– oder: Mehr Mensen! Mehr Bildung für die Kaumuskeln!

Kap. 1

Ich war ein Deule, ein Deutschlehrer. Eigentlich war ich eine Deule, eine Deutschlehrerin. Von meiner beruflichen Namensänderung erfuhr ich erstmals in der Zeitschrift „Praxis Deutsch“, die diese Verniedlichung aufgegriffen oder initiiert hatte.

Ich war aber auch eine Klale. Denn ich wachte als Klassenlehrerin über im Schnitt etwa 30 mehr oder weniger ungezogene Kinder von 60 mehr oder weniger ungezogenen Eltern. Seit 1977 war ich, nur durch eine zweite Schwangerschaft kurz außer Gefecht gesetzt, an einer Realschule tief im Osten Westfalens tätig, also im positivsten Sinne gleichzeitig und aus voller Überzeugung von der unspektakulären Niedersächsin zur Wessi und Ossi mutiert. In diesem Jahr blieben von den 60 Elternteilen nur noch 55 übrig, fünf hatten sich davon geschlichen. Fünf zerrüttete Ehen unter 30 waren gar kein schlechter Schnitt. Die Dunkelziffer kannte ich jedoch nicht.

Außer einem Deule und Klale war ich zeitweise noch Mule und Gele, und ein Pole war ich auch. Ich unterrichtete über zehn Jahre lang auch Musik, und da mein Zweitfach Geschichte war, musste ich als sogenanntes Neigungsfach auch Politik unterrichten – unterrichten können.

An einer Realschule in einem Kleinstädtchen in OWL beobachtete ich über vierzig  Jahre lang, wie sehr Sokrates – vor 2500 Jahren – schon recht hatte, als er den Verfall der Moral unter den Jugendlichen beklagte, und wie sehr er heute noch recht hat. Wie gesagt, sind Kinder „ungezogen“, doch nur dann, wenn sie nicht „erzogen“ werden, und wenn ich sie in die Hände bekam, hatten sie schon mindestens 10 Jahre Ziehen und Biegen und Brechen im Elternhaus und in der Schule hinter sich. Aber Erziehung, wie ich zu sagen pflege, geschieht nicht von Montag auf Dienstag, sie kann und darf nicht einspurig sein, denn das war und ist sie in Diktaturen. Je unterschiedlicher die Lehrpersonen, Lehrerköpfe und -hirne, Lehrkörper und -organe sind, um so besser ist es für die „Zöglinge“. Je einspuriger Erziehung gemacht werden soll, je eingleisiger auf der Verwaltungsebene und der pädagogischen und politischen Ebene gefahren wird, um so weniger erhält man das, was Politiker so vollmundig formulieren: dass Kinder individuell, je nach ihren Schwächen und Stärken, gefördert werden. Leider sind es auch die Elternverbände und Eltern, die diese Eingleisigkeit oft fordern und fördern, weil sie sich in der Mehrgleisigkeit nicht zurechtfinden und den Lehrern nicht mehr zutrauen, dass sie den besten Weg für jedes Kind suchen und meistens finden. Seit es keinen Rohrstock mehr gibt, ufern Erziehungs- und Schulmodelle aus.

Ich möchte einige Geschichten und Anekdoten aus meinem Leben als Deule und Klale der Nachwelt übergeben, aber ich muss den Leser warnen: Bei mir geht es moralisch zu. Notfalls grabe ich den alten Rohrstock wieder aus.

Ich war eine Teilzeitkraft, die weniger mit dem eigenen Burn-out-Syndrom zu kämpfen hatte als mit dem ihrer Kolleginnen und Kollegen. An manchen Tagen kämpfte ich mehr, an manchen weniger. Ob meine zum Schluss zwei Chefs und zwei Chefinnen zufrieden mit mir waren, interessierte mich selten. Eher rastete ich zu Hause wegen der Streifen im Klo aus oder ärgerte mich über Rüpel hinterm Mercedes-Steuer, den Snobismus und die Arroganz einiger meiner Mitmenschen, als dass ich mir wegen meiner Vorgesetzten den Kopf zerbrach. Ich kämpfte – dagegen an. Sich täglich neu aufzuraffen, zu motivieren, wie es neudeutsch so schön heißt, ist schwer. „Denke doch an Münchhausen!“, riet ich meiner Nachbarin, die wegen ihres abhanden gekommenen Ehemannes kurz vor dem Zusammenbruch und der Scheidung stand. „Der hat sich und sein Pferd am eigenen Schwanz aus dem Sumpf gezogen!“ Sie lachte tatsächlich ein wenig und antwortete: „Ja, aber dann hingen beide an der Kirchturmspitze.“ Die Eltern haben einst mit allen Schikanen geheiratet, mit Kutsche und Kirche, bis dass nicht der Tod, sondern der Scheidungsrichter sie schied. Die beiden Söhne kämpften sich gegen alle gesellschaftlichen Widerstände ans Licht.

Der Kirchturm unserer katholischen Stadtteilkirche ist rund, er steht originellerweise neben, nicht über dem Kirchenraum, eine traditionelle Kirchturmspitze gibt es also hier nicht. Dass die Kirche eine katholische Pfarrkirche ist, erstaunte mich, als ich meinen Dienst in diesem Städtchen antrat, denn mein evangelisches Vorurteil ließ mich annehmen, dass die katholischen Ureinwohner niemals eine so moderne Kirche gebaut hätten. Für unsere Schule war der Bau ein wahrer Segen, er ist schlicht, hell, gar nicht barock, und wir feierten gern unsere Abschlussgottesdienste und später sogar noch lieber auch die Abschlussveranstaltungen mit der Zeugnisübergabe darin. Fasziniert bin ich bei jedem Besuch vom goldglänzenden Kruzifix im Strahlenkranz über dem Altar, so gar nicht evangelisch-einfach.

Ich bin konfessionell gebunden, aber nicht um jeden Preis. Am 19. November meines ersten Dienstjahres trat mein Chef mir weihevoll strahlend entgegen. – „Herzlichen Glückwunsch!“ – Ich stutzte, nahm aber die angebotene Hand und fragte dann ehrlich: „Wozu?“ – „Na, Sie haben doch heute Namenstag! Der 19. November ist der Tag der Heiligen Elisabeth.“ – „Aber ich bin doch evangelisch.“ – „Ach so, nun, dann gratuliere ich Ihnen trotzdem. Schaden kann es ja nicht. Die Heilige Elisabeth war übrigens eine ganz ungewöhnliche Frau.“ – Ich bedankte mich artig, sagte ihm nicht, dass ungewöhnliche Frauen mir zwar sympathisch sind, aber nicht zwingend nachahmenswert. Doch vielleicht war der Chef, Jahrgang 1934, ja ein ungewöhnlicher Mann. Am 19. November meines zweiten Dienstjahres wiederholte sich die Szene, und im November des dritten Jahres, am gleichen Tag, konnte ich nach einem erneuten Hinweis auf meine Konfession meine seit zwei Jahren unterdrückte Bemerkung nicht mehr zurückhalten: „Ich kenne keine Heiligen, nur Scheinheilige.“ Von nun an erhielt ich von meinem Chef keine Glückwünsche mehr zum Namenstag.

Kap. 2

Allerdings spielte eine wesentlich prägnantere Szene sich später in der erwähnten sympathischen Kirche ab. Ohne einen Gedanken an mögliche mir zustehende Entlastungsstunden oder gar eine Entlohnung zu verschwenden, stellte ich für die Schulfeiern einen Chor aus Freiwilligen zusammen. Ich war voller Energie, das Singen und Musizieren machte mir große Freude, und wenn ich die Begeisterung sah, mit der die Schüler nachmittags Überstunden machten, um Chor- oder Instrumentalstücke einzuüben, waren auch meine Kräfte schier unbegrenzt. Da ich als Gymnasiastin neun Jahre Klavierunterricht hatte, fühlte ich mich stark genug, die Schulfeiern musikalisch zu begleiten. Aus diesem Grund hatte ich wohl auch diese Stelle nahtlos im Anschluss an meine Lehrzeit erhalten. Weil ein professioneller Organist die Schule Geld kostete, legte man mir ans Herz, doch auch im Schulgottesdienst entweder eine kleine Instrumentalgruppe einzusetzen, die die Gemeindelieder begleitete, oder aber selbst die Orgel zu spielen. Im Jahre 1969 erhielt ich in meinem niedersächsischen Heimatdorf ein Dreivierteljahr Orgelunterricht bei einem jungen Organisten, der mir allerdings nicht die Begleitung von Liedern aus dem Gesangbuch beibrachte, sondern mich am laufenden Notenband mit Bach-Präludien quälte. Als begeisterte Anhängerin der Klaviermusik der Klassik und Romantik fiel meine Motivation für Orgelmusik am Ende der Leidenszeit auf den Nullpunkt. Mich auf die Orgelbegleitung vorzubereiten kostete mich einige Nachmittagsstunden, in denen ich meine beiden Kinder mit einer Kiste Playmobil in die letzte Kirchenbank schickte und ihnen befahl, möglichst leise zu spielen und sich nicht zu streiten, damit ich in Ruhe üben konnte. Manchmal taten die beiden mir auch den Gefallen und respektierten die Würde des Hauses. Den Orgelschlüssel hatte ich nach einem Anruf im Pfarrbüro ohne Probleme erhalten. Ich setzte mein selbst erworbenes Orgelbuch mit Liedbegleitungen, Vor- und Nachspielen auf den Notenhalter und probierte verschiedene Register aus. Wenn ich das volle Programm einstellte, konnte ich richtig schwelgen, ich hörte auch meine plappernden oder streitenden Kinder kaum noch. Manchmal setzten sie sich neben mich auf die Orgelbank und wunderten sich über ihre Mutter, die das gesamte Kirchenschiff zum Zittern bringen konnte. Leider hatte mein Orgellehrer mir nie erklärt, welche Pfeife zu welchen Gelegenheiten erklingen darf. Der Fußraum allerdings blieb meistens ruhig, denn oben zwei Hände und unten zwei Füße ordentlich miteinander kommunizieren zu lassen, war nun doch eine Überforderung für mich als Laienorganistin. – Eine männliche, betont männliche, aber dennoch jugendliche Stimme in meinem Rücken ließ mich die Hände ruhig halten.

„Was machen Sie denn da?“

Ich drehte mich langsam um und betrachtete den jungen Mann. Seine Haare waren rotblond und strähnig, sein Gesicht war blassrosa mit ziemlich vielen Pickeln auf den Wangen und Schläfen, obwohl er sicher die Zwanzig überschritten hatte. „Sie sehen doch, was ich mache: Orgel spielen“, antwortete ich ruhig mit dem ganzen Überlegenheitsgefühl der Pädagogin in meiner Stimme. Ich war mindestens sechsunddreißig. – „Und wer hat Sie dazu befugt?“ Sein böser Blick versuchte seiner Haltung Strenge und Autorität zu verleihen. – „Ja, wer hat mich dazu befugt?“ Ich lachte innerlich, dann aber gab ich so viel Schärfe in meine Worte, wie ich konnte. „Den Schlüssel zur Orgel hat mir der Pfarrer überlassen, der auch unseren Schulgottesdienst plant, und den Auftrag, den Gottesdienst der Realschule musikalisch zu begleiten, erhielt ich von meinem Direktor.“ Nun verließ ihn ein guter Teil seiner Selbstsicherheit. „Ja, warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?“ – „Ja, warum haben Sie mich denn nicht höflicher gefragt?“ Meine Selbstsicherheit war noch gestiegen. Ich fragte ihn bissig, wer er denn überhaupt sei, und erfuhr, dass er der Sohn des Hauptschulrektors war, der den Küsterdienst versah. Am nächsten Morgen musste ich die Szene unbedingt im Lehrerzimmer schildern. Der katholische Konrektor schmunzelte. „Sie sind evangelisch, Sie haben eben nicht die richtige Weihe für die Orgel!“, versuchte er mich aufzuziehen.

Einige Jahre später schien sich in der Schulleitung doch die Erkenntnis durchzusetzen, dass eine evangelische Teilzeitkraft und Hobbyorganistin nicht bedenkenlos in ökumenischen Gottesdiensten in einer katholischen Pfarrkirche eingesetzt werden sollte. Eine katholische Kollegin in Vollzeit wurde engagiert, mit den studierten Fächern Kunst und Musik, die keine Klassenarbeiten zu korrigieren hatte, die keine Klassenfahrten organisieren, keine Zeugnisse und Blauen Briefe schreiben musste und an Elternsprechtagen allein in ihrem Musikraum saß und den Unterricht des nächsten Halbjahres vorbereiten konnte. Sie bat mich dennoch, im nächsten Gottesdienst noch einmal die Orgel zu spielen, da sie so rasch nach ihrem Dienstantritt keine Instrumentalgruppe zusammenstellen könne. Meine Kinder waren nun alt genug, dass ich sie zu Hause lassen konnte. Ich freute mich auf das Orgelspiel, übte länger als nötig und wurde durch keinen pickeligen Jüngling gestört.

Nach dem Entlassgottesdienst wartete mein Chef am Eingang der Kirche. „Das war aber eine sehr schöne Feier, die Lieder waren fantastisch ausgewählt, Ihre Begleitung war einfach herrlich, es machte Spaß, mitzusingen! Vielen Dank, dass Sie Ihre Freizeit wieder einmal der Schule geopfert haben, vielen Dank, dass Sie kostenlos den Organisten ersetzt haben!“ Nun, das sagte er natürlich nicht. Seine Bemerkung war weniger spektakulär. „Sie scheinen das Instrument ja allmählich zu beherrschen.“ Wenn das ein „Dankeschön“ bedeuten sollte, war es gut versteckt. Der Chef sang gern und einigermaßen richtig, wenn er einen kräftigen Sänger oder eine Sängerin neben sich hatte, er spielte kein Instrument. Es war das letzte Mal, dass ich in einem Schulgottesdienst die Orgel spielte. Ich hatte eben auch meinen Stolz.

Außer der Schulentlassung waren noch andere Schulfeiern zu bedienen. Als unsere Schule ihr zwanzigjähriges Bestehen feierte, sagte ich einen musikalischen Beitrag zu. Ich konnte sechs meiner Zehntklässlerinnen dazu bewegen, eine schwarze Hose mit einem weißen Hemd darüber anzuziehen, eine schwarze Fliege umzubinden und einen schwarzen Zylinder auf den Kopf zu setzen. Zu einem von mir gedichteten und vertonten Lied, das ich mit dem Akkordeon begleitete, bewegten sich die Mädchen nach einer selbst erdachten Choreografie und sangen über die ungezähmten, hochgewachsenen Sachsen, die vom Frankenkaiser Karl und seinem Heer besiegt wurden. Es war eine harmlose, aber nett anzusehende Darbietung.

Ebenso harmlos verliefen unsere Weihnachtsfeiern, die regelmäßig von den Sechstklässlern für die „Kleinen“ und ihre Familie veranstaltet wurden. Ich ließ mir für meine Klasse ein Spiel einfallen. Die Buchstaben des Wortes WEIHNACHTSBÄCKEREI schrieben die Schüler auf je ein weißes Blatt. Alle Blätter wurden gemischt und an den Rand der Bühne gelegt. Dann baten die Kinder achtzehn Eltern auf die Bühne, die nun die Aufgabe hatten, das Wort zu erraten und richtig zusammenzusetzen. Am Ende sollten die Eltern ihren Buchstaben hochhalten. Jedem Buchstaben oder Elternteil war ein „Pate“ zugeteilt, der heimlich einen Tipp geben sollte, wenn das Quiz hakte. Die Eltern betraten die Bühne und begannen eifrig zu suchen und zu diskutieren. Es sah gut aus. Die ersten vier Buchstaben WEIH standen bereits richtig. – Mein ungeduldiger Schulleiter allerdings fürchtete, die Suche könnte zu lange dauern. Er stand nach gefühlten drei Minuten auf, stieg auf die Bühne und half den Eltern, ihr Blatt zu finden. Es kostete mich später viele Minuten mehr, meine enttäuschten Schüler zu beruhigen.

Solange ich für die Musik verantwortlich war, ließ ich die Zuschauer bei den Liedern immer mitsingen und verteilte vorsichtshalber vorher die Textblätter. Der Chor der Kinder klang in der Adventszeit immer ein bisschen schöner, feierlicher als sonst. Die Gäste sangen gern mit. Einen Chor sollte man nur leiten, wenn man dazu halbwegs ausgebildet ist. Manche Zeitgenossen glauben, man braucht nur ein wenig im Takt mitzuschnipsen und mit den Hüften zu wackeln, und die Kinder singen wie die Engel im Himmel. Einstimmigen Gesang bringt ein Schulchor zustande, wenn er aus Kindern besteht, die singen können. Mancher Schulchor wird ruiniert, weil der Musiklehrer es gut meint und alle mitsingen lässt, weil es auf die gute Absicht und den Spaß ankomme. Dann wird einstimmiger Gesang zur unerquicklichen Kakophonie und vertreibt die musikalischen Sänger. Oft sind die ausgewählten Lieder in einer zu hohen Tonart angesetzt, so dass die Jungen, die in der sechsten Klasse zum Teil bereits in den Stimmbruch kommen, keine Chance haben, die passende Tonlage zu finden. Folglich bestehen die Schulchöre oft nur oder überwiegend aus Mädchen. Mehrstimmigen Gesang an der Realschule zu trainieren gelingt möglicherweise, wenn es eine feste wöchentliche Chorstunde gibt. Mit einem Projektchor gelingt es kaum.

Allein wenn ich versuchte, einen Kanon singen zu lassen, damit die Kinder sich an die Mehrstimmigkeit herantasten konnten, erlebte ich, dass viele sich die Ohren zuhielten, weil sie sich auf ihre Stimme konzentrieren wollten. Ich erkläre ihnen, oft vergeblich, dass sie auf diese Art immer durch die anderen Stimmen aus ihrer Melodie geworfen würden, sobald sie die Ohren wieder freigäben. Die Auswahl der Lieder sollte allen Sängern gerecht werden und ihren Neigungen entgegenkommen. Die größte Herausforderung war dann aber die Bitte des Schulleiters an mich, die zu dieser Zeit noch einzige Musiklehrerin der Schule, ich möge für die Schul-Gemeindeversammlung im städtischen Gymnasium einige Chorlieder vorbereiten. Von solch einer Versammlung hörte ich zum ersten Mal. Die Aula im Gymnasium kannte ich, sie ist als Teil der neuen Gesamtschule immer noch der beste Theaterraum in der Stadt und wurde inzwischen auch für die städtische Theaterreihe genutzt. Die aufsteigenden Sitzreihen nehmen einige Hunderte Zuschauer auf. Ein Flügel kann aus dem Musikraum stufen- und mühelos auf die Bühne geschoben werden.

Mein Chor bestand im November aus zweiundvierzig Sängern, es waren auch einige verhaltensunauffällige, musikalische Jungen dabei. Ich suchte nach geeigneter Literatur und stieß auf das jütländische Volkslied „Guten Abend, guten Abend euch allen hier beisamm“ sowie das berühmte „Guten Abend, gut Nacht“ von Brahms. Es war ein Wagnis, aber der Chor war bereit dazu und auch fähig, zumindest sah es im November so aus, ich war begeistert von dem guten Klang, auch wenn er einstimmig bleiben musste. Für die Mehrstimmigkeit hatte ich nur den Flügel. – Nach den Weihnachtsferien brach unter den Lehrern und Schülern eine Grippewelle aus. Anfang Februar kamen noch fünfzehn Kinder in die Chorstunde. Etliche von ihnen krächzten erbärmlich. Ich trat einen Bettelgang durch die Klassen an und bekam tatsächlich einen Chor von zweiundzwanzig Schülern zusammen. Doch in der Woche bis zur Schulgemeindeversammlung hatte ich keine Chance, die beiden Lieder sicher einzustudieren, noch dazu erhielt ich keine Möglichkeit, eine Generalprobe auf der Bühne abzuhalten und den Kindern ein wenig die Scheu vor der ungewohnten Umgebung zu nehmen. Die Realschule hatte nur eine Behelfsaula aus vier Klassenräumen, die alltags durch Faltwände voneinander getrennt waren.

