Nachtwolke Teil 2

Die Romantik, das Biedermeier, der Vormärz, das Junge Deutschland und weitere Strömungen konkurrierten Mitte des 19. Jahrhunderts miteinander.

Friedrich Wilhelm Weber war ein fleißiger Leser. Wenn die Bad Driburger heute etwas von ihm lernen könnten, dann wäre es das fleißige Lesen. Weber hatte im Paderborner Theodorianum Latein als Unterrichtsfach. Seine Doktorarbeit über das Struma musste er in lateinischer Sprache verfassen.

Weber lernte bei einem Besuch in Schweden 1836 die schwedische Sprache kennen und erlernte sie überwiegend als Autodidakt. Er übersetzte schwedische Literatur (Tegnér). Die englische Sprache musste er auch sicher beherrschen, denn er übersetzte auch englische Literatur (Tennyson).

Schon seine Schulzeit und das Abitur in Paderborn entfernten ihn von einem Großteil der Driburger Bevölkerung, die sich mit der Bildung etwas schwertat. Seine literarischen Studien und sein umfangreiches Wissen verwendete er in seinen eigenen literarischen Arbeiten, so auch in der Nachtwolke.

Nie habe ich von dem Ausdruck „Firnen“ im Zusammenhang mit einem Zecher gehört. „Firn“ verband ich mit Schnee und Eis. Tatsächlich ist er geläufig als alter, mehrfach verdichteter Schnee.

beim Gelag, vom Firnen unterjocht (2. Str., 2. Z.)

Das Gelage muss nicht erläutert werden. Umgangssprachlich würden Bad Driburger mit dem Ausdruck Saufgelage kein Verständnisproblem haben. Dass jemand unterjocht wird, könnte schon weniger geläufig sein. Bauern kennen vielleicht noch das Joch, das je zwei Zugtieren, also Pferden oder Ochsen, über den Hals gelegt wurde, damit sie größere Lasten ziehen konnten.

Winzer wissen, dass Wein falsch gelagert und durch Oxidation bitter werden kann. Überlagerter Wein bekommt einen Firn-Geschmack. Wenn der Zecher zu viel von diesem – fehlerhaften und dadurch billigen – Wein zu sich nimmt, unterdrückt ihn der Alkohol. Der „greise“ Zecher verträgt nicht viel davon. Schlechte Träume und Aggressionen sind die Folge.

Weber vergleicht die sinnlos daliegende Stadt mit solch einem Zecher. Die Stadt lässt sich unterdrücken, ihre Bürgerinnen und Bürger lassen sich unterjochen. Ihre wüsten Träume behalten sie für sich.

Mein Feuer war’s, das Sodoma verbrannte,
Mein Donner war’s, der zu Gomorrha sprach. (3, 3+4)

Auch wenn Bad Driburger heute nicht mehr so bibelfest sein dürften wie zu Webers Zeit, wissen die meisten etwas mit Sodom und Gomorrha anzufangen. Die Zerstörung der beiden Städte um 1650 v.Chr. gilt als historisch gesichert. Laut der Bibel werden sie von Gott zerstört, der die Bewohner für ihr sündiges Verhalten bestraft.

Schergen (4, 3) kann man im heutigen Sprachgebrauch Handlanger nennen. Im Mittelalter waren es Stadtknechte oder Gerichtsdiener, die im Auftrag der Obrigkeit Bürgerinnen und Bürger verhafteten und auch vor Folter nicht zurückschreckten.

Mietlingshaufen (4, 3) bezeichnen gemietete, also bezahlte, käufliche Leute, Söldner. Sie waren in den früheren Gesellschaften sozial geächtet. In der Bibel waren Mietlinge Hirten, die über die Schafherden wachten, nicht weil ihnen die Schafe am Herzen lagen, sondern weil sie dafür bezahlt wurden.

Die biblische Geschichte von Kain und Abel ist sicher noch den meisten Bad Driburgern bekannt. Kain erschlug Abel aus Neid und Eifersucht.

mit dem Blut der Märtyrer (6, 3)

Die sechste Strophe ist vor allem durch die komplizierte Satzstruktur nicht leicht zu verstehen. Als Märtyrer sieht Weber die Opfer der Regierungen in der Metternich-Ära und möglicherweise auch während und nach der gescheiterten Revolution 1848. Von dem Kölner Robert Blum etwa könnte Weber erfahren haben, dem populärsten Demokraten des Vormärz, der für Freiheit, Einheit und Völkerverständigung eintrat. Blum wurde im November 1848 hingerichtet. — Im Berliner Schloss Bellevue, dem Amtssitz unseres Bundespräsidenten, wurde 2020 ein Saal nach Blum benannt.

