrieschule. Zu viele Klagen erreichen das Generalvikariat.

Und dann bedauert Konstanz Weber öffentlich, dass die Revolution 1848 gescheitert ist. Er kritisiert das Dreiklassenwahlrecht, das Großgrundbesitzer und Besserverdienende bevorzugt. Er kandidiert bei der Wahl zum Preußischen Abgeordnetenhaus, unterliegt aber einem Liberalen.

Die bischöfliche Behörde mahnt ihn mehrfach, seine Verwaltungsaufgaben gründlicher wahrzunehmen, die er vernachlässigt hat. Er hat Schulden, etwa beim Buchhändler.

Das Generalvikariat enthebt am 26. Februar 1852 Konstanz Weber seines Amtes. Ein neuer Pfarrer ist schon bestimmt. Als Begründung werden „Zweifel an der ordnungsgemäßen Verwendung des Vermögens des kirchlichen Grundbesitzes in Grönebach“ genannt.

Konstanz verkauft seine Besitztümer, Möbel, Bücher und Vieh. Anfang April 1852 bucht er in Bremen die Überfahrt nach New York.

„Entgegen dem damaligen Zeitgeist besaß Weber eine freiheitlich-demokratische Grundeinstellung. Gegen alles, was die menschliche Freiheit einschränkte, hatte er eine tiefe Abneigung. Es wundert daher nicht, dass er alles Absolutistische und Autoritäre, wofür das Königreich Preußen stand, verabscheute. Seine Grundeinstellung führte zwangsläufig dazu, dass er auch zur kirchlichen Obrigkeit ein angespanntes Verhältnis hatte“, schreibt Ewald Stahlschmidt und nennt Wilhelm Kuhne, der ihn „im Spannungsfeld der Machtstrukturen“ sieht („Die Warte Nr. 80/1993).

Konstanz Weber traut am 31. Januar 1850 seinen Bruder Friedrich Wilhelm und Anna Gipperich in Meschede, wo ihre Eltern wohnen. Zwei Jahre später wandert er aus. Sieben Jahre später, am 27. September 1859, stirbt er in Rome in der Diözese Albany.

 

Danke für die Anregungen und Texte aus Grönebach!

 

Ewald Stahlschmidt: Konstantin Weber, eine der markantesten Persönlichkeiten in der jahrhundertealten Geschichte von „St. Lambertus“ und des Kirchspiels Grönebach, De Fitterkiste Nr. 30/2021

 

Leider gibt es kein Bild von Konstanz Weber.

Schein und Sein – Im Elfenbeinturm

Hyperion Teil 3

Wer baute das siebentorige Theben? Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Wohin gingen die Maurer, als sie die Chinesische Mauer fertiggestellt hatten? Hatte Cäsar einen Koch bei sich, als er die Gallier besiegte?

In Bertolt Brechts berühmtem Gedicht aus dem Jahre 1935 stellt ein lesender Arbeiter Fragen.

Wir könnten also fragen: Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen wahr, die um ihn herum dafür sorgten, dass er in seinem Elfenbeinturm sitzen und erhabene Literatur produzieren konnte?

 

Die Familie Gontard und ihre Angestellten kamen aus der glänzenden Residenz Kassel und fühlten sich plötzlich „in eine urweltliche Umgebung versetzt“. Vor allem die schlechten Straßenverhältnisse werden erwähnt: die kahlen Berge, „schmutzige, unbeschreiblich ärmliche Dörfer und noch schmutzigere, ärmlichere holperige Wege“. Hölderlin sieht „Hütten, wo der fromme Landmann schlief“.

Der Kutscher saß bei Wind und Wetter auf einem der Pferde oder stand zeitweise auf der Deichsel und schwang die Peitsche. Er ist dem Dichter keine Zeile wert.

 

Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen in Driburg wahr, als er 1796 mit der Familie Gontard in unsere Stadt kam? Zunächst nahm er nur seine geliebte Diotima wahr, an zweiter Stelle schwärmte er von der Natur, und an dritter Stelle galt sein Interesse der Legende der Varusschlacht. Er stellte sich „Legionen erschlagener Krieger“ vor, die „mit ihrem Blut die Erde färbten“.