Ich fragte meinen Chef, ob ich angesichts der dramatischen Entwicklung nicht auf die Mitwirkung bei der Schulgemeindeversammlung verzichten solle. Er winkte ab. Es sei zu spät, jetzt noch etwas zu ändern. – Die Kinder traten aus dem Musikraum hinter den Vorhang, dieser wurde zur Seite geschoben, und ich spürte förmlich, wie angesichts der Zuschauermassen die Schultern ebenso wie der Mut sanken. Die Kinder gaben sich Mühe, die vielen erwachsenen Zuhörer und Zuschauer zu erreichen, aber ihre Stimmen waren durch das Lampenfieber äußerst zurückhaltend, meine Begleitung am Flügel dominierte, so leise konnte ich gar nicht spielen, dass man den Gesang darüber hörte, aber wir waren dabei, wir hatten nicht gekniffen. Ich gab nach dem abendlichen Auftritt allen Sängern am Morgen danach eine Runde Süßigkeiten aus und lobte sie über den grünen Klee. Am selben Schulmorgen kommentierte der Schulleiter mein Bemühen: „Das war leider ein schwacher Auftritt!“ – Danke schön.

Kap. 3

Staunend erfuhr ich von einem Lehrer auf einer Insel im Urlaubsland Schleswig-Holstein, der nach einem Pensionierungsgrund suchte und einen fand, nicht etwa das Burn-out-Syndrom, sondern eine Allergie gegen Schulhefte! Wenn es danach ginge, hätte ich auch schon nach 25 Jahren pensioniert sein müssen. Solange ich im Beruf war, ärgerte ich mich über vieles: Zum Beispiel ärgerte ich mich über Eselsohren an Buch- und Heftseiten. Die Eltern an unserer Schule, in unserem Lehrmittelfreiheits-Paradies Nordrhein-Westfalen, wurden gebeten, stabile Büchertaschen zu kaufen, damit die Bücher geschont werden. Außerdem wurden sie dringend empfohlen, weil sie den Rücken des Kindes schonten. Womit kamen die lieben Kleinen aber in meine Schule? Mit Schlabbersäcken, die nicht einmal die Bezeichnung „Tonne“ verdienten. Womit hatte die Kleine ihre Mutter herumgekriegt, auf den Kauf eines stabilen Transportbehälters zu verzichten? „Alle aus meiner Klasse haben einen Rucksack, die machen sich über mich lustig, wenn ich mit so einem altmodischen Ding in die Schule komme!“ Oh Gott, was könnte einem Schlimmeres zustoßen, als nicht „in“ zu sein? Büchertaschen wurden als Sporttaschen genutzt, die müffelnden Turnschuhe ruhten neben dem Englischbuch, das verschwitzte Sporthemd schützte das Mathematikarbeitsheft. Oder war es umgekehrt? Dazwischen räkelte sich die Butterbrotdose. Ab und zu trat ein Schüler absichtlich oder unabsichtlich gegen die „Tonne“, und es platzte darin schon einmal eine Colaflasche. Die kostenlos, aber nicht unverbindlich vom Land gewährten Lehrbücher wellten sich. Die Lehrerkonferenz hatte beschlossen, Sporttaschen als Büchertaschen zu verbieten. Wie viele Eltern sich an dieses Verbot hielten, beobachtete ich täglich: ein verschwindend geringer Teil. Sogar die Demokratie wurde als Argument bemüht, der heilige Elternwille. Im Königreich der Eltern entscheiden die Kinder, mit welcher Tasche sie zur Schule gehen.

Ich bin also eine Deutschlehrerin mit den Allergien gegen Eselsohren und Burn-out-Syndrome. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts war ich bei feineren Leuten zum Dinner eingeladen. Hier herrschte eine Allergie der dritten Art: gegen die Rechtschreibreform. Am besten informiert zeigte sich die Apothekerin, die als offensichtlicher Fan einer großen deutschen Bildungszeitung vor allem den Verlust an traditionellen deutschen Werten beklagte. Wenn doch das Rechtschreiben so sträflich vereinfacht werde, mache sich eine völlig unpreußische Gleichgültigkeit gegenüber der deutschen Sprache breit. Was werde bloß aus dem Volk der Dichter und Denker? Die Beherrschung der Rechtschreibregeln sei ein Ausdruck der Intelligenz des Schreibenden, und deshalb dürfe man es den Schülern nicht einfach so einfach machen. Der Geografieprofessor war ehrlich genug, zuzugeben, dass nicht die Rechtschreibreform ursächlich beteiligt war, wenn Studenten ihm eine Examensarbeit mit mehr als 60 Rechtschreibfehlern abgaben. Es ist müßig zu sagen, dass in der zwischen Champignoncrêmesuppe und Mousse au Chocolat geführten Diskussion die Meinung der Deule am wenigsten gefragt war, vielleicht weil die Gastgeberin ahnte, was sie sagen würde: „Was habt ihr denn? Ich kann gut mit der Reform leben, meine Schüler auch. Von den zweiundvierzig Zeichensetzungsregeln sind übrigens nur neun sinnvolle übriggeblieben, und dass man ‚Fluss‘ mit Doppel-s schreibt, ist nur logisch.“

Ich bin nicht der Ansicht, dass die Form mehr als der Inhalt zählt. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass viele Erwachsene nicht einmal alle Regeln der alten Rechtschreibung nachvollziehen können. Wut ließ mir die Haare zu Berge stehen, als ich im Jahr 2010 zum Weihnachtsfest ein brandneues belletristisches Machwerk geschenkt bekam, das die neue Rechtschreibung ignorierte, nach fast 14 Jahren Umgewöhnungszeit. Gebildete, allzu selbstbewusste Ignoranten sind für mich eine große Herausforderung.

Einer Schülerin gelang es, mir ein Diktat mittleren Schwierigkeitsgrades vorzulegen, bestehend aus 90 Wörtern, und ihren Text mit 31 Fehlern zu verzieren! Natürlich, würde die preußische Apothekerin sagen, komme dies von der Rechtschreibreform, gegen die sie auch in ihrer Apotheke noch kein Mittel gefunden hat. Die Deule hatte sich der schülernahen Pädagogik verschrieben, sie veranstaltete auch Elternnachmittage, um den Kontakt zu den Erziehungsverpflichteten zu pflegen, sie verharrte nicht in destruktivem Hadern, sondern handelte. „Also ich bekomme meine Tochter einfach nicht zum Lesen!“, klagte die Mutter, als ich sie nach den Lesegewohnheiten des Kindes fragte. Ich wies sie vorsichtig und mit allem Respekt auf den wichtigen Zusammenhang zwischen dem Lesen und der Rechtschreibung hin und erntete lebhafte Zustimmung. Aber die Lektüre, die im Deutschunterricht gelesen werde, mache dem Kind überhaupt keinen Spaß. Ich handelte. Ich stellte im Deutschunterricht verschiedene Möglichkeiten vor, die Rechtschreibleistungen durch eigene Initiative zu verbessern, als moderne Deule vergaß ich auch nicht die neuen Medien. „Mir einen PC zu kaufen können sich meine Eltern nicht leisten.“ Das Deule schlug vor, den guten alten LÜK-Kasten anzuschaffen, dazu nach und nach die notwendigen Übungsbücher. Das Kind berichtete am nächsten Tag: „Das ist meinen Eltern zu teuer.“ Ich konnte einen Anflug von Ärger nicht vermeiden, und nachdem ich mich nach den Rauchergewohnheiten der Eltern erkundigt hatte, rechnete ich dem Kind vor, wie viele LÜK-Kästen mit Übungsmaterial die Eltern anschaffen könnten, um ihrem Kind zu helfen, wenn sie nur eine Woche nicht rauchen würden.

Tags darauf sprach mich mein irritierter Chef an. Eine Mutter habe ihn wutschnaubend angerufen und ihn gebeten, mir deutlich zu machen, dass es mich überhaupt nichts angehe, ob sie rauche oder nicht. Meine Allergien gegen Eselsohren und Burn-out-Syndrome dehnte ich aus auf rauchende Eltern, die es ablehnen, ihre Kinder bei ihren Bildungsbemühungen finanziell zu unterstützen.

Eine weitere Allergie bahnte sich an. Eine Mutter unterzeichnete Entschuldigungen ihrer Tochter mit Meier-Springinsfeld. Ihr Kind trug den Nachnamen Müller. Sie hatte sich allerdings kürzlich von ihrem Springinsfeld getrennt und war wieder zu ihrem Mädchennamen Meier zurückgekehrt. In vier Wochen wollte sie wiederum heiraten, und zwar einen Herrn Fechner. Sie wollte dann Meier-Fechner heißen. Das Müller-Kind wurde nicht umbenannt. Aber das Kind wollte nicht mehr Müller heißen, sondern Fechner wie die Mutter. Es stellte sich überall bereits unter diesem Namen vor, so dass es sein Zeugnis mit dem Vatersnamen nicht akzeptieren wollte. Dieser Fall ist keineswegs konstruiert.

Ich kämpfte mit meiner Allergie gegen Kindesmisshandlung geistig-seelischer Art. Nichts anderes ist es doch, wenn ein anderes Kind stolz zu mir sagt: „Ich habe jetzt schon meinen vierten Vater!“ Eine Entschuldigung tauchte auf, deren Namen in der Unterschrift mir völlig unbekannt war. Ich war gezwungen, die Schüler vor der Klasse zu fragen, wer mir das Schreiben kommentarlos aufs Pult gelegt hatte. „Meine Mutter hat wieder geheiratet“, sagte stolz Cindy-Peggy-Mandy. Nebenbei erfuhr ich auch noch, dass die Adresse sich vor zwei Wochen geändert hatte, auch die Telefonnummer. Die Schule muss ja nicht sofort alles wissen.

Als Klassenlehrerin musste ich mit den Eltern Kontakt halten, ihnen beratend in allen Erziehungsangelegenheiten zur Seite stehen. In einem Parteipresseorgan fand ich die Forderung nach mehr Ganztagsbetreuung und meine Ängste bestätigt, dass der Lehrer die Eltern demnächst sogar ersetzen sollte. Elternsprechtage waren ein unerschöpflicher Quell der Freude. Eltern freuten sich, wenn sie die guten schulischen Leistungen ihres Sprösslings bestätigt sahen, Lehrer freuten sich, wenn die Eltern sich mit den erbrachten Leistungen zufrieden zeigten. Aber wehe, wenn diese Leistungen zu wünschen übrig ließen! Dann hatte eindeutig der Lehrer das Klassenziel nicht erreicht. Dann war es auch nicht unbedingt nötig, ihn am Elternsprechtag aufzusuchen, allenfalls, um ihm einmal gehörig die Meinung zu geigen. Eine Mutter hat sich angemeldet. „Guten Tag, Frau Afgani!“, begrüßte sie mich, die ihren Sohn bereits seit eineinhalb Jahren in Deutsch, Geschichte und Politik unterrichtete. Sie war Gattin eines Zahnarztes und musste sich Namen nicht merken. Ein Vater preschte dann herein, seinen 15-jährigen nervös zwinkernden Sohn hinter sich her ziehend, setzte sich, drückte den Jungen auf den Nachbarstuhl und legte los. „Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie die ganze Zeit die Weimarer Republik und das Dritte Reich durchnehmen. Wen interessiert das noch? Es muss doch einmal Schluss sein mit dem Kram! Der Junge will Postbeamter werden, was braucht er dann all dieses Zeug? – Jetzt nimm endlich die Hände aus den Taschen, oder ich knall dir eine!“ Ich habe es nicht übers Herz gebracht, all meine wohlbedachten kritischen Worte loszuwerden.

Namen sind Schall und Rauch? Ich muss Klassenlisten führen und darauf achten, dass die Namen der Schülerinnen und Schüler im Verwaltungscomputer auch richtig geschrieben stehen. Nina selbst störte sich nicht daran, dass sie jahrelang auf ein „s“ mitten in ihrem Nachnamen verzichten musste. Zugegeben: Ihr ziemlich russisch klingender Name wies einige Tücken auf. Ich erklärte ihr jedoch, dass sie ein Recht auf die korrekte Schreibweise ihres Namens habe. Auch manche türkische, arabische, polnische, bosnische oder estnische Namen musste ich Buchstaben für Buchstaben überprüfen, um die Listen ordnungsgemäß zu führen. Aber auch bei deutschen Namen musste ich mich vorsehen. Der Schüler Kessel war kein Kessel mit zwei „s“, sondern ein Keßel mit „ß“. Der Schüler März wollte als Mertz verschriftlicht werden. Julia allerdings sorgte für Wirbel, als ihre Eltern den Namen Sczafarczyk, an dessen Schreibweise sich alle Kollegen endlich gewöhnt hatten, in Schaffarzyk umändern ließen. Jurij wollte ab sofort amtlich bestätigt nur noch Jürgen genannt werden, und statt des „v“ am Ende seines Nachnamens sollte ich ein „w“ schreiben. Ich erfülle alle Wünsche aus der echten Überzeugung heraus, dass Namen nicht Schall und Rauch sind, sondern Ausdruck der jeweiligen Persönlichkeit eines Menschen. Meinen eigenen Namen schrieben die Eltern in 90 Prozent der Fälle falsch, nämlich nicht mit dem arabischen „i“ am Ende, sondern mit dem vertrauten deutschen „ie“.

Nach der „Wende“ – nein, das ist kein Vorurteil! – entdeckte ich eine neue Allergie: gegen das Spucken. In Frankreich sollen während der Regierungsbemühungen um eine einheitliche französische Nationalsprache Schilder auf Schulhöfen gestanden haben, die die Aufschrift trugen: „Es ist verboten, Bretonisch zu sprechen und auf den Boden zu spucken!“ Wieso kümmerte ich mich nicht um meine Fächer, wieso interessierte ich mich auch noch für Spucke? Es ist fantastisch, welche Unterschiede in Konsistenz und Farbe, Größe und Zahl es beim Speichel gibt! Jeden Morgen, wenn ich in einer Seitenstraße aus meinem Auto stieg und mich behutsam auf meine Schule zu bewegte, bedauerte ich es, nie Skifahren gelernt zu haben. Der Slalom, den einige der über 600 Schülerinnen und Schüler auf dem Schulweg, vor dem Schultor und auf dem Schulhof abgesteckt hatten, zwang mich, nur mit zu Boden gesenktem Blick meine Arbeitsstelle aufzusuchen. Es klingt unappetitlich, es war unappetitlich. Wenn ich künstlerisch begabt gewesen wäre, hätte ich versucht, aus all den Hinterlassenschaften der Schüler einschließlich der Zigaretten-„Kippen“ eine ebenso eindrucksvolle wie eindringliche Collage herzustellen. „Bitte mache deine Zigarette aus!“, sprach ich einen älteren Schüler an. „Ich stehe nicht auf dem Schulgelände!“, weigerte sich dieser. Nun, er stand tatsächlich zehn Zentimeter davon entfernt. Ich bestand dennoch darauf, dass er die Zigarette ausdrückte. Er ließ sie achtlos auf dem Bürgersteig liegen, spuckte einmal kurz aus und betrat den Schulhof. Ein weiteres Mal wies ein rauchender Schüler am Schultor mich auf die Urzeit hin. Der Unterricht habe noch gar nicht begonnen. Ich erinnere mich noch gut an den Rohrstock, den ich am Anfang meiner Aufzeichnungen erwähnte. In meiner Volksschule, bei meinem Volksschullehrer war er unverzichtbares Utensil seiner pädagogischen Anstrengungen. Ich überlegte, ob mich der Richter wohl verstehen und mir mildernde Umstände zubilligen würde.

Kap. 4

Die Schule macht krank. Von Zahnschmerzen geplagt musste ich den ungeliebten Zahnarzt aufsuchen. Dort traf ich rein zufällig eine Mutter, die ihren Sprössling durch die Realschule zu quälen versuchte, mit mehr oder weniger Erfolg. Selbstkritik lag der Mutter fern, nichts lag näher, als den Schwarzen Peter bei der Schule zu suchen. Außerdem konnte sie mit einem unschlagbaren Argument gegen die Schule aufwarten: Es gab unter den Kollegen – Spanner! Einer der Lehrer schaute immer unter der Klotür durch den Mädchen unter die Röcke. Ich muss ein wenig ausholen, um den Zusammenhang zu erklären. Die Toilettenanlagen in Schulen bieten nicht immer einen Anblick reinsten Vergnügens. Zwischenwände eignen sich hervorragend für Schmierereien aller Art, die ich hier gar nicht wiedergeben kann oder will. Es handelt sich ja um Gemeinschaftseigentum, warum sollten Schüler es schonen? Türriegel dienen dazu, den Besucher der Bedürfnisanstalt vor fremden Blicken zu schonen. Den Spaß kann man sich nicht entgehen lassen, die Riegel zu entfernen oder funktionsuntüchtig zu machen. Toilettenbecken können zweckentfremdet werden, etwa zu Aschenbechern, denn das Rauchverbot zu missachten ist „cool“. Die Kabinen allein zu betreten ist uncool, also drängen sich bis zu fünf Mädchen in einen engen Raum.

Nun kommt unser Kollege ins Spiel. Selbst Vater und berufener Erzieher, nahm er seine Aufsichtspflicht ernst und kontrollierte die Mädchentoiletten. Stimmengewirr aus einer Kabine ließ ihn an die verriegelte Tür klopfen, er forderte die Mädchen auf, sofort heraus zu kommen. Absolute Stille herrschte, auch in den Nachbarkabinen. Irritiert bückte sich der Kollege und versuchte durch den kleinen Spalt unter der Tür hindurch Füße zu erspähen. Ein Paar Schuhe haftete fest am Fußboden, die anderen mussten in der Luft hängen – später stellte sich heraus, dass vier Mädchen die Toilettenbrille als Trittbrett benutzt und sie unabsichtlich zertreten hatten. Der Hausmeister durfte wieder einmal tätig werden.

Die Mutter im Wartezimmer der Zahnarztpraxis war empört. „Stellen Sie sich vor, an dieser Schule gibt es Spanner!“ Und schon machte das Gerücht die Runde. Und was machte ich? Ich versuchte erfolglos zu verhindern, dass dieses Gerücht weitergetragen wurde, nicht ohne dass es mit weiteren spannenden Details gewürzt war.

„Liebe Entlaßschüler, verehrte Gäste!“

So beginnt eine Rede, die ich in den 1980-er Jahren entwarf, die ich dann zum Glück aber nicht zu halten brauchte. Es war an meiner Schule lange Zeit üblich, dass einer der betroffenen Klassenlehrer an Stelle des Schulleiters die Abschlussrede hielt. Ich konnte mich davor erfolgreich drücken. Die Rede geht weiter, natürlich noch in der alten Rechtschreibung:

„Aus meiner eigenen Schulzeit liegt mir noch in Erinnerung, daß die Reden der wohlmeinenden Erwachsenen an die Entlaßschüler furchtbar ernst, furchtbar moralisch und furchtbar lang waren, auch wenn sie nur etwa 10 Minuten dauerten. Versuche ich also, furchtbar ernst zu sein. Die Floskel, daß für euch Entlaßschüler nun der Ernst des Lebens beginnt, wird euch kaum ein müdes Lächeln abringen. Als ob die Schule euch nicht von diesem Ernst spüren ließe! Es war für uns Lehrer nicht leicht, euch Schülern die segensreiche Einrichtung Schule schmackhaft zu machen, in der Scharen junger, nach Wissen und Bildung schmachtender Menschen von opferfreudigen Männern und Frauen belehrt und erzogen werden, in der mit heiligem Ernst um Grundwahrheiten gerungen wird. Das ist natürlich ein Zitat. Böse Zungen behaupten, die Schule gleiche eher einem Turnierplatz, auf dem das unterdrückte Schülervolk einen unversöhnlichen Kampf gegen die herrschenden Lehrer führe. Bertolt Brecht etwa bestand immer darauf, daß er auch in seiner Schulzeit nur aus der Opposition gelernt habe, und bezeichnete diese Zeit als ‚Eingewecktsein‘. Aber im Ernst: Es waren doch die Lehrer, die ihn aufgeweckt haben. Die Behauptung eines Autors: ‚Was ich bin, wurde ich gegen euch!‘ fasse ich als Kompliment für die Lehrer auf, die ihm das Freischwimmen ermöglicht haben. Schließlich erweisen sich solche Äußerungen als Bumerang. Auch mancher Lehrer kann den Schülern zurufen: ‚Was ich bin, wurde ich gegen euch!‘ So entlarven sich bequeme Phrasen, wie überhaupt die Opposition bequemer ist als das Regieren. Ohne sie wäre es allerdings auch wesentlich langweiliger in der Schule gewesen, oder?“

Meckern kann jede Ziege. Im modernen Sprachgebrauch meckert die Mutter ihren Sohn an, der sein Zimmer immer noch nicht aufgeräumt hat, der Bruder meckert die Schwester an, die seine Lieblings-CD gemopst hat, der Lehrer meckert über nicht erledigte Hausaufgaben, der Hausmeister meckert über achtlos neben den Abfallkorb geworfenen Müll. Der Nachbar meckert, wenn fremde Äste auf sein Grundstück ragen.