Weh dir, o Babel, deiner Lüste wegen,
Weh dir um deine Hoffart, Ninive! (7, 3+4)

Wieder nutzt Weber biblische Erzählungen. Babel oder Babylon war eine Stadt im heutigen Irak. Als Sündenbabel steht sie sprichwörtlich für Unmoral, Verdorbenheit, Unzucht und Laster. Wie Sodom und Gomorrha wird Babel von Gott zerstört.

Der Begriff Hoffart kennzeichnet Hochmut, Anmaßung, Stolz und Überheblichkeit ohne Rücksicht auf andere. Die Bürger von Ninive in Mesopotamien, dem heutigen Irak, sind laut Bibel überheblich und böse, aber weil sie Buße tun, in „Sack und Asche“, werden sie von Gott verschont.

Wie Amos weint, der Held von Thekoa. (10, 4)

Der Prophet Amos trat laut Bibel für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter und Lohnabhängigen in Tekoa/Juda und im Nordreich Israel ein. Er legte sich mit den Großgrundbesitzern an und predigte gegen Verschwendung, Betrug, Bestechung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung der Armen. Amos weint, weil er die Zerstörung Israels durch Gott unweigerlich kommen sieht.

Das Prophetenwort (11, 4) „Von unten auf!“ bezieht sich auf den in Detmold geborenen Schriftsteller Ferdinand Freiligrath, der 1846 den Gedichtband „Ça ira!“ veröffentlichte, „Wir schaffen das!“, ein Motto aus der Französischen Revolution 1789. Er floh aus Furcht vor der Verhaftung und Hinrichtung ins Ausland. Nach einer Amnestie lebte er im schwäbischen Cannstatt.

So lag Pompeji in des Schlummers Schoß:
Da barst der Berg, da brach sein altes Hassen,
Die rote Lava seines Zornes los. (12, 2-4)

Pompeji schlummert wie die schlafversunkne Stadt in der ersten Strophe. Die Zerstörung der Stadt durch den Ausbruch des Vulkans Vesuv 79 n.Chr. ist bekannt. Weber schildert ihn als hassenden, zornigen Berg.

Die Iburg war eine sächsische Fliehburg, keine Zwingburg (14, 1), aber Burgruinen sind den Bad Driburgern bekannt.

Völlig unbekannt dürfte den meisten Ragnarök (15, 1) sein und die Sage vom Untergang der nordischen Götterwelt, von der auch die ältere isländische „Edda“ singt. Nach dem Untergang der alten Welt entsteht eine neue, jung, frisch, grün und brüderlich.

Nach alter Tafeln frommer Satzung (15, 4) sollen die Menschen nun leben. Da fällt mir die Tafelrunde ein, der runde Tisch des König Artus, die guten Ritter Lancelot, Parzival und Tristan. Ich denke an die Geschichten von Richard Löwenherz und Robin Hood. Die Ritter sind Kämpfer für Gerechtigkeit, gegen Willkür, ihr runder Tisch macht alle ohne Unterschiede gleich. Artus ist der ideale mittelalterliche König.

Eine Satzung könnte hier Verfassung bedeuten, fromm weniger religiös bezogen als ethisch und moralisch. Weber hing an der Idee einer konstitutionellen Monarchie mit weitreichenden bürgerlichen Freiheiten.

Es ist nicht Gottes jüngstes Gericht, das Weber beschwört, aber aus der Zerstörung des Alten entsteht neues Licht. Die 16. Strophe ist der Kern der Nachtwolke.

So wird aus deinem Staub zu neuem Lichte
Ein freies Volk erblühn voll That und Macht. (16, 1+2)

Das Volk soll erblühen, es soll frei, aktiv und mächtig sein. Da kommt der „rote Weber“ zum Vorschein. Das sind die demokratischen Ideen des Vormärz. Die Geschichte wartet mit erhobenem Griffel darauf, die neue Zeit zu dokumentieren. Dass die Stadt sie peinlich verschlafen hat, wird dann vergessen sein.

Aber die letzte Strophe erklärt alle vorherigen zur Farce. Weber hat das Gedicht 1839 begonnen und 1852 abgeschlossen, wohl auch mit den 1848er Träumen.

Vorbei, vorbei! (17, 1)

Die Hoffnung auf Freiheit, Brüderlichkeit und Demokratie ist zerstört. Nur der Wald, die vielgerühmte Natur in den Werken Friedrich Wilhelm Webers, bleibt als Trost.

Über Baalbeks Trümmer (17, 4) zu weinen lohnt nicht mehr. Baalbeks Tempel sind Ruinen, die Stadt im Libanon gibt es noch. Die Zerstörung hat noch kein Ende gefunden. Aber das ist eine andere Geschichte.