„In unserem Bade lebten wir sehr still.“

Der Bankier Gontard sollte ja auch möglichst unwissend bleiben.

Den erhabenen Dichter beeindruckte nicht die menschliche, sondern die landschaftliche Umgebung. Er wanderte nach Herste, von wo der Sauerbrunnen kam, der „Brunnengeist“, das Mineralwasser, das er mit Wein und Zucker genoss. Er besuchte das Glasmacherdorf Siebenstern, sah eine Schmiede in Neuenbeken. Aber wenn seine Diotima bei ihm war, flirrten die Hormone. Da war er ganz Hyperion.

Wer servierte ihm das Wasser, den Wein und den Zucker, wenn er durstig von der Wanderung zurückkehrte?

 

Rund 60 bis 80 Kurgäste, darunter Träger bekannter Namen, hielten sich im August 1796 im Bad auf. Die Stadt konnte „wegen der Ackerwirthschaft seiner meisten Bewohner nichts zur Erheiterung der Badegäste beitragen“, schreibt der Brunnenarzt Wilhelm Ficker.

Immerhin spielten bis in den Abend hinein die „böhmischen Musikanten“. Auf der „Liebhaberbühne“ des Kurhauses wurden Komödien aufgeführt, allerdings durch Kurgäste selbst. Es gab einen Raum zum Billardspielen.

Nicht so heiter war natürlich das Wecken morgens um fünf Uhr, wenn die „Dienstboten“ für die Badegäste Wasser pumpten und in den Badewannen verteilten. „Stubenmädchen“ eilten durchs Haus, über Dielen, Galerien, Promenaden, durch Säle und Säulengänge. Sie bereiteten das Frühstück vor.

Das Brunnentrinken und verschiedene Anwendungen füllten den Vormittag aus. Hölderlins Magen soll das Driburger Wasser sehr gut bekommen sein. Vielleicht saß er dann mit Diotima im Pavillon auf dem Rosenberg und schwärmte von Hermann dem Cherusker. Im besten Fall schwärmte sie zurück. Dann konnten sie sich auf das Mittagessen freuen: sechs Hauptschüsseln, drei Sorten Fleisch, etwa Wildbret, Geflügel, Forellen, Krebse, und Kuchen zum Nachtisch. Auch in seinem „sehr anständig“ möblierten und tapezierten Zimmer konnte Hölderlin sich bedienen lassen. Als Hauslehrer und Hofmeister durfte er aber auch „an gemeinsamer Tafel ohne Berücksichtigung von Rangunterschieden“ speisen.

Wer lieferte die Zutaten? Wer bereitete in der Küche die Speisen zu? Wer deckte die Tische? Wer spülte in der Küche?

 

Hölderlin könnte den Besitzer des Bades, den Freiherrn Kaspar Heinrich von Sierstorpff, kennengelernt haben. Er, anfangs begeistert von der Französischen Revolution und von der Republik träumend, erwähnt ihn nicht. Eine andere Quelle beschreibt die „Masse der Emigranten, die damals Westfalen überschwemmten und deren Gehaben er [Sierstorpff] so aus nächster Nähe beobachten konnte“. Von ihnen hatte der Freiherr „keine günstige Meinung“, während seine Frau sich „ihrer warmherzig annahm“.

Der Hausherr „ließ die alten, verwahrlosten Einrichtungen erneuern, Brunnenhaus und Kursaal errichten, die Umgebung durch Anlagen, wie den vorher kahlen Rosenberg, verschönern und verstand auf diese Weise das Ansehen des Bades […] zu heben“.

 

Wer erneuerte die Einrichtungen? Wer baute das Brunnenhaus? Wer pflegte die Anlagen?

Die Bürgerinnen und Bürger Driburgs spielen 1796 in der erhabenen Literatur keine Rolle. Arbeiter hatten in der Regel auch keine Zeit zum Lesen.

Literatur-Empfehlung:

Beatrix Langner: Übermächtiges Glück, Insel-Taschenbuch 2020

Erich Hock: „Dort drüben in Westphalen“, Metzler 1949/1995

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 2

Im ersten Teil ging es um Diotima, die zur Dichtung gewordene Geliebte Friedrich Hölderlins, die ihm kein Glück brachte. Ein Menschenfreund wurde der Dichter nicht, und auch der Staat bekommt in seinem Briefroman sein Fett ab und weg.

„Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen.

Aber was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden dürre liegt? Da hilft der Regen vom Himmel allein. O Regen vom Himmel! o Begeisterung! Du wirst den Frühling der Völker uns wiederbringen. Dich kann der Staat nicht hergebieten.“

 

Wenn man den Grad der Erhabenheit an der Anzahl des pathetischen „O“ in Friedrich Hölderlins „Hyperion“ misst, erreicht er große Höhen.

Erhaben ist zuerst die Kunst, das erste Kind göttlicher Schönheit, jedenfalls bei den Athenern.

Das zweite ist die Religion als Liebe der Schönheit, unendlich und allumfassend. „Ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürr Gerippe ohne Leben und Geist.“

 

Friedrich Wilhelm Weber ist ein religiöser Mensch. Des Himmels Huld ist sein Schirm, er lässt die Engel Gottes auch durch niedere Türen ein und aus gehen. „Dir dank ich, Gott, für jede Gabe.“

Hölderlin lässt seinen Hyperion sagen, dass er die Götter und die Menschen nicht mehr braucht. „Ich weiß, der Himmel ist ausgestorben, entvölkert, und die Erde, die einst überfloß von schönem menschlichen Leben, ist fast, wie ein Ameisenhaufe, geworden.“

Hyperion will nicht mehr zu friedenslustig, zu himmlisch, zu träge sein, er zieht in den Kampf. „Gerechter Krieg macht jede Seele lebendig.“

Hyperion schwärmt in einem Brief an Diotima von künftigen Vaterlandsfesten. Er geht heiter in den Kampf. Das kommt einigen von uns sicher bekannt vor.

Dann kommt es, wie es kommen muss. Hyperion schwärmt nicht mehr, er jammert. „O meine Diotima, hätte ich damals gedacht, wohin das kommen sollte? Es ist aus, Diotima! Es ist des Unheils zu viel.“

Auch seine Liebesgeschichte endet tragisch, Diotima stirbt einen schönen Tod. Ruhelos reist er durch Europa und:

„So kam ich unter die Deutschen.“

Hölderlin teilt als Hyperion aus, verbreitet seine Wut über die Landsleute, die seine Dichtergröße nicht anerkennen. Er bezeichnet die Deutschen als Barbaren, unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark, beleidigend für jede gutgeartete Seele.

 

Da will man doch gleich wieder zu Webers Gedichten greifen! Der fand „Ein Tal und Herzen, treu wie Gold. – Ein Städtchen dann im trauten Heimatland!“

 

Hyperion schwärmt nicht mehr, er ätzt, er verteilt Gift, als müsste er böse Kommentare in unseren „sozialen“ Medien schreiben.

 

„Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“

 

Friedrich Wilhelm Webers Welt ist auch nicht nur idyllisch. Als Arzt hat er manches bittere Schicksal, Krankheit und Tod kennengelernt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb bleibt er bescheiden und positiv.

„So zog ich aus zum fernen Ziele / Getrosten Muts bergab, bergan: / Es gibt der Täler ja so viele, / Wo man sein Hüttchen bauen kann.“

 

Und Beethoven, der erhabene Meister der Töne, der bei uns mit Hölderlin verkuppelt wurde? Der mit seiner Taubheit haderte? Er hat uns unter anderem eine Hymne hinterlassen mit Worten aus Schillers Ode an die Freude, die jeder auswendig kennt: „Alle Menschen werden Brüder.“

Hölderlin statt Weber

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 1

Es hat mehrere Ansätze gegeben, dem kleinen Städtchen Driburg am Osthang des Egge-Gebirges ein Flair zu verleihen, das es als etwas Besonderes erscheinen lässt, es über andere Orte erhebt. Heute nennt man es auch Alleinstellungsmerkmal. Mit dem Nationalpark hat es nicht geklappt.