Eine Deule meckert nicht. Deutsch zu lehren heißt doch, eine gepflegte Sprache in ungepflegten Mündern heimisch zu machen. Also verbietet der Deutschlehrer umgangssprachliche Ausdrücke, vor allem in schriftlichen Erzeugnissen, und verbannt Wörter wie „meckern“, „kaputt“, „kucken“ oder „mal“ in die Mülltonne. Ich meckere nicht, ich übe Kritik. Schüler sollen nicht wie Ziegen sprechen, schließlich ernähren sie sich ja auch nicht von Gräsern, Klee und Kräutern. Schüler sollen sich angemessen artikulieren, sachliche Kritik üben, über Konflikte sprechen und Lösungen erwägen, sich objektiv und angemessen mit den Standpunkten anderer auseinandersetzen, über Bedingungen und Konsequenzen sprachlichen Handelns nachdenken, taktvoll kritisieren lernen. Ich, in Ehren ergraut, befolge brav die Richtlinien, und während eines kurzen Ganges über den Schulflur ernte ich die Früchte meines jahrelangen, mit viel roter Tinte und Spucke ausgefüllten Strebens, die Umgangsformen meiner Schüler untereinander zu verbessern: „Eh, verpiss dich!“ – „Du alter Wichser!“ – „Du Arsch mit Ohren!“ – „Spasti!“ Da wendet sich der Gast mit Grausen – und ich denke gegen meinen eigenen selbstbestimmten freien Willen doch einmal über die Vorzüge einer Frühpensionierung nach…

Wir gehen mit der Zeit, oder wir müssen vor der Zeit zum Alteisen geworfen werden. Ein von den Jugendlichen gern empfangener Kölner Radiosender ist von der SV eingeladen worden. Die Zehntklässler wollen an einem Quiz teilnehmen und eine Klassenreise oder einen Zuschuss zu ihrer Abschlussfeier gewinnen. Ich höre diesen Sender nicht. Ich bin durch meinen klassisch ausgerichteten Kantor und Chorleiter auf Dauer in meinem Musikgeschmack verdorben worden. Die Aussage „Ich mag Bach, Mozart und Beethoven!“ ruft bei Schülern seit langer Zeit schon ein mitleidiges Lächeln hervor. Kirchenchormentalität ist out, outer, mega-out. Immerhin aber werde ich gebeten, die „Mannschaft“ zu trainieren. Ich setze mich also im heimischen Arbeitszimmer an den PC und googele und wikipediere, suche einschlägige Seiten im unerschöpflichen Netz, die der erwähnte Sender möglicherweise auch als Grundlage für seine Quizfragen nutzt, und erscheine stolz vor den Probanden mit einer Liste von 198 Fragen aus allen kulturellen Wissensgebieten. Die Jungen und Mädchen halten jeweils einen Buchstaben des Alphabets in ihrer Hand, ich nenne einen Ratebegriff, und die betreffenden Buchstabenträger müssen sich blitzschnell, denn die Zeit zählt mit, nach vorn begeben und sich zum Ratewort aufstellen. Das Gewusel ist so beträchtlich wie der Spaß. Die Rechtschreibleistung fällt entsprechend aus, und nicht nur ich zweifele am siegreichen Ausgang der Quizrunde. Nach unserem wochenlangen, fast täglichen Üben bauen die Techniker des Senders auf dem Schulhof das Spielfeld mit den nötigen technischen Requisiten auf. Die vierte Frage scheitert am C und am H, die ihre Stellung vertauscht haben und meine Warnungen im allgemeinen Tumult überhören. Die letzte Frage ist die nach einem Drama von William Shakespeare. Die Realschüler sind überfordert, aber wo bleiben die Tipps der Englischlehrer? Sie werden übertönt von teilweise irrwitzigen Zurufen der kreischenden Mitschüler. Aufatmend sammele ich den achtlos auf dem Boden hinterlassenen Buchstabenmüll ein. Hochmut kommt vor dem Fall, Schuster bleiben besser bei ihren Leisten, und von einem Ochsen kann man nichts Anderes erwarten als ein Stück Rindfleisch.

An manche Kollegen erinnert man sich ebenso gern wie an manche Schüler, die den Unterrichtsalltag bereicherten oder mit Humor und Ironie würzten. Kollege B. ärgerte sich beständig über das Missachten von Regeln der Schulordnung. Er verwendete einen recht großen Teil seiner Freizeit darauf, neue Ordnungsmaßnahmen zu entwickeln und alte zu verfeinern. Er wollte nicht hinnehmen und sich nicht eingestehen, dass manche unserer Zöglinge erziehungsresistent zu sein schienen, wie ein Patient, der zu häufig mit Antibiotika behandelt wurde und Resistenzen entwickelt. Als besonders resistent erwiesen sich manche ehemaligen Gymnasiasten, die, obwohl sie zwar an ihrer abgebenden Schule gescheitert waren, dennoch an ihrer, also meiner, aufnehmenden Schule mit ungeheurem Selbstbewusstsein und einer gehörigen Portion Frechheit auftraten. Potenziert wurde dieses Verhalten, wenn es sich zu allem Überfluss auch noch um einen Lehrersohn handelte. Ich nannte diese besondere Schülergruppe „Sonnyboys“. Der Betreffende verweigerte die Mitarbeit, „vergaß“ Hausaufgaben zu erledigen und lümmelte sich, ohne Arbeitsmaterial bereit zu haben, auf seinem Stuhl herum. Provokation pur!

Ich betrat an einem sonnigen Vormittag schwungvoll den Klassenraum. Doch gleich wurde mein Blick gebannt durch eine Figur, die sich verbotenerweise auf dem Kiesvordach aufhielt und mich von dort herausfordernd angrinste. Ein Deule ist ein Mensch. Ein Mensch kann sich ärgern. Ein Mensch reagiert, wenn er sich ärgert. Ich schritt zum Fenster und – schloss es. Dann wandte ich mich gelassen der Klasse zu und forderte zum Vergleich der Hausaufgaben auf. Hinter der Fensterscheibe war das Grinsen ein wenig aus dem Gleis geraten, um nicht zu sagen: eingefroren. Ich wusste selbstverständlich um meine Aufsichtspflicht. Kaum vier Minuten waren verstrichen, da spazierte ich gemütlich zum Fenster und schob es auf. „Willst du nicht hereinkommen?“, flötete ich. Dem Jungen blieb nichts anderes übrig. Er sprang übertrieben elegant von der Fensterbank, schlurfte, ganz Empörung über die erlebte Misshandlung, zu seinem Platz. „Holst du bitte deine Hausaufgaben heraus?“ Keine Reaktion. Der Sonnyboy verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die Beine betont lässig aus. Nach einer weniger freundlichen Aufforderung griff er ganz bedächtig in seine Büchertasche, kramte ein wenig darin und murmelte dann patzig: „Ja, die hab ich wohl nicht.“ „Da du anscheinend kein Interesse am Unterricht hast, kannst du auch gleich vor die Tür gehen. Raus! Und bleibe vor der Tür stehen!“ Die Methode mancher netter Kollegen, den Schüler die Türklinke herunterdrücken zu lassen, hielt ich für unnötig. Den Anordnungen der Lehrer ist laut Schulordnung Folge zu leisten. In der Klasse war es ruhig, kein Sympathisant zeigte sich. Endlich konnte eine Lernatmosphäre entstehen. Ich hatte den Zwischenfall beinahe vergessen.

„Frau A., der fährt mit dem Mofa vom Hof!“, rief ein am Fenster Sitzender. Tatsächlich verließ der Junge gerade den Schulhof und brauste davon. Er wohnte etwa 500 Meter von der Schule entfernt. Wollte er sich bei Mama ausheulen? Sein  Vater unterrichtete am Gymnasium. Nach der Doppelstunde bat der Direktor – so hieß er damals noch – mich zu sich in sein Bürozimmer. Er informierte mich darüber, dass der Lehrervater des Jungen sich über mich beschwert habe, weil ich die Aufsichtspflicht verletzt hätte. Der Direktor, sichtlich unglücklich darüber, dass er zwischen zwei Fronten geraten war, sah nach einem kurzen Bericht ein, dass der Junge der Übeltäter war und der Lehrer das Opfer. Am nächsten Tag durfte ich mit dem Kollegen B. einen Beschwerdebrief des Lehrervaters lesen. Ich hätte meine Aufsichtspflicht verletzt, und der Kollege habe seinen Sohn getadelt, weil er mit einem Körperteil den Schulhof verlassen habe. Das sei lächerlich und unwürdig. Gemeinsam bereiteten wir den Antwortbrief vor. Es ist leicht zu raten, was ich schrieb. Der Textteil des Kollegen sah etwa folgendermaßen aus:

„Ihr Sohn provozierte mich als aufsichtführenden Lehrer während der Pause, indem er durch das Schultor ging und sich auf dem Bürgersteig davor aufhielt. Er zwang mich dazu, ihm wiederholt zu erklären, dass und warum mit Recht nach der Schulordnung das Verlassen des Schulhofes verboten ist. Erst als ich ihm Sanktionen androhte, kehrte er auf das Schulgelände zurück, streckte ein Bein vor und setzte den Fuß über die Schulhofgrenze. Nun höhnte er, ich müsse ihn bestrafen, weil er einen Fuß außerhalb des Schultores habe. Ich reagierte nicht auf diese Unverschämtheit. In der nächsten Pause saß er auf dem Schultor. Als ich ihn aufforderte, von dort herunterzukommen, befolgte er meine Anweisung erst nach einer Drohung. Als er in der folgenden Pause wieder auf dem Schultor saß, schrieb ich Ihnen einen Brief, in dem ich Ihren Sohn tatsächlich tadelte, weil er mit einem Körperteil, nämlich seinem Hinterteil, den Schulhof verlassen hatte.“ Natürlich vergaßen wir die freundlichen Grüße nicht. Man ist als Lehrer ja gut erzogen.

Frau R. war eine überaus religiös denkende Lehrerin für Englisch und Katholische Religion. Sie war nicht verheiratet und hatte folglich (!) keine Kinder, doch war ihr Busen so beschaffen, als hätte sie welche oder müsste welche haben. Sie litt unter diesem Symbol körperlicher und geistiger, wenn nicht sogar geistlicher Schwäche und bedeckte den unerwünschten Körpervorsprung stets mit einem geeigneten Oberteil, in der Regel mit einer hellen Feinstrickjacke, deren in der Mitte getrennte vordere Hälften sie in regelmäßigen Abständen mit beiden Händen diskret über den Busen zog. Etliche Klassen veranstalteten auf ihrer Abschlussfeier ein heiteres Lehrerraten und verwendeten dabei Mimik und Gestik der betreffenden Kollegin, was nicht unbedingt ihrer Erheiterung dienlich war. Im Englischunterricht wollte sie zeigen, dass die moderne Pädagogik, Didaktik und Methodik nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Sie setzte eine Audiokassette ein, nachdem sie aus dem Medienraum einen Kassettenrekorder herbeigetragen hatte. Von Zeit zu Zeit wandte sie sich der Tafel zu, um das bewährte Stück Kreide über die bewährte Tafel gleiten zu lassen. Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzten böse Buben, um ihr die Kassette zu rauben, so dass sie dann stets, den Tränen nahe, in der verdienten Pause auf die Klassenlehrerin einstürmte und sich über die Flegel in der Klasse bitterlich beklagte.

Im Jahre des Herrn 1988 gab es auch an unserer Schule seltsam anmutende Gestalten, die sich mit sogenannten Bomberjacken und Springerstiefeln uniformierten und kernige Sprüche absonderten: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!“ oder „Vierzig Jahre Besatzung sind genug!“ Es waren so wenige, dass die meisten Kollegen sich darauf beschränkten, sie zu ignorieren. Für Frau R. sprach, dass sie konsequent gläubig war. Am „Remmidemmi-Tag“, dem Spaßtag, an dem sich die Abschlussschüler mit möglichst spektakulären Aktionen von der Schulgemeinschaft verabschiedeten, hing vor Schulbeginn ein orthografisch korrektes Spruchband vor den Fenstern der oberen Etage: „Grüßt mir den Papst!“ Ich war in diesem Jahr auch Klassenlehrerin einer Abschlussklasse, ich bin evangelisch und sah auch sonst keinen Affront gegen eine Konfession, im Gegensatz zu Frau R. Sie lief dauerhaft mit puterrotem Gesicht herum, klagte über die Unverschämtheit dieses Spruchbandes und forderte alle auf, etwas zu tun. Ich entfloh dem Klageweib in die obere Etage, öffnete das Fenster zum Vordach, kletterte, da ich noch nicht zum alten Eisen zählte, hinaus und riss das bemalte Bettlaken herunter. Buhrufe und „Spielverderber!“-Parolen schallten zu mir herauf. Ich trat ungerührt den Rückweg zum Fenster an und stellte fest: Jemand hatte es zugeschoben. Ich war ausgesperrt! Aber ich wollte den Strategen keinen Triumph gönnen, also wartete ich geduldig, bis hinter dem Mauervorsprung endlich doch ein blonder Kopf auftauchte, und brüllte dann ganz unweiblich: „Mario, wenn du nicht sofort das Fenster öffnest, gebe ich dir dein Abschlusszeugnis bestimmt nicht!“ Ich wusste nicht erst durch das Singen in der Kantorei, wie man sein Zwerchfell wirkungsvoll einsetzt. Mario öffnete mit roten Wangen das Fenster. Entweder erwartete ihn eine Ladung nun durch die Klassenlehrerin oder später durch seine Kumpanen, die irgendwo lauerten. Ich blieb verhältnismäßig gnädig und brachte Frau R. das Corpus delicti. Sie bedankte sich nicht einmal.

Kap. 5

Zu Beginn des neuen Jahrtausends erhielt das Lehrerkollegium eine Auffrischung. Siehe da, ein ehemaliger Schüler trat mir entgegen, größer gewachsen, als ich ihn in Erinnerung hatte, begrüßte mich herzlich und scherzte: „An Sie erinnere ich mich gut, Sie wollten mir damals keine Eins in Geschichte geben!“ Damals war schon lange her, nun war der Ehemalige selbst auf dem zweiten Bildungsweg Lehrer geworden, hatte sich mehrfach qualifiziert und zögerte auch nicht, diesen Umstand im Kreise der Kollegen deutlich zu machen. Diese nahmen seine Art nicht mit ungeteilter Begeisterung an, aber ich fand ihn sympathisch, er hatte einen feinen Humor, war selbstbewusst und engagiert. Seine ironischen oder satirischen Späßchen verletzten nicht. Mit solchen Kollegen kam ich immer aus. Ich verzieh ihm, dass er eher naturwissenschaftlich orientiert war. Ich musste ihn bald in einer neunten Klasse vertreten, weil er im Prüfungsausschuss eines Hauptseminars tätig sein sollte.

„Wissen Sie eigentlich, was uns Herr S. über seine frühere Schulzeit erzählt hat?“, berichteten mir die Jungen, die im Physikkurs in der überwältigenden Mehrheit waren. „Er hat mit einigen Kumpels Ihren Wagen zwischen die Pfeiler gesetzt!“ Mein erstes Auto war ein Fiat 850 Sport Coupé, ein quietschgelber Flitzer mit Fließheck und engem Fond. Am Ende des Schuljahres, während ich die „Aula“ für die Abschlussfeier dekorieren half, parkte ich ihn zwischen Realschule und Hallenbad bzw. Turnhalle auf dem Schulhof. Als ich meine Arbeit erledigt hatte, strebte ich zu Mann und Kindern nach Hause. Doch mein Auto stand derart eingezwängt zwischen den beiden Stützpfeilern vor dem Nebeneingang, dass es zu beiden Seiten nur wenige Zentimeter Raum gab. Ich hatte keine Chance, den Wagen heraus zu manövrieren, und ich wusste zunächst auch nicht, wie die Bande es geschafft hatte, ihn in die Lücke zu wuchten. Auch jetzt gelang es mir durch meine Geduld, die Täter zu ermitteln, ohne dass ich mich zu bewegen brauchte. Nach etwa fünf Minuten hielt es einer der Jungen nicht mehr aus und lugte um die Hausecke. Das musste der neue Kollege gewesen sein, der sich zumindest einen Rest an Respekt bewahrt hatte. Ich brauchte nur kurz böse und laut zu werden, da kamen alle triumphierend hervor und wuchteten mein Auto wieder auf den Schulhof. Es sah gar nicht so schwer aus. Keiner war zu Schaden gekommen, also konnte ich über den Streich lachen, er war nicht böse gemeint. Mit meinem neuen Kollegen konnte ich auch  drei Jahrzehnte später darüber lachen und fand es erstaunlich, dass er seinen Kurs informiert, aber nicht zum Stillschweigen verpflichtet hatte.

Im Gegensatz dazu war der zweite Streich, der einigen meiner Kollegen und sogar dem Direktor gespielt wurde, wenig lustig. Die niemals ermittelten Täter rührten aus Mehl und Wasser einen Kleister an und befestigten damit lange Streifen Toilettenpapier auf den lackierten Autoflächen. Nicht alle Reinigungsversuche waren von Erfolg gekrönt, so dass unser örtlicher Autolackierer tätig wurde und von diesem Streich profitieren konnte. Einer der betroffenen Kollegen, der wenige Jahre nach der Gründung der Schule im Jahre 1970 hier seinen Dienst angetreten hatte, achtete sorgsam darauf, dass er keinen Schüler provozierte. Das soll nicht heißen, dass er ihnen ins Hinterteil kroch, aber er war provozierend vorsichtig. Ich hielt immer schon Diplomatie für eine besondere Form der Heuchelei und plädierte für die offene, faire Auseinandersetzung.  „Hast du keine Angst, dass sie dir die Reifen zerstechen?“, fragte er einmal. Daran hatte ich nie gedacht, daran wollte ich nicht denken. Entsprechend verärgert war ich, als ich eines Tages feststellen musste, dass der Abdruck eines Stiefelabsatzes eine unschöne Delle im Kotflügel meines metallicfarbenen Nissan Datsun Cherry hinterlassen hatte. Empört zeigte ich diese Sachbeschädigung der hiesigen Polizeidienststelle an. Der Polizist, mit dem ich sprach, schien den Vorfall ehrlich zu bedauern, aber er ließ keinen Zweifel daran, dass es unmöglich sein werde, den Täter zu finden. „Vielleicht finden Sie ja einen Mitschüler, der den Täter verrät.“ Na, danke.

Einen schneereichen Winter gab es im Jahr 1996. Die Straße, an deren Rand wir Lehrer unser Auto parkten, konnte nicht mehr geräumt werden, weil die städtischen Arbeiter nicht wussten, wo sie mit den Schneemassen bleiben sollten. Also wurde eine Spur notdürftig freigehalten. Ich hatte meinen Datsun dank des Vorderradantriebs sehr weit in eine Schneewehe am Straßenrand getrieben, um die Fahrbahn passierbar zu halten. Nach der letzten Stunde wollte ich einsteigen und sah, dass der Kotflügel links beschädigt war. Einige rote Farbspuren waren am Rand der Beschädigung sichtbar. Von zu Hause aus – Handys waren noch nicht verbreitet – rief ich die Polizeistation an. „Natürlich können wir Ihre Anzeige aufnehmen, aber nach einer Woche werden wir Ihnen mitteilen, dass das Verfahren gegen Unbekannt eingestellt worden ist. Wenn Sie etwas tun wollen, dann schauen Sie sich die Autos der Anwohner an, vielleicht entdecken Sie ein rotes mit Schäden im vorderen Bereich.“ Na, danke! Ich schleiche mich zu fremden Garagen und schnüffele nach roten Automobilen mit Lackschaden am rechten Kotflügel? Wenn ich hätte Detektiv werden wollen, wäre ich nicht Lehrerin geworden. Wenn ich Polizeiarbeit leisten will, gehe ich zur Polizei und nicht in die Schule. Burn-out-Syndrome und Allergien aller Art werden auch auf diese Weise geboren. Im Haus gegenüber meinem Parkplatz wohnte übrigens ein Tierarzt mit rotem Auto. Er war sympathisch, ich weigerte mich, ihn zu verdächtigen.

Zwei Kollegen erlebte ich in den vergangenen Jahrzehnten, auf deren Bekanntschaft ich rasend gern verzichtet hätte. Der erste, knapp über fünfzig, hielt sich eineinhalb Jahre und erreichte dann, dass sein Tinnitus und seine Erschöpfungszustände als Grund für die Frühpensionierung akzeptiert wurden. Er war begeisterter Jäger und Hobby-Landwirt. Ich fragte ihn, warum er denn Lehrer geworden sei. „Von irgendetwas muss man ja leben.“ Der zweite kam mir eines Tages auf dem Schulflur vor dem Verwaltungstrakt entgegen, ein Riese mit Nierenschoner und Springerstiefeln. Jagte der auch? Er legte einen mächtigen Arm auf meine Schulter, ohne mich zu fragen, und meinte: „Hallo, ich möchte mich Ihnen vorstellen, wir haben uns ja noch nicht bekr…“ Zumindest hatte er schon von mir gehört, vielleicht von dem Reifenstecher-Angst-Kollegen, der ihn vor der Emanze gewarnt hatte. Wir bekr… uns in den nächsten Monaten, nicht weil ich inzwischen wusste, dass er strafversetzt worden war, sondern weil er in meiner Klasse gleich in der ersten Woche seiner Anwesenheit gedroht hatte, er werde die Hälfte, also sechzehn Schüler, sitzenbleiben lassen. Ich musste wegen mangelhafter Leistungen in Mathematik und Physik vierzehn Blaue Briefe schreiben. Nachdem er uns verlassen hatte, baute er angeblich Studentenwohnheime. Da sind mir überbesorgte Eltern schon lieber.

Eines Morgens fehlte Sven. Ich wollte ihn ins Klassenbuch eintragen, hörte aber von den Mitschülern, er sei im Bus gewesen und mit ihnen zur Schule gegangen. Ich nahm mir vor, mich in der Pause darum zu kümmern, und unterrichtete erst einmal. Nach einer halben Stunde kam der Junge herein, ohne Anklopfen, ohne einen Gruß, ohne eine Entschuldigung. Ich schaute ihn fragend an, er setzte sich ungerührt. „Hallo, Sven. Wo warst du?“ – „Das werden Sie schon noch sehen.“ – „Sven, ich frage dich jetzt ernsthaft, wo du warst, und erwarte eine ernsthafte Antwort.“ – „Das wird Ihnen der Rektor wohl gleich sagen“, stieß er triumphierend hervor. – „Ich werde mir merken, dass du gerade sehr unhöflich gewesen bist.“ – „Meinetwegen, Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.“ – Ich ließ ihn sitzen, obwohl die Wut in mir aufgestiegen war. Was war geschehen? In der Pause ging ich sofort zum Rektor. „Ach ja, ich wollte Sie auch noch sprechen!“ Warum haben Sie es nicht schon längst getan? Ich schwieg. Sein Bericht klang lächerlich. Svens Mutter und die Großmutter baten ihn um ein Gespräch. Ich hätte dem Jungen gedroht, ihn zu kastrieren, und das gehe doch entschieden zu weit. Es fiel mir schwer, ernst zu bleiben. Ich hatte einen anderen Jungen der Klasse am Vortag zum wiederholten Male aufgefordert, das Arbeitsheft mit der Berichtigung vorzulegen, und zum wiederholten Male hatte er es „vergessen“. Ich drohte noch halb im Scherz: „Aber morgen bringst du es mit, sonst musst du mit schweren Strafen rechnen. Was hat man im Mittelalter mit Delinquenten gemacht? Man hat sie geteert, gefedert und …“ „…kastriert!“, krähte eine Stimme dazwischen. Alle lachten, auch ich. Ich hatte „gevierteilt“ sagen wollen. Ich konnte Sven beruhigen, ebenso den Rektor. In meinem Unterricht wurde niemand kastriert. Aber Teeren und Federn war ein schöner Gedanke.

Auf dem Schulhof wurde ein „Pavillon“ aufgestellt, ein Behelfsklassenraum. Als ich 1977 an die Schule kam, gab es hier 555 Schüler. Im Jahre 1988 war die Zahl durch den „Pillenknick“ auf 330 gesunken. Zehn Jahre später würde sie über 650 betragen. Die Schule platzte vor allem nach der „Wende“ aus allen Nähten, ein Anbau mit vier Klassenräumen wurde konzipiert. Ich hatte montags in der ersten Stunde Unterricht im Pavillon. Ich öffnete die Tür und hielt sie etwa zehn Minuten geöffnet, bis ich die Schüler hineinlassen konnte, denn im Innern befanden sich Schwaden irgendwelcher Ausdünstungen, chemische Reaktionen, vermutlich durch Klebstoffe hervorgerufen. Auch während der Stunde, trotz geöffneter Fenster, begann ich zu schweben, jedenfalls fühlte ich mich so. Ich habe niemals Drogen genommen, aber so stellte ich mir einen leichten Drogenrausch vor. Ich informierte den Chef. Der schnaubte kurz durch die Nase und ließ eine saloppe Bemerkung fallen. Sinngemäß unterstellte er mir eine durchzechte Nacht oder wenigstens eine blühende Fantasie. Ich gab nicht auf, denn sonntags bereits fürchtete ich mich vor der ersten Montagsstunde. Mein Mann drohte mit dem Gang in die Schule, wenigstens er nahm mich ernst. Also sprach ich noch einmal mit dem Rektor. Er schnaubte dieses Mal nicht, sondern erwähnte eine Kollegin, die nach der zweiten Montagsstunde die gleichen Symptome geschildert habe. Er ließ ab sofort den Pavillon rechtzeitig vor Unterrichtsbeginn durch den Hausmeister lüften, so dass der Montag halbwegs erträglich begann. Wochen vergingen. Ich verbrachte eine Freistunde im Lehrerzimmer, der Rektor trat ein und marschierte zum Kaffeeautomaten, schenkte sich eine Tasse ein, marschierte zurück, zögerte, schaute mich schräg an. Er brütete offensichtlich etwas aus. „Sagen Sie, was haben Sie eigentlich für ein Problem mit dem Stadtdirektor?“ Wovon redete er einmal wieder so schwammig? „Mit dem Stadtdirektor habe ich kein Problem, ich kenne ihn nur vom Namen her. Ich hatte noch nie die Gelegenheit, ihn kennenzulernen.“ – „Ach? Nun, wir hatten vor einiger Zeit ein Treffen hier in der Schule wegen des Pavillons. Bei der Gelegenheit gab ich ihm auch die Klagen über die Ausdünstungen weiter. ‚Ihre Kollegin sollte sich nicht zu früh beschweren, immerhin hat sie mich als fettes Meerschweinchen bezeichnet.‘ Was steckt denn dahinter?“ Ich kenne die Metapher, dass jemand vom Donner gerührt sein kann. „Wie soll ich ihn genannt haben?“ – „Ein fettes Meerschweinchen. Außerdem hätten Sie im Politikunterricht davon gesprochen, dass er ein junger Hüpfer sei.“ Nun fiel der Groschen. Im Deutschunterricht, soviel konnte ich klarstellen, lasen wir im Rahmen des „ZiSch“-Projektes – Zeitung in der Schule – regelmäßig eine Tageszeitung. Der neue Stadtdirektor hatte sich mit dem „Grafen“, dem Seniorchef des Kurbades, angelegt. In der Zeitung konnte man lesen, dass dieser den Stadtdirektor einen jungen Hüpfer nannte, der erst am Anfang seiner Karriere stehe und noch viel lernen müsse. Über ein Meerschweinchen stand jedoch nichts in der Zeitung. Ein mental leicht retardiertes Mädchen der siebten Klasse war eine Tochter des Schützenkönigspaares. Dieses hatte mit dem Stadtdirektor – es gab die kommunale Doppelspitze noch – Freundschaft geschlossen, sie duzten sich. Die Tochter hatte die Bemerkung vom fetten Meerschweinchen von einem Mitschüler aufgeschnappt, von wem, ließ sich nicht mehr feststellen. Fünfzig Schritte zwischen Schule und Elternhaus reichten für einen Keil, eine Göre erzählte am Mittagstisch von einem fetten Meerschweinchen, einem jungen Hüpfer und ihrem angeblichen Politikunterricht, und freudig ergriffen die reifen Erwachsenen die Gelegenheit, der allzu selbstbewussten Lehrerin eins auszuwischen. Ich kündigte dem Rektor einen Anruf bei der Stadt an. Es ging immerhin um meine Ehre. „Nein, nein, ich mache das schon“, beschwichtigte er, „ich rufe den Stadtdirektor an.“ – „Ich möchte selbst mit ihm sprechen.“ Ich ließ mir von der Sekretärin die Nummer geben. „Ist er nicht ein Freund Ihres Mannes? Ich hörte, dass er Rotarier geworden ist.“ – „Umso schlimmer finde ich es, dass er mit Ihnen gesprochen hat, nicht mit mir.“ Ich wählte, er stand daneben, seine peinlich berührte Miene sprach Bände. Die Sekretärin bedauerte, sie könne mich nicht mit dem Stadtdirektor verbinden, er sei in einer Sitzung. Wann er zu sprechen sei, könne sie schlecht sagen. Ich versprach, erneut anzurufen. Noch war ich ruhig. Gegen Mittag erfolgte der zweite Anruf, wieder war der Mann nicht zu sprechen. Es waren noch fünf Tage bis zu den Sommerferien. Ich rief jeden Tag an, jeden Tag hieß es: „Leider nein!“ mit einer neuen Begründung, jeden Tag bat ich um einen Rückruf in der Schule. Dem Chef war meine Hartnäckigkeit wohl peinlich. Am Freitag, am Zeugnistag, waren drei Stunden Unterricht. Danach rief ich ein letztes Mal erfolglos an.

Zu Hause setzte ich mich an die Schreibmaschine. Ich hatte gelernt, fehlerlose Briefe zu verfassen, was man von den zeitgenössischen Computerfreaks nicht immer behaupten kann, und ich entwarf ein Schreiben. „Sehr geehrter Herr Stadtdirektor!“ Ich benutzte das Ausrufezeichen, nicht das heute übliche Komma. Am ersten Ferientag, am Montagmorgen um neun Uhr, noch bevor ich den Brief zur Post bringen konnte, klingelte das Telefon. Der Stadtdirektor gab noch einmal die Geschichte der Göre wieder, ich stellte die Tatsachen richtig dar, verwies auf das ZiSch-Projekt und versicherte ihm, dass ich verleumdet worden sei. Ich sei erstaunt, dass er mich nicht sofort kontaktiert habe. Er bat „ganz offiziell“ um Entschuldigung. Offiziell wäre ein Schreiben an meinen Chef gewesen oder an mich über meine Dienststelle. Ich nahm jedoch die Entschuldigung an. Der Chef erwähnte den Vorfall nicht mehr, vermutlich hatte der Stadtdirektor ihn verständigt. Männer unter sich. Über mir.

Kap. 6

Der Umschwung von der Schüler- und Studentenrolle zur Pädagogin ging rasant vonstatten, zumindest wirkt es im Nachhinein so. Der erste Tag bereits als „fertige“ Realschullehrerin in meiner ersten und einzigen Schule belehrte mich über das weite Feld der pädagogischen Möglichkeiten. Der stellvertretende Schulleiter – Gott sei seiner Seele gnädig – führte mich durch die Realschule. Auf dem langen unteren Flur, von dem die Fachräume abzweigten, kam uns ein Schüler entgegen, er rannte auf uns zu, wollte und musste einen kleinen Bogen um uns ziehen, da schob der Pädagoge neben mir seinen linken Fuß zur Seite, der Schüler stolperte, fiel und schlitterte einige Meter über den Fußboden. Ich stand still und starr. „Das Rennen ist im Schulgebäude verboten.“ Immerhin unternahm er den kläglichen Versuch einer Rechtfertigung. „Das wird ihm eine Lehre sein.“ Der Mann musste wegen einer Krebserkrankung frühzeitig aus dem Dienst ausscheiden. Er war bei den Schülern nicht unbeliebt. Mir kam er als junger Mutter mit dem Stundenplan entgegen. Er meinte, es sei für mich leichter, die Familie und den Beruf unter einen Hut zu bekommen, wenn ich von den sechs Unterrichtstagen, die es damals noch gab, nur drei in der Schule verbrachte. Das bedeutete für mich als Teilzeitkraft sechs Unterrichtsstunden je Vormittag. Später zog ich weniger Stunden vor und kam lieber an jedem Tag zur Schule, denn wenn ich an drei Tagen fehlte, fehlten mir auch die Informationen über wichtige Vorgänge oder Entscheidungen. Klassenfahrten und Wandertage bedeuteten kostenlose Präsenz. Der Nachfolger dieses sympathischen Konrektors trat in seine Fußstapfen, er übertraf seinen Vorgänger allerdings in verbaler Hinsicht. „Ihr Dämlichkeiten dort hinten in der letzten Reihe, wollt ihr wohl euren Kaffeeklatsch einstellen!“ – „Wir sind keine Dämlichkeiten!“ Einige der angesprochenen Mädchen wagten den Protest. – „Ihr wisst doch: Nämlich kommt von Name, und dämlich kommt von Dame!“ – Auch dieser Kollege galt keinesfalls als unbeliebt unter den Schülern.

An meinem Tisch im Lehrerzimmer saß über dreißig Jahre lang ein unverheirateter Sonderling, ausgestattet mit einer unbändigen Lesefreude und entsprechender Bildung. Eine Bekannte suchte ein Gedicht von früher über eine Waschfrau, sie wandte sich an mich, und obwohl sie versicherte, im Internet sei es nicht zu finden, googelte ich nach dem Gedicht. Ich fand es auch nicht. Ich fragte meinen Nachbarkollegen, ob er wisse, von welchem Gedicht die Rede sei, er trug zwei Zeilen vor und fragte, ob es das richtige sei. Ich konnte es nicht sagen, da ich es selbst nicht kannte. Am nächsten Tag reichte mein Kollege mir einen älteren, abgegriffenen Gedichtband mit dem gewünschten Gedicht, von dem ich eine Kopie anfertigte. – Wenn er sich über einen Schüler ärgerte, zwickte er ihn in die Wange und bedachte ihn mit Worten wie „Bursche“ oder „Schurke“. Mädchen behandelte er vorsichtiger, verbal aber treffender, so dass manche sich beschwerten: „Der hat uns beleidigt!“ Fragte man Schüler behutsam zu seinem Unterricht aus, was man als gute Kollegin eigentlich nie machen sollte, bestätigten sie erwartungsgemäß ohne Zögern, dass dieser Mann ein guter Lehrer sei. Zum Ende seiner Dienstzeit wurde er immer sonderlicher, er nahm nicht mehr an kollegialen Treffen oder Ausflügen teil. Wenn der Chef ihm den Auftrag gab, zum Beispiel ein Verkehrssicherheitskonzept für unsere Schule zu entwickeln, erledigte er dies, allerdings nur mit ständigen nichtoffenen Bemerkungen darüber, dass er doch nur für den Papierkorb arbeite. Er hatte selten unrecht. Wenn er Geburtstag hatte, wollte ich ihm natürlich gratulieren, nicht nur, weil er mein Tischnachbar war. Er reichte mir dann den kleinen Finger und grinste: „Mehr als den kleinen Finger bekommen Sie nicht!“ Ich werde ihn nie vergessen.

Das Gedicht „Die alte Waschfrau“ stammt übrigens von Adelbert von Chamisso (1781 – 1831) und lässt sich inzwischen leicht im Netz finden, etwa bei SPIEGEL ONLINE im „Projekt Gutenberg“. Mein Geschmack ist es nicht.

Es gab einen Medienraum im oberen Teil unserer Schule. Oft fand man darin auf einem Transportwagen einen Fernseher mit einem DVD-Spieler, teils auch noch mit einem VHS-Videorekorder. Frühzeitige Organisation war wichtig. Die Tür zum Medienraum schloss ich auf, schaltete das Licht an, zog den Medienwagen zwischen anderen Geräten hervor, schob ihn vor die Tür auf den Gang, schaltete das Licht aus, schloss die Tür ab, zwängte den Wagen durch die gläserne Tür, die aus Feuerschutzgründen mit einem Federzugmechanismus versehen war, freute mich, wenn ein Schüler sich verbotenerweise blicken ließ, der mir dann gern behilflich war, schob den Wagen durch die nächste halboffene Flurtür über eine kleine huckelige Schwelle, dann in den Klassenraum hinein, ohne mit dem Scartstecker am Türrahmen hängenzubleiben, und schloss das Gerät an. Wenn alles gut ging, funktionierte es. Wenn es schlecht ging, schob ich den Wagen über alle Zwischenhalte zurück in den Medienraum, versehen mit einem „Defekt!“-Zettel. Dann informierte ich den Hausmeister, der sich um die Reparatur kümmerte. Die Pause konnte ich sowieso vergessen.

An diesem Tag ging es gut. Ich hörte jedoch gar nicht gute Töne aus der Nachbarklasse. Kollege Y. faltete einen Schüler zusammen, der es gewagt hatte, sich unter einem Tisch zu verstecken, um nicht auf den Pausenhof gehen zu müssen. Der Kollege hatte nicht gefragt, vor wem er sich mehr fürchtete als vor dem aufsichtführenden Lehrer, sondern hatte ihn am Kragen emporgezogen und ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. Ich hatte es nicht gesehen und wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Aber Schüler fragten mich: „Darf der das?“ Der Kollege wurde von den meisten Schülern als strenger, aber gerechter Lehrer bezeichnet, bei dem man eine Menge lerne. Dreißig Jahre mit ihm und neben ihm im Lehrerzimmer mussten ins Land gehen, bis ich entdeckte, dass er mein Parteigenosse war. Obwohl wir die gleichen Fächer unterrichteten, gab es keine Berührungspunkte.

Kollege Y. war zum zweiten Mal verheiratet, irgendwie gezwungenermaßen. Etwa 1988, zu der Zeit, als ich in meiner einmaligen Funktion als Lehrerratsvorsitzende meinen zweiten Chef in einer auswendig vorgetragenen Kurzrede offiziell willkommen hieß, lag die Schülerzahl auf einem Rekordtief. Gebetsmühlenartig wurde der Pillenknick beschworen. Noch schlug kein bescheuerter ehemaliger Berliner Finanzsenator vor, schwangeren Akademikerinnen 50.000 Euro Gebär-Prämie zu zahlen. Mit dem neuen Chef verband mancher der älteren Kollegen eine Versetzungsaffäre, die das Klima vergiftete und für die Beteiligten psychisch bis heute noch nicht ganz ausgestanden ist. Die Schule verfügte über zu viele Lehrerstellen. Einige mussten fallen.

Kollegin X., unverheiratet und kinderlos, arbeitete sich in das Unterrichten im „Zehn-Finger-Blindschreiben“ ein, versuchte neben ihrem Vollzeitberuf ihre Mutter mit Perfektion und Hingabe zu pflegen, übernahm schließlich auch noch die Berufswahlorientierung, um nicht versetzt zu werden, wie im Kollegium gemunkelt wurde. Engagierte Lehrer sind immer verdächtig.