Die Bemühungen der Familie von Sierstorpff, später von Oeynhausen-Sierstorpff, um den Ausbau der Kuranlagen gehörte eindeutig dazu. Die Einwohner der Stadt kamen nicht immer hinterher, bisweilen verharrten sie sogar in einer ablehnenden Haltung.

Als Driburg sich Bad Driburg nennen durfte, gefiel es fast allen, kurz nach einem verlorenen Krieg. Das Flair ließ noch auf sich warten. Nach dem zweiten großen Krieg war es noch schwieriger, weil auch der Kurbetrieb gelitten hatte.

Friedrich Wilhelm Weber gab der Stadt lange das Gefühl der Erhabenheit. Seine Büste findet man im Kurpark, seit 1934. Als Arzt nutzte er den Bürgern persönlich, als Politiker vertrat er sie unauffällig im fernen Preußischen Landtag in Berlin, und als Dichter rührte er ihr Herz. Die folgenden Generationen konnten gar nicht oft genug seine Verse zitieren: „Wonnig ist’s, in Frühlingstagen / Nach dem Wanderstab zu greifen / Und, den Blumenstrauß am Hute, / Gottes Garten zu durchschweifen.“ Man definierte ihn fast ausschließlich über sein Epos „Dreizehnlinden“.

Im Nationalsozialismus konnte man ihn leicht für völkisch-nationalistische Erzählungen missbrauchen. Er konnte sich nicht wehren.

Nun ist er aus der Mode gekommen.

An seine Stelle ist, auf Initiative von Annabelle Gräfin von Oeynhausen-Sierstorpff, Friedrich Hölderlin getreten. Zuletzt stellte man ihn an die Seite Ludwig van Beethovens, den er zwar nie kennenlernte, mit dem er aber dasselbe Geburtsjahr teilte. Beethovens Erhabenheit zweifelt niemand an.

Welcher Driburger könnte aber spontan einen Vers von Hölderlin aufsagen?

„Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings / Aufgegangen das Tal, wenn … Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume / Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft.“ Zu schwer.

Einfache Kost ist auch „Hyperion“ nicht. Webers Dreizehnlinden-Kloster kann man immerhin in unserer Region verorten. Hyperion schwärmt im fernen Griechenland, etwa von den geselligen Städtern in Smyrna. Sicher hätte er sie auch in unserem Badeort gefunden, wenn er es versucht hätte. Er will sich den Sitten und Gebräuchen der Bewohner anpassen, findet aber unter ihnen nicht genug Kraft und Geist.

„Es war mir wirklich hie und da, als hätte sich die Menschennatur in die Mannigfaltigkeiten des Tierreichs aufgelöst, wenn ich umher ging unter diesen Gebildeten. Wie überall, so waren auch hier die Männer besonders verwahrlost und verwest.“

Geistesschönheit und Jugend des Herzens vermisst er.

„Sahn jene Menschen einen Funken Vernunft, so kehrten sie, wie Diebe, den Rücken.“

Da möchte man doch lieber wieder Webers Idylle sehen: „Das ist dort hinter den Weiden, / das Dörfchen treu und gut, / Der einzige Winkel der Erde, / wo meine Seele ruht.“

Hölderlin hätte mehr als drei Wochen in Driburg bleiben sollen. Er hätte in Webers Dörfchen, Alhausen, sein pessimistisches Welt- und Menschenbild ändern sollen. „Komm! ins Offene, Freund!“ schreibt er doch zu seinem Gang aufs Land. Er hätte zur Iburg wandern sollen, wo er dem Himmel näher gewesen wäre. Stattdessen zieht er sich zurück. „Weder die Berge sind noch aufgegangen / des Waldes Gipfel nach Wunsch.“

„Ich war es endlich müde, mich wegzuwerfen, Trauben zu suchen in der Wüste und Blumen über dem Eisfeld.“

Weber begegnet den Widrigkeiten des Lebens pragmatischer, und wenn es hart wird, sucht er Trost im Glauben. Hölderlin fehlt solch ein Anker.

„Pathos, Schönheitssinn, Erhabenheit besitzen ja heute keine große Konjunktur mehr“, sagt ein Hölderlin-Experte. Vielleicht hat er unrecht.

« Ältere Beiträge

© 2025 Roter Weber

Theme von Anders NorénHoch ↑