Kollege Y., geschieden und so gut wie ledig, erhielt vor den Sommerferien die Anordnung der Versetzung nach Castrop-Rauxel. An diesem Tag erschien der Kollege Z. in schwarzem Anzug. „Müssen Sie zu einer Beerdigung?“, fragte ich ihn erschrocken. – „Kollege Y. heiratet, und ich fungiere als sein Trauzeuge.“ Die Braut war in einem heimischen Unternehmen fest angestellt, damit war die Versetzung des Bräutigams hinfällig. Zwei Kinder bereicherten bald die glückliche Verbindung.

Kollegin R. schäumte. „Sie haben einen gut verdienenden Mann, zwei Kinder und eine gesicherte Existenz. Warum werde ich versetzt, Sie aber werden geschont?“ Sie sprach mit einer Kollegin, die wie ich mit einem Arzt verheiratet ist. Damit war bei vielen Kollegen, vor allem den älteren und männlichen, die Neiddebatte vorprogrammiert. Ich hörte förmlich die unausgesprochene Frage, ob wir es denn nötig hätten, berufstätig zu sein. Nun wurden wir auch noch des Begünstigtwerdens beschuldigt! Ich fand es schade, dass die Kollegin mich nicht angegriffen hatte. Meine Standardantwort wäre gewesen: „Sie können nichts dafür, dass ich einen Mann und zwei Kinder habe. Ich kann nichts dafür, dass Sie keinen Mann und keine Kinder haben.“ Natürlich empfand auch ich es als bitter, dass Alleinstehende leichter zu versetzen waren und daher auch eher versetzt wurden als Verheiratete und Eltern. Bitter war auch ein uns zugemutetes Schreiben, in dem ausgewählte – von wem ausgewählte? – Kolleginnen und Kollegen begründen sollten, warum eine Versetzung für sie nicht in Frage kam. Dass einige Damen im Lehrerzimmer in ihrer Versetzungsangst hysterische Szenen inszenierten, erlebte ich selbst nicht, ich ließ mir davon erzählen. Ich schämte mich nicht, als ich schrieb, dass meine beiden Kinder an lokalen Schulen waren, dass mein Mann eine Praxis als niedergelassener Hausarztinternist betrieb und ich meinen Beruf aufgeben müsse, wenn ich versetzt würde.

Der Kollege B. allerdings, der das Hinterteil des Lehrersohnes zum Mittelpunkt eines amtlichen Vorgangs stilisiert hatte, ließ sich freiwillig versetzen und verschaffte sich damit einen kürzeren Schulweg sowie einen Karrieresprung in die Schulleitung seiner neuen Schule.

In den folgenden Jahren grassierte in immer wiederkehrenden Abständen die Abordnungsangst. Bei jedem neu eingestellten Lehrer mussten die etablierten um ihre sichere Stelle fürchten. Lehrergesundheit und Burn-out-Syndrom wurden von den Dezernaten nicht offen thematisiert. Lehrer flogen flexmittelartig und mit der pädagogischen Inkompetenz von Seiteneinsteigern in die Schulen ein und ebenso unmotiviert, da sie nur befristet arbeiteten, wieder aus. Lehrer, die den guten pädagogischen Ruf der Realschule in Jahrzehnten mitgeprägt hatten, fanden sich dreißig Kilometer entfernt an einer neuen Schule wieder, weil sie die falschen Fächer hatten, die leider nicht mehr nachgefragt wurden, etwa Französisch. Fast die Hälfte unserer Schüler, vor allem aber der Schülerinnen, erhielten zum Abschluss den sogenannten Q-Vermerk für den Besuch der gymnasialen Oberstufe. Immer weniger Schüler aber wählten Französisch, das Fach, das ihnen die zweite Fremdsprache am Gymnasium erleichterte. Denn es sprach sich herum, dass man am „privaten“ kirchlichen Gymnasium ganz leicht Spanisch als neue zweite Fremdsprache erlernen konnte. Das Städtische Gymnasium verlor zunehmend an Bewerbern. Inzwischen traf ich an ebendiesem frommen Gymnasium einen Schüler wieder, dem ich weniger wegen seiner sprachlichen Begabung als vielmehr wegen seiner sozialen Kompetenz in Deutsch kein Mangelhaft erteilt hatte. Dieser Schüler glänzte kürzlich bei einem physikalischen Wettbewerb und trug seiner Schule einen ersten Preis ein. Die Zeiten ändern sich.

Kap. 7

Manche Zeitgenossen möchte man nicht missen, einige wenige aber wären geeignet, in einer Raumkapsel zum Mars zu fliegen, ohne Rückfahrkarte. Vergleichsarbeiten in der siebten Jahrgangsstufe sollten uns Hauptfachlehrern Aufschluss darüber geben, ob die gleichen Anforderungen zu vergleichbaren Leistungen der Schüler führten. Dagegen wandte kaum ein engagierter Kollege etwas ein. Und siehe da: Die Ergebnisse wichen nur minimal voneinander ab. Die letzte Deutscharbeit in der 7 c ergab einen Durchschnitt von 2,8. Ich war selbst überrascht, doch Thema, Material und Durchführung waren wie die Bewertung mit den Fachkollegen der Parallelklassen abgesprochen.

Fünf Kolleginnen trafen sich zu einem informellen Gespräch über die angeblich unterschiedliche Leistungsmessung in den siebten Klassen. Klage führte ein besorgter Vater, dessen sprachlich mittelmäßig begabter Sohn von mir eine Drei bekommen hatte, der uns Lehrerinnen aber vorwarf, seinen Sohn und dessen Klasse im Vergleich zu den anderen schlechter zu bewerten. Der Vater durfte zu dem informellen Gespräch sogar einen Freund mitbringen, der zufällig unser Nachbar und Vater einer Tochter war, die ich nicht unterrichtet hatte.

Der Vater stellte seine Position ausführlich dar und erging sich in allgemein gehaltenen Angriffen. Auf die Bitte, doch konkrete Benachteiligungen zu nennen, geriet er ins Stottern. Nun legten wir ihm die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten sowie die durchschnittlich vergebenen Noten vor. Erstens waren die Zensuren fast identisch, zweitens hatte er vorbildlich unterrichtende Pädagoginnen vor sich, die haltlos angegriffen wurden. Es gab nicht den geringsten Beweis einer Benachteiligung irgendeiner Art.

Völlig konsterniert wandte sich der Vater dem Freund zu, unserem Nachbarn. Wir duzten uns seit der letzten Silvesterfeier. Ich konnte mir nicht erklären, welche Rolle er hier spielte, außerdem hörte ich von ihm, dass seine Tochter gerade zur Hauptschule übergegangen war. Sie war, wie ich nun auch erfuhr, mit dem angeblich benachteiligten Sohn befreundet. Mein Nachbar blickte mir nicht offen in die Augen, es war ihm ganz offensichtlich peinlich, dass er hier einen Freundschaftsdienst leisten sollte, dessen Ausgang ungewiss war.

„Diese Lehrerin hat meine Tochter als asozial bezeichnet.“

Bis hierhin hatte ich angenommen, dass ich mit seiner Anwesenheit gar nichts zu tun hatte. Plötzlich erlebte ich einen Frontalangriff. Wen hatte ich als asozial bezeichnet? Die letzte Klassenfahrt half mir ein Schulfahrtenservice zu organisieren, der auf jedem Schreiben aufforderte: „Wenn Sie zufrieden sind, sprechen Sie über uns. Sind Sie unzufrieden, sprechen Sie mit uns!“ Die Bitte ist so frappierend einfach und doch so schwer zu vermitteln, etwa an Eltern, die einem Lehrer etwas am Zeuge flicken wollen. Ich grübelte nicht lange, dann fiel es mir ein. Es war wieder ein fettes Meerschweinchen unterwegs.

Während eines weiteren ZiSch-Projekts lasen wir die NW, unsere „Zeitung in der Schule“. Im Lokalteil konnten wir die Nachricht lesen, dass in unserer Straße, in der wir und andere Eigenheimbesitzer wohnten, Sachbeschädigungen begangen worden waren, vermutlich von Jugendlichen, die alkoholisiert eine unpassende Halloween-Aktion gestartet hätten. Tatsächlich war der Bewegungsmelder unter unserem Carport aus der Halterung geschlagen worden, die Hauswand eines Nachbarn war durch Hühnereier stark verschmutzt worden, und bei einem zweiten Nachbarn waren die Täter hinter das Haus geschlichen und hatten den Bewegungsmelder, eine damit verbundene Leuchte und gleich ein gutes Stück verputzter Wand herausgebrochen. An unserem Schlafzimmerfenster war ein Ei zerschellt, ohne das Glas zu beschädigen. Irgendjemand musste Anzeige erstattet und/oder die Lokalpresse informiert haben.

Meine Schüler hatten die sensationelle Meldung entdeckt, in der unser Straßenname erschien, und in echter moralischer Entrüstung hatte ich abschließend gesagt: „Das müssen im wahrsten Sinn des Wortes Asoziale gewesen sein.“ Gute Freunde hatten meine Bemerkung offensichtlich weitergegeben, unter anderem an die Tochter des Nachbarn, die, wie sich nun während der Sitzung offenbarte, eine Mittäterin gewesen war. Nicht nur mir war dies schlagartig klar geworden. „Ich glaube, Sie sollten sich gleich eine halbe Stunde mit Ihrer Nachbarin zusammensetzen und diese Sache in Ruhe klären“, riet ihm einer der Anwesenden. Die Sitzung wurde geschlossen, zwei gestandene Väter trollten sich von dannen.

Ich bin ein friedliebender Mensch, vor allem, wenn ich beweisen kann, dass die anderen die Bösen sind. Ich setzte mich mit meinem Nachbarn eine Stunde auf meine Terrasse, und er signalisierte mir seine Dankbarkeit, weil ich auf eine Anzeige zu verzichten bereit war. Am folgenden Tag konnte ich meinen Mann nicht davon abhalten, bei diesem Nachbarn zu klingeln. Der kleine Bruder der Täterin konnte sich nicht verstellen und breitete die Schandtaten seiner Schwester vor meinem Gatten aus. Es kostete mich mehr Energie als bei der Anhörung, ihn von einer Anzeige abzuhalten. Dass das nachbarschaftliche Verhältnis dennoch auf Dauer irreparabel gestört war, versteht sich von selbst.

Nicht alle Erlebnisse ließen sich so leicht wie dieses in der Schublade mit der Aufschrift „Shit happens“ ablegen. Als ich nach einer als menschenunwürdig empfundenen Lehramtsanwärterzeit an meine Realschule kam, versuchte ich meinen Glauben an das prinzipiell Gute im Menschen wiederzugewinnen. Im Großen und Ganzen gelang mir dies. Aber immer wieder durchbrachen Stinkstiefel in Gestalt von Schülern, Eltern oder Kollegen die drohende Alltagsroutine und sorgten für spannende Momente in meinem Lehrerdasein.

Manchmal entpuppt sich ein Stinkstiefel als bemitleidenswerte Figur. Ein Junge erregte unter seinen Mitschülern Aufsehen und banges Gruseln, indem er ein Döschen öffnete und verschiedenfarbige Pillen zeigte. Die blaue sei eine Beruhigungspille, die grüne mache ihn wach, und wenn er eine blaue nehme, dann werde er bewusstlos und müsse sterben. Ich sah mir die Pillen an, sie wirkten harmlos. Wie sollte der Sechstklässler an Todespillen gelangen? Um die Lage nicht zu verschärfen, bat ich ihn, zukünftig auf derartige Aktionen zu verzichten, und nahm mir vor, ihn unter der Rubrik Wichtigtuer abzuhaken.

Dennoch beunruhigt fragte ich den Leiter des Jungenheims, in dem der Knabe untergebracht war, was er von der Aktion des Jungen hielt. Ich erfuhr, dass die Eltern sich getrennt hätten und der Vater das Sorgerecht erhalten habe. Der sei aber mit dem Kind nicht fertig geworden und habe es daher in das „Internat“ gegeben. Es sei ein schwieriges Kind und verbreite auch im Heim große Unruhe. Mein Mitleid mit dem Verstoßenen war so groß, dass ich mich ihm besonders zuwandte und ihm manches durchgehen ließ, was ich den anderen nie gestattet hätte. Die Folge war, dass ich einen ständigen Begleiter gewann und mir eine Vielzahl von fantasievollen Geschichten anhören konnte. Eines Tages informierte unsere Schulsekretärin mich auf ihre sensible Art, nämlich ohne Vorwarnung, darüber, dass der Junge sich vom Garagendach des Heimleiters aus an dem Ast einer Eiche erhängt hatte.

Kollege B. hatte gegen Springerstiefel- und Bomberjackenträger, die Ende der achtziger Jahre auch in unserem beschaulichen Badestädtchen auftauchten, ein einfaches Rezept: Man verbiete ihnen das Tragen der Stiefel, und der Spuk sei vorbei. Ich hielt ihn für zu realistisch, als dass er selbst von der Wirkung seines Vorschlags überzeugt sein könnte, aber ich erkannte sein Bemühen an, unsere Schule nach außen sauber zu halten. „Die Stiefel verursachen Streifen auf dem Fußboden, die die Putzfrauen mühsam wieder entfernen müssen.“ Die Folge seines Erklärungsversuchs war, dass die betroffenen Jungen uns mehrfach glaubhaft demonstrierten, dass die echten Springerstiefel keine Streifen hervorriefen.

Im Februar hatte es anhaltend geschneit und dauerhaft gefroren. Der Wandertag wurde dennoch durchgeführt, ein Tag, der seinen Namen damals noch verdiente, ohne Bustourismus inklusive Konsumwahn ins Fort Fun oder Phantasialand. Wir verabredeten uns um acht Uhr am Schultor. Alle waren wegen der winterlichen Witterung warm eingepackt, die meisten trugen Winterstiefel. Zwei Jungen, Zehntklässler wohlgemerkt, fielen allerdings aus dem Rahmen. Sie trugen Springerstiefel, ein Barett mit gekreuzten Schwertern – oder war es ein Totenschädel? – auf dem Kopf und Tarnkleidung, als wollten sie an einem Nato-Manöver teilnehmen. Bei mir war ein Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr zurückhaltend reagieren konnte. „Ich laufe mit euch nicht durch die Schneelandschaft, was sollen die Leute von eurer Montur denken? Also lauft nach Hause und zieht euch vernünftige Kleider an! Wir bleiben hier so lange stehen, bis ihr zurückkommt.“ Sie wohnten nur wenige Minuten von der Schule entfernt. Meine Autorität oder die Angst vor Konsequenzen reichten aus. Sie kehrten tatsächlich nach einer verhältnismäßig kurzen Zeit unauffällig gekleidet zurück.

Vor dem Osterfest, in der ersten Ferienwoche, kündigten rechte Gruppen eine Demonstration in unserer beschaulichen Badestadt gegen die Politik der Amerikaner an. Die Kirchen und demokratische Parteien riefen zu einer Gegenkundgebung mit einem Gottesdienst in der Innenstadt auf. Mit vielen guten Bekannten nahm ich an dieser Gegenkundgebung teil. Auf der anderen Straßenseite versuchte ein Grüppchen junger, schwarzgewandeter Männer wild und entschlossen auszusehen, aber die Art, wie es laienhaft gestaltete Transparente verschämt auf und ab bewegte, zeugte nicht eben von einer kraftvollen politischen Aussage. Was musste ich sehen? Meine beiden Tarnanzugschüler! Sie riefen mir betont selbstbewusst zu: „Sie stehen auf der falschen Seite!“ Ich rief freundlich zurück: „Nee nee, ich bin hier schon richtig!“ So traf ich spontan viele Vertreter der örtlichen Kirchen und ihre Schäfchen und konnte ihr Engagement schätzen.

„Vierzig Jahre Besatzung sind genug!“ Im Geschichtsunterricht meiner Zehnten saß ein Spaßvogel, der meine Toleranz einer ständigen Probe unterwarf. An guten Tagen ignorierte ich den Zwischenruf und den Rufer, denn ich sah, wie andere nur darauf lauerten, dass der Unterricht nicht nach Plan verlief. Sie lechzten nach etwas Abwechslung. Sie waren gespannt auf meine Reaktion, ob ich mich provozieren ließ oder nicht. Es hing von meiner Tagesform ab. „Was hatten die Deutschen und die Alliierten für Waffensysteme? Wie waren die Zerstörer ausgestattet?“ Der Stinkstiefel wusste über die Waffengattungen besser Bescheid als ich, er wollte mich testen. „Weißt du, ich interessiere mich nicht die Bohne für Kanonen und Torpedos. Besorge dir selbst die nötige Literatur, wenn du mehr wissen willst.“ Wikipedia gab es noch nicht. Heute würde ich sagen: „Bereite doch bitte eine Powerpoint-Präsentation vor, aber sie soll nicht länger als zehn Minuten sein.“ Ich würde die Kriterien einer guten Präsentation kurz wiederholen, und mein Herausforderer wäre gefordert. Nun aber wandten wir uns wieder der Analyse der Ursachen, des Verlaufs und der Folgen des Zweiten Weltkriegs zu. Die Spanner waren heute nicht auf ihre Kosten gekommen.

Am Montag in der zweiten Stunde stand Deutsch auf dem Stundenplan. Einer der Stinkstiefel fehlte, ich trug ihn ins Klassenbuch ein. Nach etwa dreißig Minuten klopfte er an die Klassentür, schlurfte ohne Gruß und Entschuldigung an mir vorbei. Ich pfiff ihn zurück, so lief das Spiel regelmäßig ab. Die Klasse genoss die Theaterszene jedes Mal. „Moment, komme bitte nach vorn und erkläre mir, warum du schon wieder zu spät kommst.“ Ich wusste es, er wusste, dass ich es wusste, er hatte sich weder waschen noch kämmen dürfen, weil seine Mutter ihn nach mehrfachen Weckversuchen aus dem Haus gejagt hatte. Er erhielt am Ende seiner Schulzeit immerhin den Hauptschulabschluss von uns, denn keiner der Kollegen hatte ein Interesse daran, ihn noch ein weiteres Jahr zu unterrichten.

Kurz nach der Entlassungsfeier erfuhr ich aus der Zeitung, dass einige betrunkene Jungen mit der Reichskriegsflagge um ein Haus getorkelt waren, in dem Aussiedler und Asylanten untergebracht wurden, und dass sie ausländerfeindliche Sprüche skandiert hatten. Mein chronisch unausgeschlafener Ehemaliger war unter den Randalierern und musste per Gerichtsbeschluss eine saftige Geldstrafe bezahlen. Einige Monate später bretterte ein Auto durch einen Maschendrahtzaun in den Garten eines befreundeten Arztes. Der Fahrer war angetrunken. Mein Ehemaliger hatte, tatsächlich einmal nüchtern, die Führerscheinprüfung bestanden, doch er hatte leider nicht lange den Entzug durchgehalten. Sein Führerschein wurde ihm nun wieder entzogen. Nach wie vor war ich jedoch zuversichtlich, dass auch aus diesem Jungen etwas werden würde. Es dauerte nur etwas länger.

Kap. 8

Schulfeiern wurden zu Beginn meiner Dienstzeit von Schülern, Eltern und Lehrern für unverzichtbare Veranstaltungen gehalten, auf die die Schulen aber zunehmend verzichteten. Entlassungsfeiern am Abend nach der offiziellen Zeugnisausgabe liefen zunächst züchtig und diszipliniert unter den Augen fast aller Lehrer und vieler Eltern ab. Diese Disziplin bröckelte während meiner letzten Dienstjahre beträchtlich. Nur die Klassenlehrer und einige wenige Mutige besuchten die Besäufnisfeiern, zu denen Abschlusspartys mutierten, und verließen sie, bevor es zu ungemütlich wurde. Die Eltern versuchten den Trend aufzuhalten und nahmen die Feiern auf ihre Kappe. Die Schulleitung erklärte diese Feierlichkeit zu einer nichtschulischen, privaten Veranstaltung, sodass wir Lehrer uns nicht mehr für alle Auswüchse verantwortlich fühlen mussten. Wechselseitig wurden Hallen in den umliegenden Ortschaften angemietet. Die Feier wurde zur geschlossenen Gesellschaft erklärt, die Entlassschüler durften nur noch eine begrenzte Anzahl von Gästen mitbringen und mussten sie in eine offizielle Gästeliste eintragen. Die Eltern beauftragten bald ein Security-Unternehmen mit dem Ordnungshüten, seitdem hielten sich die unangenehmeren Begleiterscheinungen zumindest in den Hallen in Grenzen. Vor einigen Jahren jedoch führte und gewann unser Hausmeister einen Prozess gegen betrunkene Partygäste, die ihn vor der Halle grundlos zu Boden geschlagen hatten.

Bei der Entlassparty Ende der achtziger Jahre, die für mich zukunftsweisend war, traten bei meiner Ankunft vor der Festhalle mehrere Jungen auf mich zu, trauermäßig schwarz gekleidet, doch mit den kennzeichnenden Stiefeln. Meine Tarnanzugjungen mit Kumpels. „Wir möchten Ihnen einmal etwas zeigen!“ Ich ging unbeirrt weiter zum Eingang der Halle. „Schauen Sie doch einmal in den Kofferraum, da haben wir ein M1-Sturmgewehr.“

War hier wieder ein fettes Meerschweinchen unterwegs? Unwirsch antworte ich, dass ich zum Feiern hergekommen sei und mich nicht für Sturmgewehre interessierte. Ich betrat aufatmend die Halle, suchte und fand den Kollegentisch. Der Herdentrieb funktioniert auch bei Lehrern. Eine Zeit lang amüsierten sich alle, bis plötzlich an der Theke ein Tumult entstand. Die Wirtin schrie einen jungen Mann mit südländischem Aussehen an, dem Blut aus dem Mund und von einer Platzwunde an der Lippe lief. Sie forderte ihn auf, sofort die Halle zu verlassen. Sollten wir, sollte ich mich einmischen? Meine Kollegen saßen und schauten unbeteiligt. Doch dann kamen Jungen aus meiner Entlassklasse an unseren Tisch. Sie erklärten aufgeregt, dass die Schwarzjacken den türkischstämmigen Jungen provoziert und dann geschlagen hätten. Rufe nach der Polizei wurden laut.

Der blutende Junge verließ den Thekenraum, wir versuchten die unterbrochene Feier fortzusetzen. Gute Laune konnte sich nur zögerlich wieder einstellen. Dann eilte die Mutter eines meiner ehemaligen Schüler herein und wandte sich an meine Kollegen am Tisch, sie bat um Hilfe. Draußen sei es zu einer Schlägerei gekommen, bei dem einen Jungen sehe es so aus, als habe er sich die Handgelenke gebrochen. Alle blickten mich an, auch die kräftigen Männer, die mich mit meinen 168 Zentimetern deutlich überragten. Ich folgte der Frau widerstrebend, als Einzige, sah vor der Halle die Jacken, auf einen der ihren einredend, und war froh, als die Frau sich anbot, den Jungen mit dem angeblich gebrochenen Handgelenk zu einem Arzt zu fahren. Ob ich mitfahren könne, wollte sie wissen. Ich lehnte es ab. Hier endete definitiv meine Verantwortlichkeit. Ich half, den Verletzten und ihren Sohn in ihr Auto zu bugsieren, was bei deren Alkoholpegel gar nicht so einfach verlief, und damit war mein Engagement zu Ende. Ich kehrte zu meinen Kollegen zurück, meine Stimmung war im Eimer, einige Kollegen brachen auf, ich verabschiedete mich ebenfalls.

Als ich aus dem Dorf herausfuhr und die Bundesstraße erreicht hatte, sah ich in einer Haltebucht einen Streifenwagen, darin zwei Männer, gemütlich rauchend.

Natürlich begegnet man in einer Kleinstadt den Eltern unserer ehemaligen Schüler, man kann es nicht vermeiden. Die fürsorgliche Mutter, so erfuhr ich von ihr, hatte ihrem Sohn nach dem Abschluss im Nachbarort eine Ausbildungsstelle als Tischler besorgt. Der Junge wohnte nach der Scheidung der Eltern auf eigenen Wunsch beim Vater in Köln. Da dieser sich aber einen Hausfreund zulegte und einen Zenclub gründete und sich nicht um seinen Sohn kümmerte, klopfte dieser eines Tages doch wieder bei seiner Mutter an die Tür. Er trug schulterlange Haare, wie sie in den Siebzigerjahren modern waren, länger als die Beatles sie trugen, die mein Vater als langhaarige Affen bezeichnet hatte. Aus Protest gegen seine autoritären Anwandlungen liefen auch meine Brüder bald mit „Pilzköpfen“ auf. Mich störten die Haare nicht, ich hatte eine auch mir unverständliche Sympathie für Schüler, die nicht in der Spur liefen, die sich individuell gaben. Doch es dauerte gerade einmal vier Wochen, da erschien dieser mit superkurzer Haartracht und erinnerte mich erneut an meine Brüder zu einer Zeit, als sie noch unmündig waren und von ihrem Erzeuger einen „Pisspott-Schnitt“ verpasst bekamen. So nannten wir die Frisur, die nur auf dem Oberkopf aus kurzen Haaren mit Scheitel bestand, während über den Ohren und im Nacken die Haut kahl rasiert glänzte.

Der bekehrte Langhaarige musste teils anerkennende, teils spöttische Bemerkungen seiner Mitschüler hinnehmen. Nach und nach erfuhr ich, dass er in der einzigen Gaststätte seines jetzigen Wohnortes von guten Kameraden mit Hochprozentigem abgefüllt und dazu überredet worden war, zum Friseur zu gehen und sich eine „anständige“ Frisur zuzulegen. Die Bomberjacken und Springerstiefel hatten ihn für sich gewonnen. Diese Art Individualität brachte meine Toleranz an ihre Grenze und sein unterrichtliches Engagement in gleichem Maße. Mit äußerstem Wohlwollen und allen zugedrückten Augen und Hühneraugen gaben wir ihm den Realschulabschluss. Die Mutter berichtete mir nun, dass sie die Nase voll habe. Jeden Morgen, den Gott werden ließ, habe sie ihren Sohn wecken, ja fast aus dem Bett ziehen müssen. Einmal habe sie ihm einen Becher kaltes Wasser über das Gesicht geschüttet, weil er nicht wach werden wollte. Sie habe ihm stets Frühstück gemacht und ihn zu seiner vier Kilometer entfernten Lehrstelle gebracht. Nun habe sie ihn aus dem Haus geworfen. Er sei volljährig und solle sehen, wie er sein Leben in den Griff bekomme.

Einige Jahre später berichtete mein Chef, er habe den Jungen auf einem Bahnhof angetroffen, kaum wiederzuerkennen, verwahrlost auf dem Boden sitzend, vor sich hin brabbelnd und mit einem Plastikbecher neben seinen Füßen. „Sie können nicht die ganze Welt retten!“ – Dieser Ausspruch meines Rektors ist in meinen Ohren haften geblieben. Aber versuchen wollte und will ich es.

Neben Abschlussfeiern waren Klassenfahrten immer wieder ein Quell der Freude. Vor der sogenannten Wende wählte ich mehrere Male Berlin als Ziel, ich ließ mich auch von murrenden Schülern nicht abhalten. Es ging mir um neue Erfahrungen für die Heranwachsenden, jeder sollte die geteilte Stadt kennenlernen, die Mauer sehen. Das Programm stellte ich mit Hilfe der zuständigen Senatsstelle zusammen, der Bund gewährte Reisekostenzuschüsse. Vor der „Wende“ war Berlin eine spannende, geschichtsträchtige Stadt. Nirgendwo konnte man Geschichte so hautnah erleben wie beim Grenzübergang in Helmstedt-Marienborn oder Drewitz-Dreilinden oder beim Besuch Ostberlins über den Checkpoint Bernauer Straße. Die fünf Tage von Montag bis Freitag reichten kaum aus, um alles Sehenswerte zu zeigen, alle kehrten reicher an Wissen und reifer durch Erfahrung wieder nach Hause zurück.

Meine Schülerin Annette wird ihre Berlinfahrt ihr Leben lang nicht vergessen. Gerade war sie mit ihren Eltern aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt und im Besitz eines gültigen amerikanischen Passes. Ich hatte das Gültigkeitsdatum des Ausweises laut Checkliste ordnungsgemäß geprüft. Die Hinfahrt war unauffällig, problemlos durfte man sie wegen der DDR-Kontrollen eigentlich nie nennen. Wir saßen manierlich im Bus, mit dem rechten Ohr dem kontrollierenden Vopo zugewandt, denn es bestand die Pflicht, für die Durchreise, den Transit, ein Passfoto zu zeigen, auf dem das rechte Ohr frei bleiben sollte. Erst als wir am Freitag auf der Rückreise waren und die bundesdeutsche Seite in Helmstedt erreicht hatten, erlebten wir die pure Staatsmacht. Da betrat ein kleiner, bauchiger Glatzentyp in westdeutscher Grenzpolizeiuniform den Bus. Er hielt die kontrollierten Pässe in dem sortierten Stapel im Arm. Der kleinere, blaue USA-Pass von Annette lag wie immer bei den Kontrollen oben auf unseren grünen Pässen. Der Grenzer nahm ihn und wedelte ihn durch die Luft. Er rief in den Bus: „Wem gehört dieser Pass?“ Ich schaute nach hinten. Annette hatte auf den hintersten Sitzen die Frage verstanden und kam rasch nach vorn.

„Junge Dame, das wird ein Nachspiel haben! Ist der Ausweis nicht geprüft worden?“ Alle Augen richten sich auf mich. Ich wunderte mich wegen der vielen Kontrollen, die der Pass ohne Zwischenfall überstanden hatte. „Natürlich habe ich ihn geprüft! Er ist doch bisher auch nicht beanstandet worden.“ Er sah mich nicht an, er fixierte Annette. „Der Pass ist gültig, aber das Visum nicht, es hätte seit vier Tagen verlängert werden müssen!“ Annette stammelte, nun mit feucht gewordenen Augen: „Aber wir haben den deutschen Pass beantragt, wir gehen nicht in die USA zurück.“ – „Das interessiert gar nicht, Sie haben sich strafbar gemacht und müssen mit einer empfindlichen Strafe rechnen.“ Annette begann zu weinen. Ich erhob mich, schob mich an ihr vorbei und fixierte nun meinerseits den Grenzbeamten. „Was Sie hier abziehen, ist wirklich die Höhe! Machen Sie meinetwegen mich an, ich habe nicht nach dem Visum geschaut, ich bin aber nur Lehrerin und keine Visumspezialistin. Machen Sie nicht das arme Mädchen an, es ist nicht verantwortlich. Macht es Ihnen Vergnügen, Schulmädchen zum Weinen zu bringen?“ – „Wenn die junge Dame uns nicht innerhalb von zwei Wochen nachweist, dass das Visum verlängert ist, wird sie ein Problem bekommen!“ Er sprach an mir vorbei Annette an, die hinter mir deutlich entspannter war, sagte unverändert barsch, wohin sie eine Kopie des Visums schicken solle, tippte an seine Mütze und verließ den Bus.

Der Fahrer hatte sich auf seinem Sitz ganz klein gemacht, als fürchtete er immer noch, in einem DDR-Gefängnis zu landen, und entfaltete sich nun wieder.

Dabei hatte die Fahrt wie jede meiner Berlinreisen mit Schulklassen ganz entspannt begonnen. Vier Kilometer vor Helmstedt waren die Businsassen ausgelassen, sangen, erzählten Witze und fragten nach der nächsten Rast, vor allem die Raucher. Dem Fahrer wurden sie zu ausgelassen, er griff nach dem Mikrofon. „So, wenn ihr gute Augen habt, könnt ihr schon die Wachtürme mit den Maschinengewehren sehen.“ Augenblicklich verstummten alle Gespräche, alle Schüler starrten gebannt nach vorn. Doch noch war gar nichts zu sehen, also entspannten sie sich wieder. Der Lärmpegel stieg wieder an. Zwei Kilometer vor der Grenze riet der Fahrer per Mikro: „Gebt den Vopos gegenüber bloß keine Widerworte, sagt am besten gar nichts!“ Die Unterhaltung war nun gedämpfter, und als die Grenzanlagen in greifbare Nähe rückten, wurde sie ganz eingestellt. Mir ging das Getue des Fahrers auf die Nerven, ich hatte die Fahrt im Unterricht vorbereitet und die Kinder angewiesen, sich möglichst natürlich zu verhalten. Die Vopos seien keine Ungeheuer, sie müssten sie ja nicht provozieren. Dumme Sprüche sollten sie sich für später aufheben. Dennoch bewertete ich positiv, dass meine Schüler beeindruckt waren, dass sich auch die Coolsten unter ihnen beeindrucken ließen. Ich fuhr nur noch einmal nach der Wende mit einer Klasse nach Berlin, denn statt des Potsdamer Platzes konnte ich der Klasse nun das Sony-Haus und den Mercedes-Bau vorführen. Natürlich freute ich mich über die Wiedervereinigung, aber Klassenfahrten wurden zunehmend zum Bustourismus und endeten im Konsumwahn. Die Zuschüsse fielen weg, und aus erschwinglichen Jugendherbergen wurden kostspielige Gästehäuser.

„Mit unserer Klassenlehrerin zu fahren ist anstrengend, sie verlangt immer von uns, dass wir auf Klassenfahrten möglichst viel lernen“, beschwerten sich Schüler bei einer Kollegin, ihrer Englischlehrerin. Ein besseres Kompliment hätten sie mir nicht machen können.

Zum Pflichtprogramm gehörte natürlich auch ein Besuch in Ostberlin. Da wir bei einem individuellen Übergang ohne Bus, also zu Fuß an der Übergangsstelle Friedrichstraße 25 Mark Westgeld in Ostgeld umtauschen mussten, fuhr ich lieber mit dem Bus und einem pflichtgemäßen Ostberliner Reisebegleiter hinüber. Dann allerdings durften wir den Bus nicht verlassen.

„Und hier sehen Sie das Finanzministerium der DDR“, erklärte die blau uniformierte Dame, unsere Stadtführerin, in einem unnachahmlichen Sächsisch und wies auf ein eingerüstetes rotes Backsteingebäude zu unserer Rechten. „Es wird gerade renoviert.“ Einige Minuten später: „Und hier sehen Sie das DDR-Kulturministerium.“ Auch dieses Gebäude ist hinter dem Gerüst nur zu ahnen. „Es wird gerade renoviert.“ Wieder einige Minuten später: „Und hier sehen Sie das DDR-Jugendministerium …“ Da tönt eine Vielzahl von Stimmen aus dem hinteren Teil des Busses: „Es wird gerade renoviert.“ Den Dialekt schafften meine vorlauten Blagen allerdings nicht annähernd. Sie waren in der Überzahl eben nur Westfalen. Ich bin zwar Niedersächsin, aber von Sachsen war vor der Wende auch Niedersachsen Millionen Lichtjahre entfernt. Die Dame war nur kurz irritiert und fuhr dann in ihren emotionslosen Ausführungen fort: „Es dürfte interessant für Sie aus dem Westen sein, dass es in der DDR keine Jugendarbeitslosigkeit gibt.“ Kurz vor der Überfahrt in den Osten hatten wir, um Fördermittel für die Fahrt zu bekommen, an einem Vortrag teilnehmen müssen. Der Westberliner Referent bereitete uns auf gewisse Manipulationsversuche der DDR-Reisebegleiter vor. Die Jugendlichen hätten in der DDR nicht wie bei uns die freie Berufswahl. Ausbildungsstellen würden zugewiesen, dadurch werde zwangsläufig die Konzentration auf attraktive Berufsfelder vermieden. Wie man es auch interpretierte: Es gab in der DDR tatsächlich keine Jugendarbeitslosigkeit. Einige Schüler bezweifelten, ob sie glücklich wären, wenn sie KFZ-Mechaniker werden wollten, aber eine Lehrstelle als Frisör zugewiesen bekämen. Da ich als Jugendliche meinen Traum, Opernsängerin zu werden und mit dem Kammersänger und Bariton Hermann Prey aufzutreten, mangels geeigneter Förderer leider aufgeben musste, konnte ich meinen Schülern hautnah beweisen, dass man in einem anderen als dem Traumberuf durchaus glücklich werden kann, wenn man es nur will.

Einmal wollte ich aber doch ausprobieren, welche Erfahrungen man als Klassenlehrer machen kann, wenn man mit seiner Klasse auf eigene Faust Ostberlin erkundet. Wir tauschten grimmig unser festes Geld in das Leichtgeld der DDR um und versuchten, die Summe auszugeben. Ich investierte einen größeren Betrag in Bücher, die in der DDR unvergleichlich günstiger zu erstehen waren als bei uns. Die Schüler kehrten mit viel DDR-Geld in den Taschen zum Treffpunkt am Bahnhof Friedrichstraße zurück. Sie kauften auch im Westen nicht unbedingt Bücher. „Hier kann man ja gar kein Geld ausgeben! Was sollen wir mit dem Restgeld machen?“, fragten sie mich, und ich zuckte mit den Achseln. Plötzlich schob sich ein Mann mit einer Einkaufstüte aus Plaste in der Hand auffällig unauffällig zwischen uns. „Wollt ihr euer DDR-Geld loswerden? Ihr dürft es ja nicht in den Westen ausführen.“ Gern schütteten alle Schüler ihr Geld in seine Tüte.

An einem Tag Ende April standen wir mit dem Bus vor dem Übergang durch die Mauer zwischen West- und Ostberlin an der Bernauer Straße. Ein Vopo stieg in den Bus, sein Kollege blieb draußen stehen. Es schneite und war lausig kalt. Ich musste verschiedene Papiere vorzeigen, die von den Westberliner Behörden penibel zusammengestellt worden waren. Meine Checkliste hatte ich mehrmals überprüft und keine Mängel festgestellt. „Und nun brauche ich noch die Kontrollnummer für den Übergang. Die finden Sie auf einem Papier mit der entsprechenden Bezeichnung.“ Ich suchte in der Mappe – es gab kein Formular mehr darin, das ich dem Mann nicht schon gezeigt hätte. „Es tut mir leid, aber das Blatt muss in der anderen Mappe liegen, und die befindet sich in unserer Jugendherberge“, sagte ich bedauernd, obwohl ich wusste, dass es kein weiteres Papier gab. Der Busfahrer verdrehte die Augen, als wollte er sagen: Typisch Lehrerin! Mit der fahre ich nie wieder.

„He, Karl“, rief der Vopo durch die offene Bustür seinem Kollegen unten vor dem Bus zu. „Die junge Dame kann die Kontrollnummer nicht vorzeigen, die hat se im Heim vergessen. Was machen wir nu? Lassen wir se trotzdem durch?“ – „Na, ja, wenn se bereit is, Schnee zu schippen?“ – „Ja, klar bin ich bereit, ich bin zu allem bereit!“, beeilte ich mich fröhlich zu antworten. Er grinste mich an. „Na, denn fahren Se mal! Gute Fahrt denn auch!“ Er sprang hinaus und winkte uns weiter. Der Busfahrer konnte es nicht fassen, dass wir problemlos nach Ostberlin hineinfahren konnten. Er fragte mich, womit ich das verdient hätte. Ich wusste es. Angstschweiß mochten auch manche Vopos nicht.

Zum Konzept einer Klassenfahrt, die ich in der 10. Klasse als Studienfahrt betrachtete, gehörte immer ein kulturelles Ereignis, ein Theaterstück. In einem Westberliner Hinterhaustheater gab es ein Stück mit dem Titel: „Ich war’s nicht, Hitler ist’s gewesen.“ Einige Schülerinnen putzten sich in der Herberge fein heraus, obwohl ich ihnen davon abgeraten hatte. Wir gingen ja nicht in die Oper. Für etliche war es der erste Theaterbesuch in ihrem Leben, und sie wollten etwas Besonderes daraus machen. Ich hatte prinzipiell nichts dagegen, wenn sie aus diesem kulturellen Ereignis ein Fest machten. Die Klasse füllte fast den gesamten Zuschauerraum aus, die Bühne war schmucklos, die Kulisse unauffällig. Die Vorführung begann damit, dass einer der Schauspieler sich vor den fünf Jungen aufbaute, die in der ersten Reihe saßen und ihre Beine mit den Springerstiefeln weit vorgestreckt hatten. Leider waren sie so spät in den Bus gestiegen, dass ich sie nicht hatte zurückschicken können. Da mussten sie nun durch, wie man in OWL zu sagen pflegt. „Ich sehe euch. Ich kann euch einschätzen. Daher gehe ich davon aus, dass ihr keinen Ärger macht.“ Ich saß weiter oben und hatte keine Chance und auch keine Lust, einzugreifen. Obwohl ich die Jungen nur von hinten sah, spürte ich ihre Spannung, ihre gestiegene Aggressivität und staunte über das geringe Fingerspitzengefühl des Schauspielers.

Eine Lore fuhr über Schienen, die ich vorher nicht als solche erkannt hatte, auf die Bühne, die Darstellerin von Eva Braun saß darin, begleitet von zwei Windhunden. Sie stieg aus, der eine Hund begann zu husten und kotzte dann auf die Bühnenbretter. Ich hatte keine Zeit, mich zu ekeln, denn in diesem Moment stieß mich mein Bruder an, der in Berlin wohnte und das Stück gern mit mir ansehen wollte. „Du, die Jungs hauen gerade ab!“ Durch das Dunkel huschten sie zum Ausgang. Ich zwängte mich aus der Sitzreihe und eilte hinter ihnen her. Mein Bruder wollte mich nicht allein lassen und folgte mir. Allen klugen Erwachsenen an diesem Abend hätte ich gern gesagt: „Die sind jung, naiv und vor allem harmlos, die tun keiner Fliege etwas, sie haben nur eine große Klappe und nichts dahinter. Ich kenne meine Pappenheimer!“ Aber es war keine Zeit mehr für diese Erklärungen.

Wir liefen an der jungen Frau vorbei, die uns hereingelassen hatte, und konnten tatsächlich die Jungen noch erreichen, sie hörten auf meine Rufe. Etwa zehn Minuten dauerte es, bis ich ihnen begreiflich machen konnte, dass sie Schwäche zeigten, wenn sie nun klein beigäben, dass sie sich zu Recht über die Worte des Schauspielers ärgerten, dass sie ihn aber bitte verstehen sollten, denn er habe sicher einschlägige Erfahrungen mit Bomberjacken und Springerstiefeln gemacht. Auch mein Bruder versprach ihnen, sich nach dem Stück sachlich mit ihnen auseinanderzusetzen und ihre Kritik anzunehmen, doch wenn sie es nicht ansähen, könnten sie sich dazu auch nicht kritisch äußern. Es seien wertvolle Erfahrungen für ihr Leben. Brav trotteten die fünf mit uns in den Hinterhof zurück, wir betraten das Theater, die junge Dame stellte sich uns jedoch in den Weg. „Sie können da nicht mehr hinein. Die Schauspieler haben sich jede Störung verbeten, und da es keine Pause gibt, haben Sie auch keine Möglichkeit mehr, das Stück zu sehen.“

Alle Einwände, dass ich als Klassenlehrerin die Aufsichtspflicht hätte, dass die Karten bezahlt seien, dass die Jungen eine Chance verdient hätten, fruchteten nicht, die junge Frau blieb unerbittlich. Also setzten wir uns vor dem Haus auf ein Mäuerchen, rauchten und unterhielten uns ganz entspannt und warteten auf die anderen, die uns schließlich über den Fortgang des versäumten Stückes informierten. Der Höhepunkt des Stückes, der sicher nicht im Drehbuch stand, war den meisten Aussagen nach ganz entschieden der kotzende Windhund. Offensichtlich glaubten nur wenige meiner Beteuerung, dass diese Szene nicht im Drehbuch vorgesehen war.

Kap. 9

Kollege Z. liebte Klassenfahrten, er stellte sich immer wieder gern zur Verfügung, wenn die mit zwei Dritteln sich in der Überzahl befindlichen weiblichen Lehrer einen Begleiter suchten. Er trank gern ein Bier oder ein Glas Wein, früher rauchte er auch, und er kam bei den Jugendlichen mit seiner kumpelhaften, humorvollen Art gut an. Er liebte es gemütlich.

Auf dem Programm, das ich allein, nur mit Hilfe der Senatsstelle zusammengestellt hatte, stand am Morgen ein Besuch der Gedenkstätte Plötzensee an, danach wollten wir das Olympiastadion besichtigen. Alle waren an Bord, nur ein Schüler stieg mit leichter Verspätung in den Bus. Wir fuhren über den Ring Richtung Plötzensee. Die Schüler wussten aus meinem Geschichtsunterricht über die furchtbare Bedeutung der Gedenkstätte Bescheid, sie kannten Filmszenen und dokumentarische Bilder und Berichte. Mir war dieser Besuch wichtig. Der Fahrer brauste mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, als ich das Hinweisschild und kurz darauf die Rechtsabbiegespur sah. „Sie müssen hier abbiegen!“ – „Ach, lass doch Plötzensee, das Olympiastadion ist für die Kinder viel interessanter“, meinte der Kollege. „Biegen Sie auf der Stelle rechts ab!“, fauchte ich den Fahrer an. Er bekam tatsächlich gerade noch die Kurve, bevor die Abbiegespur endete. Ich drehte mich wütend zu meinem Kollegen um. „Du kannst mein Programm nicht eigenmächtig abändern, schon gar nicht mit dem Fahrer irgendwelche Absprachen ohne mich treffen!“ Mehrere Schüler verfolgten aufmerksam unsere kleine Auseinandersetzung. Er antwortete kleinlaut, entschuldigte sich, aber unser Verhältnis war nachhaltig gestört. Als er abends mit dem Busfahrer und mir im Lehreraufenthaltsraum ein Versöhnungs-Bier trank und mir ein eindeutig-zweideutiges Angebot machte, versprach ich mir, dass ich mit diesem Kollegen niemals mehr eine Klassenfahrt machen würde. Ich hielt mein Versprechen.

Dabei hatte ich eine Fahrt mit ihm als Klassenlehrer, also als Leiter, nach Berchtesgaden und an den Königssee eher in guter Erinnerung. Ich konnte endlich den Berghof sehen, auf dem mein Vater angeblich einst als SS-Angehöriger für „seinen“ Führer Wache gestanden hatte. Der Besuch war so unspektakulär, wie ich es erwartet hatte. Der Berghof selbst war damals nicht zu besichtigen, die paar Meter Bunkerrest umwehten mich nicht mit irgendeinem Geschichtshauch. Spannend war die Auffahrt mit der Seilbahn. Ein Mädchen bekam am Fuße der Bahn einen Heulkrampf, es wollte sich unter keinen Umständen in einen Sessellift setzen. Zum Glück gab es noch eine geschlossene Gondel, die schließlich akzeptiert wurde.

Nach einer anstrengenden Wanderung „in die Klamm“ und um den See herum gingen wir in ein Lokal, in dem der Kollege mir ein Weizenbier empfahl. Ich hatte noch nie Weizenbier getrunken, und als der Stiefel vor mir stand, leerte ich ihn mit kräftigen Schlucken fast zur Hälfte. Das Getränk war süffig, nicht bitter, was ich am Bier auch nicht mag, und erfrischte mich wirklich. Ohne meine Einwände zu beachten, bestellte der Kollege mir ein weiteres Halbes. Ich schaffte es, auch dieses Glas zu leeren, bevor wir bezahlten, um im Sporthotel unser Abendessen einzunehmen. Ich wollte mich erheben und dem Kollegen folgen, spürte aber meine Beine nicht mehr, die Muskeln versagten ihren Dienst. Ich rief ihn, er drehte sich um. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich kann nicht aufstehen“, flüsterte ich ihm zu. „Eh, Andreas und Simon!“, holte er unsensibel mit lauter Stimme zwei Jungen heran, die das Lokal gerade verlassen wollten. Sie kehrten um, er informierte sie kurz über meine missliche Lage und forderte sie auf, mich rechts und links unterzuhaken. Sie hievten mich von der gepolsterten Sitzbank und stützten mich auf dem Weg in unsere Unterkunft. Es dauerte einige Zeit, bis ich einigermaßen sicher wieder auf meinen Beinen stehen konnte, obwohl ich völlig klar denken und sprechen und keinerlei Anzeichen für einen Schwips entdecken konnte. Schon damals hätte ich die Absicht erkennen können, die hinter der Freundlichkeit des Kollegen steckte.

In meinem weiteren Leben verzichtete ich auf jeglichen Kontakt mit Weizenbier und ebenso auf eine Wanderung in die Klamm und um den Königssee. Kollege Z. mochte gemütlich sein, aber er war ein Schisser. Auf dem Münchener Marienplatz hatten sich vor der Säule mehrere Personen zu einer Schweigedemo zusammengefunden. Sie trugen Transparente mit amerikakritischen Slogans, aber erkennbar nicht aus dem rechten Spektrum, sondern eher aus dem linken Lager. Ich trat näher, um die Informationen auf einem Standplakat zu lesen, als ein älterer Bayer schimpfend auf die Gruppe zuging und Kraftausdrücke über sie ergoss. Doch die Demonstranten schwiegen. Der Mann zog alle Register der Beleidigungen, doch er brach das Schweigen der Gruppe nicht. „Warum lassen Sie die Leute nicht in Ruhe?“, fragte ich ihn freundlich. Er fixierte mich überrascht. Bevor er mir antworten konnte, riss mein Kollege mich am Arm fort, innerhalb von Sekunden hatte er mich in vermeintlich sichere Entfernung gebracht. „Bist du verrückt, dich da einzumischen! Willst du noch Prügel beziehen? Wer weiß, wie aggressiv der Typ ist!“, zischte er und entspannte sich erst wieder, als wir außerhalb der Sichtweite von der Mariensäule waren.

München 1968. Ich stand ein Jahr vor meinem voraussichtlichen Abitur und nahm an einer Klassenfahrt nach München teil – als Schülerin. Im Zug erlebte ich die erste scheue Liebe meines Lebens, die so lange dauerte wie die Fahrt dorthin, mit Knutschversuchen hinter vorgezogenem Abteilvorhang. Im Löwenbräu versuchten meine Mitschüler sich volllaufen zu lassen. Dazu hatten sie eine halbe Stunde Zeit. Erst viel später wurde ihnen und mir klar, dass das bayrische Bier so wenig Alkohol enthielt, dass das exzessive Trinken nicht zu den gewünschten Effekten führen konnte. Alle bezogen nüchtern ihre Betten. Johanna allerdings wurde nachts von unserem Klassenlehrer erwischt, als sie von einer Spritztour zur Jugendherberge zurückkehrte und gerade durch das Fenster in unser Zimmer im Parterre steigen wollte. Derselbe Lehrer hatte unter ihrem Bett einen gläsernen Aschenbecher und einen Bierkrug mit dem Löwenbräu-Logo entdeckt. Am Morgen weckte er uns um sieben Uhr, wir mussten alle Johanna zum Löwenbräu-Haus begleiten. Der verschlafene Portier stierte uns an, er schien nicht zu begreifen, was wir wollten. „Zurückbringen wollt ihr’s? Ja, seid‘s denn narrisch? Jedes Jahr kommen uns ungefähr 2000 Aschenbecher und noch mehr Krüge abhanden, aber die haben wir längst einkalkuliert. Schleicht’s euch!“ Ich habe meinen Schülern stets meine eigenen Erfahrungen als Schülerin ausführlich geschildert. Sie sollten nicht denken, ich wüsste nicht, auf was für Ideen sie kommen könnten. Auch vor dem Konsum von alkoholischen Getränken habe ich sie gewarnt. Doch während einer der München-Fahrten, bei der wir mit drei Klassen und fünf Lehrern in Pullach übernachteten, war es ausgerechnet die bravste Schülerin ihrer Klasse, die sich von netten Mitschülern abfüllen ließ und eine ganze Nacht auf der Toilette zubrachte, mütterlich umsorgt durch eine mitfühlende Kollegin. Ein weiterer harmloser Gelegenheitstrinker schlief auf der Toilette ein, war durch kein Mittel wach zu bekommen, so dass ein Schüler über die Kabinenabtrennung klettern, von innen aufsperren und den Mitschüler mit zwei Helfern ins Bett bringen musste. Nachts kotzte er das Zimmer voll und hatte morgens nach dem Aufwachen nicht nur einen dicken Schädel, sondern auch Putzdienst, bei dem ihm keine mütterliche Lehrerin zur Seite stand.

Ich erhielt in der Pullacher Jugendherberge ein Einzelzimmer mit eigener Toilette. Aber es grenzte an die Sammeltoiletten der Schüler, die auf den Luxus eines eigenen Bades damals noch verzichten mussten. Jedesmal, wenn jemand zur Toilette ging, fiel die Tür mit einem hellen, metallischen Klacken zu, und wenn er die Toilette verließ, hörte ich in meinem Zimmer dasselbe Klacken. Auf dem Flur nächtigten in acht Zimmern jeweils sechs Schüler. Achtundvierzigmal und mehr vernahm ich das Öffnen und Schließen der Toilettentür im Verlaufe eines Abends. Um viertel nach eins war bei mir nicht wie bei den Schülern die Maß, sondern das Maß voll. Ich stürmte auf den Flur und blaffte den letzten Schüler  an, der auf dem Klo war. Er sollte den anderen Bescheid geben, dass es nur noch in den nächsten zehn Minuten gestattet war, zur Toilette zu gehen. Nach zehn Minuten herrschte auf dem Flur absolute Ruhe, nicht einmal die fremden Hauptschüler, die ein einziges Zimmer mitten auf dem Flur belegen, rührten sich noch. Beruhigt schlief ich endlich ein. Erst in späteren Jahren kamen Zweifel auf, auch bei anderen Kollegen, ob der Schlafentzug während der Klassenfahrten auch nur ansatzweise durch unseren Beamtensold abgegolten werden kann.

Am nächsten Morgen erwiderte einer der Schüler meinen Morgengruß nicht, vielmehr schaute er so wütend an mir vorbei, dass ich einfach nach der Ursache fragen musste. Es platzte aus ihm heraus: „Sie sind schuld! Ich war gestern Abend müde und schlief früh mit Kopfhörern an den Ohren ein. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich musste pinkeln und wollte die Zimmertür öffnen, um zur Toilette zu gehen. Aber die Tür ließ sich nicht öffnen, ein Schrank stand davor, den ich nicht zur Seite schieben konnte. Weil ich so dringend musste, öffnete ich das Fenster, und unter dem Einsatz meines Lebens musste ich aus dem Fenster urinieren.“ Ich fragte ihn nicht, warum er nicht das Waschbecken im Zimmer benutzt hatte. Es dauerte lange, bis ich ihn davon überzeugen konnte, dass ich zwar kein schwaches Weib bin, dass ich aber den großen Wäscheschrank, der, nun ein wenig verrückt, in einer Ecke des Flures stand, beileibe nicht vor seine Zimmertür hätte bewegen können. Ich hätte es auch niemals versucht, denn dann hätte ich mich strafbar gemacht. Niemand sollte mir jemals Fahrlässigkeit vorwerfen können. Die Hauptschüler drängten sich grinsend an uns vorbei, während wir auf dem Flur standen und angeregt diskutierten. Nun war auch dem armen lebensgefährdeten Jungen klar, wer die Übeltäter waren.

Klassenfahrten waren für uns Lehrer zwar nachts oft sehr belastend, aber tagsüber ergaben sich durchaus erhebende Momente. Ich sorgte für neue Erfahrungen. Wenn ich schon vor der Fahrt meine Mutter als Kindermädchen einhundertunddreißig Kilometer herankarren und nach der Fahrt wieder zurückbringen musste, die Gefriertruhe füllen und den Haushalt auf meine Abwesenheit vorbereiten musste, wenn ich schon Tage und Nächte mit Schülern verbringen musste, die eine Klassenfahrt für eine Wellness- und Shoppingtour hielten, dann sollten sie wenigstens ihre Nasen bis zum Anschlag in Kultur stecken. Aber ich war gewiss der neuen Zeit gegenüber aufgeschlossen, so dass der Ärger über meine autoritäre Planung sich in Grenzen hielt. Hamburg etwa war ein spannendes Ziel, ich bestimmte es und wunderte mich über die spontane Zustimmung der Klasse. Ich suchte nach einer geeigneten Jugendherberge, verwarf die in St. Georg, weil sie zu nah an der Reeperbahn liegt, und wählte etwas außerhalb die Horner Rennbahn. Wir konnten üben, mit der S-Bahn zu fahren, und nachts wagte sich niemand aus dem Haus in die Einöde. Das Programm enthielt einen der erhebenden Momente. Der NDR gestattete uns die Teilnahme an zwei Aufzeichnungen der Quiz-Sendung „Pilawa“. Die Aufregung war groß, vor allem bei den Mädchen. „Was sollen wir anziehen?“, lautete die wichtigste Frage. „Donnert euch bloß nicht auf, es bringt euch nichts, weil ihr hinter einer Barriere sitzt und die Kamera nur über eure Köpfe huscht“, riet ich den jungen Damen. Ich zeigte der Klasse Ausschnitte aus der Fernsehsendung, die meine Worte bestätigten. Ich warnte: „Wenn ihr euch zu freizügig anzieht, werde ich euch allerdings in die letzte Reihe setzen. Also verzichtet auf Spaghettiträger und zu tiefe Dekolletés.“

Wir trafen uns im Foyer der Herberge, und ich spürte meinen Blutdruck steigen. Ich sah Löckchen, kurze Röckchen, Blüschen und Highheels, schwarze Kajalringe, blutrote Kussmünder und prangende Busenfalten, dazu Jeans, die auf halber Hüfte hingen und einen Teil des Bauches unter dem knappen Top hervorblitzen ließen. Es war zu spät, um die abenteuerlichsten Kostüme wechseln zu lassen. Als wir vor die Jugendherberge traten, nieselte es sacht. Es war an diesem späten Nachmittag unangenehm feucht und kühl. Der Fußweg zur S-Bahnstation wurde durch mehrere Baustellen unterbrochen, die Mädchen stöckelten ängstlich um sie herum über den matschigen Grund. Ich konnte eine Welle der Schadenfreude nicht ganz unterdrücken. Im Studio setzten sich die Aufgebrezelten in die erste Reihe. Eines der Mädchen ermahnte ich, eine Jacke um die allzu bloßen Schultern zu legen, andernfalls müsse sie sich in die letzte Reihe verziehen. Sie folgte meiner Anweisung mit beleidigter Miene. Vor der Aufzeichnung wurden wir von einem Animateur eingewiesen, damit unser Beifall an der richtigen Stelle und laut genug bekundet wurde. Der Mann zeigte uns, wo er sitzen würde, damit wir auf ihn achteten und uns seinem Verhalten anpassten. Gespannt warteten wir auf den Beginn der Aufzeichnungen. In den großen Bildschirmen an der Deckenkonstruktion konnten wir uns selbst sehen, bevor die Kameras auf den Showmaster schwenkten. In diesem Moment entdeckte ich das Mädchen vor mir. Es hatte nicht bedacht, dass die Hüftjeans weiter herab rutschte, wenn sie sich setzte. Der Hosenbund hatte sich zudem noch von der Hüfte gelöst und präsentierte eine wunderbare AF, eine Arschfalte. Im gleichen Augenblick sah ich, dass der Kollege neben mir es auch sah und einen starren Blick bekam. Ich beugte mich nach vorn und zog vorsichtig am Bund. Olga drehte sich blitzartig um und schaute böse. Ich flüsterte ihr zu: „Olga, man sieht deinen Hintern!“ Fortan war das arme Mädchen damit beschäftigt, das knappe Blüschen über den Hintern zu ziehen.

Im zweiten Teil der Aufzeichnung mussten die beiden Kandidaten die Frage beantworten, woher der Name unseres Kaffees stammt. In der Auswahl las ich auch die Herkunft aus dem Arabischen und wusste darüber Bescheid. Nach der Sendung kam Jörg Pilawa tatsächlich zu uns. Er hatte gehört, dass eine Schulklasse unter den Zuschauern saß, und begrüßte uns herzlich. Er erfuhr, in welcher Herberge wir wohnten. Nach einigen humorvollen Fragen an die Schüler, deren Antworten natürlich auf unsere Kosten als Lehrer gingen, wollte der Showmaster wissen, wer denn über den Kaffee Bescheid gewusst habe. Ich meldete mich als Einzige. „Woher wissen Sie es?“ – „Ich bin mit einem Araber verheiratet“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ah, dann passt das ja mit der Horner Rennbahn!“ Schenkelklopfendes Gelächter rundum. Ich lachte mit.

Kap. 10

Die – versprochen! – letzte Fahrt meiner Laufbahn als Klassenlehrerin unternahm ich mit zwei Klassen und zwei weiteren Lehrern nach Köln. Wir hatten uns in der Lehrerkonferenz darauf geeinigt, die Zahl der Reisetage auf drei zu verkürzen, und zwar verbindlich für alle Lehrer. Es sollte keine Ausnahmen geben dürfen. Es gab sie natürlich nach wenigen Jahren doch. Die Sprüche „An einem Strang ziehen“ und „Alle in einem Boot sitzen“ machten die Runde in fast jeder Konferenz, doch selbst die eifrigsten Verfechter des Zwangs zur Teamarbeit weichten ihre eigene Haltung nach und nach auf. Ich stellte mir vor, dass alle an dem Strang zogen, den sie vorher einem unliebsamen Kollegen um den Hals gelegt hatten. Unter Solidarität verstand ich etwas anderes. Die Klassenlehrerin der Parallelklasse, eine noch relativ unerfahrene, aber umso selbstbewusster auftretende junge Kollegin lehnte einen Theaterbesuch ab und nahm ohne Rücksprache eine bereits gestrichene abendliche Stadtführung wieder ins Programm auf. Am Anreisenachmittag fand die erste Führung durchs Duftmuseum statt. Einer meiner Jungen benahm sich völlig uninspiriert und wurde infolgedessen von einer Angestellten hinauskomplimentiert. Zwei Mädchen erreichten das Farina-Haus mit Verspätung. Ich fand nicht heraus, was sie während der Anreise hinten im Bus konsumiert hatten, doch die Wirkung war frappierend. Eine geraume Zeit brachte die  durchschnittlich intelligente Schülerin auf der Toilette der Jugendherberge zu, bevor sie wieder zur Gruppe stieß. Noch abends fiel mir ihre stechende Fahne auf, die sie durch ein besonders intensives Parfüm zu übertünchen versuchte. Die Mischung haute mich fast um. Ein anderes Mädchen stellte in einem Konsumtempel eine Einkaufstasche mit ihrer Handtasche darin, samt Portmonee, Ausweisen, Bank- und Versicherungskarten, neben sich auf den Boden. Als es sich danach bückte, war sie verschwunden. Immerhin fand sie die Tasche bei der Suchaktion am nächsten Tag wieder, das Portmonee allerdings war leer.

Um acht Uhr begann die zweite Führung durch das abendliche Köln. „Ich begrüße Sie zu unserer Abendwanderung. Zu meiner Person möchte ich Ihnen zunächst mitteilen, dass ich Kulturwissenschaften studiert habe …“, dozierte unsere sympathische Stadtführerin und erreichte in drei Minuten, dass 80 Prozent der Realschüler ihr nicht mehr zuhörten. Die Nacht verlief erstaunlich ruhig. Die dritte Führung dieser gegen meinen Rat und Willen führungslastigen Reise fand am nächsten Morgen in drei Großunternehmen statt. Der Kollege, der auf eigenen Wunsch sein Drittel zu Klöckner-Humboldt-Deutz begleitete, klagte später über das Desinteresse der meisten Jugendlichen, obwohl ich diejenigen ausgewählt hatte, die nach der Realschule mit größter Wahrscheinlichkeit nicht weiter zur Fachoberschule oder zum Gymnasium gingen, sondern eine Ausbildung antreten würden. Die Kollegin, die ihre Gruppe zum WDR begleitet, kam zufrieden wieder heraus. Auch meine Gruppe konnte sich nicht beklagen. Ein dynamischer ehemaliger Polizist, nun beim Grenzschutz beschäftigt, der seit 2005 Bundespolizei heißt, führte uns durch den Flughafen Köln/Bonn. Da wir den inneren Bereich betreten durften, galten besondere Sicherheitsbestimmungen. Wir wurden „gefilzt“, allerdings nicht von dem mit Spannung erwarteten Nacktscanner. In einem Bus fuhr der Autorität ausstrahlende Beamte uns über den Flugplatz. Er zeigte uns aus der Nähe verschiedene Anlaufstellen, etwa eine riesige Turbine, und er verstand es, sich auf die jugendlichen Realschüler einzustellen. Er startete den Bus gleichzeitig mit einem startenden Flugzeug, um den Schülern die enormen Antriebskräfte der Maschine vorzuführen. Ich war höchst zufrieden. Die Schüler lernten gerade eine Menge, ohne es zu merken. Ein Mannschaftswagen hielt beim Einparken neben uns. Eine junge Frau stieg aus, in der Hand die Leine, mit der sie einen Schäferhund festhielt. „Das ist das Drogensuchkommando, und der Hund ist speziell für das Auffinden von Drogen ausgebildet.“ – „Können Sie ihn zu uns in den Bus holen?“, fragte ich. „Wollen Sie das wirklich? Wenn ich mit Abiturienten zu tun habe, lehnen die meistens ab.“ – „Bei uns nimmt keiner Drogen, das sind Realschüler“, sagte ich überzeugt und selbstbewusst. Er sprang aus dem Bus, und kurz danach steuerte die Hundeführerin auf uns zu. Ein sonst keineswegs auf den Mund gefallenes Mädchen, das vorn an der Tür saß, seufzte ein schwaches „Oh, nein!“ Ausgerechnet sie war das erste Ziel des Drogensuchhundes. Er schnüffelte an ihrer Wade, an ihrem Knöchel, leckte kurz an ihrer Haut und wandte sich ab. Alle lachten, meinten, er habe etwas gewittert, doch die Hundeführerin erklärte, dass der Hund sich niederlegen und mit einer Pfote kratzen würde, falls er Drogen entdeckte. Das Tier schnüffelte noch ein wenig hier und da, dann nahm die Frau ihn zurück, und unser Bundespolizist gab Entwarnung. Unser Bus war sauber.

Am Abend hatten wir die Bowlingbahn reservieren lassen. Auf der Hinfahrt kollidierte der Bus mitten in Köln beim Abbiegen an einer Kreuzung mit einem nagelneuen PKW, dessen südländisch aussehender Fahrer wohl erwartet hatte, dass ein Bus dieser Größe in der Mitte gebogen werden konnte. Wir standen lange und warteten auf die Polizei, während der PKW-Fahrer rasch einige ebenfalls südländisch aussehende Zeugen organisierte. Er war wohl juristisch im Recht, auch wenn die Schüler meiner Klasse, die hinten im Bus saßen, gesehen haben wollten, dass er hinter dem Bus gehalten und gesehen haben musste, dass er nicht neben dem Bus hätte abbiegen können, ohne von ihm gestreift zu werden. Wir wurden endlich vom zweiten Bus abgeholt und zum Bowlingcenter gebracht. Dort hatte die Parallelklasse bereits eine entspannte Stunde beim Bowling erlebt. Dank der Buschtrommeln erfuhren nicht nur die Schüler dieser beiden, sondern auch die der dritten Klasse von dem Unfall, und zwar auf dem Weg in die Bremer Innenstadt, mit dem Busunternehmer auf dem Fahrersitz. Es geht eben nichts über die Kommunikation, über Handys, i-Pods und i-Pads und Blackberrys als ständige Begleiter.

Mit dem Kollegen ließ ich mich im Gastraum vor dem unvermeidlichen Fernseher nieder und wir versuchten, den Schrecken der vergangenen Stunden mit einem Kölsch zu begießen. Der Wirt spendierte uns mitfühlend dieses Glas, als er hörte, dass wir beide ein stressiges Erlebnis hinter uns und beide noch nie Kölsch getrunken hatten. Ohne Grund gab der Kollege uns ein zweites Glas aus, und nachdem wir uns überzeugt hatten, dass die entspannte Kollegin die beiden Klassen an der Bowlingbahn voll im Griff hatte, revanchierte ich mich mit einer dritten Runde. Eine weitere Stunde verbrachten wir ohne weiteres Getränk im angeregten Gespräch mit den beiden Fahrern, die immer wieder den Unfallhergang kommentierten, während die Schüler entspannt bowlten. Um einundzwanzig Uhr endete dieses Unternehmen. In der Jugendherberge beschlossen wir drei Kollegen, an diesem Abend nicht so rigoros um zweiundzwanzig Uhr die Nachtruhe zu erzwingen wie am vorhergehenden Abend. Wir schauten in den Aufenthaltsraum, als Bistro angekündigt, dem im Hintergrund eine kleine Bar angegliedert war. Kein Schüler ließ sich blicken, obwohl im Fernseher ein Fußballspiel gezeigt wurde. Wir stellten uns in der Bar an einen Stehtisch, wir beiden Frauen bestellten einen Saft, der Kollege ein alkoholfreies Bier, und wir plauderten eine Weile. Wir freuten uns über die Regelung an unserer Schule, eine Klassenfahrt in den Abschlussklassen nur noch drei Tage mit zwei Übernachtungen währen zu lassen. Der Kollege, Jahrgang 1950 wie ich, sinnierte darüber, wie wir es „früher“ eigentlich eine ganze Woche lang ausgehalten hatten.

Gegen dreiundzwanzig Uhr schlenderten wir zum Aufzug und wappneten uns gegen den Lärm, den wir auf dem langen, geteilten Flur erwarteten. Aber überrascht stellten wir fest, dass es absolut ruhig war. Einige Schüler unterhielten sich leise. Da stürmte plötzlich ein Junge aus seinem Zimmer, gefolgt von mehr Jugendlichen, als ein Zimmer fassen konnte, und stimmte laute Schlachtengesänge für oder gegen Schalke und Bayern und Werder an. Ich hatte mich als Werderfan geoutet, betonte aber stets, dass dies ohne Fanatismus galt. Ich machte den Spaß mit, die Ruhe war vorbei, wir hüpften gemeinsam, streckten die Hände zum Himmel und sangen. Danach setzten sich einige Schülerinnen erschöpft auf den Teppichboden vor ihren Zimmertüren. In einer Aufwallung von sozialem Mitgefühl setzte ich mich dazu. Etwa nach fünf Minuten ließ ich mir von einer Schülerin hochhelfen, obwohl ich dazu auch allein in der Lage gewesen wäre, wenn auch etwas schwerfälliger. Immerhin gehe ich auf die Sechzig zu. Die Party endete hier zunächst. Einige Tage nach unserer Rückkehr sprach eine Sechstklässlerin mich an. „War Ihre Klassenfahrt schön?“ – „Ja, natürlich!“, antwortete ich gut gelaunt. „War sie wirklich schön?“, fragte sie noch einmal mit einem undefinierbaren Unterton. „Warum fragst du mich zweimal?“, wollte ich wissen. „Ich habe gehört, dass Sie betrunken waren und gegrölt haben und lallend auf dem Boden gelegen haben.“ – „Wie bitte!?“ Schockiert erfuhr ich von dem Gerücht, das im Umlauf war. Zum Glück existierte von unserer Flurparty ein Foto, das mich neben den Schülerinnen auf dem Boden sitzend zeigt, keineswegs lallend und betrunken, in diesem Augenblick auch nicht grölend. Ich versuchte mich an meine eigene Schulzeit zu erinnern, ob wir möglicherweise unseren Lehrern auch gern etwas angedichtet hatten, und beschämt dachte ich daran, wie gern ich dem Gerücht Glauben geschenkt hatte, dass unser promovierter Englischlehrer in der abendlichen Dunkelheit vor den Fenstern meiner Mitschülerinnen den Spanner gegeben hatte.

Nach der Flurparty, die auch den jungen Mann vom Nachtdienst schon auf den Plan gerufen hatte, räumten wir das Feld. Ich wartete bis gegen ein Uhr mit dem Zubettgehen, doch es blieb ruhig. Ich hörte allerdings vom Flur und den Zimmern über uns wildes Gehämmer, verschiedene Beats überlagerten sich, Füße trampelten auf den Boden und ließen die Wand neben meinem Bett erzittern, so dass es leicht vibrierte. Ich schlief dennoch allmählich ein, nachdem ich den Gedanken verworfen hatte, mich beschweren zu gehen. Meistens war es danach noch schwerer, einzuschlafen. Oben schienen keine Lehrer zu wachen, und tatsächlich erfuhr ich am nächsten Morgen beim Frühstück, dass die Kollegen der fremden Schüler alle in der Stadt einen gemütlichen Kneipenbummel gemacht hatten. Mitten in der Nacht, gegen zwei Uhr und im Tiefschlaf, weckte mich lautes Klopfen. Jemand rief immer wieder meinen Namen. Ich sprang aus dem Bett, eilte zur Tür, öffnete sie und sah mehrere Mädchen und Jungen aus meiner Klasse. Eine Schülerin sei bewusstlos zusammengebrochen, riefen sie. Ich ging betont besonnen, gegen die Panikstimmung gerichtet, zum Zimmer des betroffenen Mädchens. Auf mein Pochen gab es keine Reaktion. Ich klopfte lauter. Nichts. Nun hämmerte ich an die Tür und drohte, sie aufzubrechen, wenn sie nicht sofort geöffnet werde.

Ganz langsam öffnete sich die Tür, durch den Spalt schaute das vorgetäuscht verschlafene Gesicht eines Mädchens. „Was soll das Theater? Wollt ihr mich veräppeln?“, schimpfte ich, an das Mädchen und auch die anderen hinter mir Stehenden gewandt, die sich sensationslüstern hinter mir zusammendrängten. Ich schob mich an dem Mädchen vorbei ins Zimmer und musste dabei einige Kraft aufwenden. Was wurde hier für ein Spiel gespielt? Die angeblich Bewusstlose, nennen wir sie Silvia, lag in ihrem unteren Etagenbett, ein zweites Mädchen schaute mir von oben etwas dümmlich entgegen, die vierte Zimmerbewohnerin saß seelenruhig am Tisch! Ich schaute Silvia aufmerksam an. Ihr Lider flatterten ein wenig, aber so, als ob sie krampfhaft versuchte, tiefen Schlaf vorzutäuschen. Diese Taktik hatte ich bei meinen eigenen Kindern auch schon erlebt und war nicht darauf hereingefallen. „Machst du bitte die Augen auf?“ Sie reagierte nicht. „Silvia, versuche nicht, mich zu täuschen. Setze dich bitte aufrecht hin und sprich mit mir!“ Sie öffnete nun doch brav die Augen und setzte sich ohne jede Schwierigkeit aufrecht hin. So richtig gesund sah sie allerdings nicht aus. „Was ist los? Heraus mit der Sprache! Die anderen behaupten, du seist bewusstlos zusammengebrochen.“ – „Das stimmt nicht. Ich habe meine Tage bekommen, und wenn ich sie bekomme, ist mir immer schlecht, da musste ich mich übergeben.“ Ich blickte ihre Freundin scharf an, die mir den Weg ins Zimmer hatte verstellen wollen. „Wieso behauptest du es dann? Wieso musstet ihr mich wecken?“ Sie verteidigte sich. Sie habe es gar nicht behauptet, sie wisse auch nicht, was los sei. Die Tür stand noch offen, die Neugierigen davor hörten mit, und ein hochgewachsenes Mädchen rief empört: „Du hast mich doch mit dem Handy angerufen und mir gesagt, dass Silvia zusammengebrochen ist!“ Allmählich wurde ich richtig wütend. „Warum hast du sie angerufen und bist nicht ins Zimmer nebenan gelaufen oder sofort zu mir gekommen, um Hilfe zu holen?“ Ich erhielt nur ein verstocktes Achselzucken. Es hatte keinen Zweck, die Diskussion fortzusetzen. Ärgerlich trieb ich die versammelten Schüler auf ihre Zimmer und bat um absolute Ruhe. Es war viertel nach zwei.

Ich schloss gerade meine Zimmertür ab, als erneut aufgeregtes Klopfen ertönte, diesmal an der Tür meiner benachbarten Kollegin. Ihr Name wurde gerufen. Wir traten fast gleichzeitig auf den Flur. Auf der gegenüber liegenden Seite stand die Zimmertür offen, eines der Mädchen saß auf dem Boden, mit dem Rücken an den Türrahmen gelehnt, und machte einen etwas verwirrten Eindruck. Ihre beiden Freundinnen bewegten sich hektisch, während sie aufgeregt neben- und durcheinander berichteten, dass die Sitzende, nennen wir sie Barbara, ohnmächtig geworden sei. Ihr Bericht war nicht nachzuvollziehen, sehr emotional, die eine begann zu weinen. Meine Kollegin kniete sich neben Barbara, Schülerin ihrer Klasse, und streichelte sie mitfühlend am Arm. Sofort schoss mir durch den Kopf: Distanz! Da muss Sachlichkeit rein! Ich bat die Mädchen, ruhiger zu werden. „Lasst diese Hysterie sein! Erzählt einfach, was geschehen ist!“ Der Blick meiner Kollegin glich dem einer eingeschnappten Leberwurst. Inzwischen füllte sich der Flur wieder. Die Nachtruhe war hin. Barbara zeigte mir nun eine kaum tastbare Beule am Kopf, am Hinterkopf, ziemlich weit oben unter dem Scheitel. Ich vermutete, sie hatte geschlafen, wachte auf, richtete sich auf, vergaß das Etagenbett der Jugendherberge und stieß sich beim Aufstehen den Kopf. Wenn sie gefallen wäre, hätte sie eine andere Beule, jedenfalls ergab die Schilderung ihrer Freundin keinen Sinn. Sie konnte nicht sagen, ob Barbara im Stehen oder im Sitzen umgekippt war, ob sie nach vorn oder nach hinten gekippt war, also nahm ich an, sie war überhaupt nicht umgekippt.

Das Mädchen saß nach wie vor am Boden, meine junge Kollegin tätschelte ihr nach wie vor den Arm. Plötzlich schaute sie zu mir hoch und fauchte: „Wenn die hysterisch sind, bin ich es auch!“ Was sollte das denn werden? Ich holte tief Luft, zwang mich zur Ruhe und wollte gerade sagen, dass wir die Versammlung auflösen und endlich schlafen gehen sollten, da kam der junge Nachtwächter auf den Flur. Er schaute auf die beiden hinunter und fragte, was los sei. Meine Kollegin berichtete, das Mädchen sei ohnmächtig gewesen, was nach wie vor nicht bewiesen war. Sie fühlte sich offensichtlich mit der Situation überfordert. Ohne Grund, da die Situation absolut nicht mehr kritisch war, sagt sie: „Ich glaube, wir sollten den Notdienst rufen.“ Der junge Mann zückte sein Handy, wählte die Notrufnummer, sprach einige Sätze und sagt dann: „Er kommt gleich.“ Nun saßen und standen wir ziemlich ratlos und unbehaglich da, und die Kollegin sah mich von unten an und sagte halb fragend: „Da habe ich wohl überreagiert.“ So war es. Zwei Rettungskräfte betraten den Flur, je eine Notarzttasche in der Hand, eine junge Frau und ein Mann, der sich im Hintergrund hielt. Die Frau befragte Barbara, die klare und kurze Antworten gab. Sie wisse nicht genau, was geschehen sei. Nein, ihr sei nicht übel. Nein, sie habe keine Kopfschmerzen. Die Frau bat die Freundinnen, für Barbara etwas zum Anziehen zu holen, es sei kalt draußen. Die beiden brachten eine Jacke, hielten sie Barbara hin. Im Sitzen zog sie die Jacke an. Eine Mitschülerin reichte ihr die Socken. Ohne Koordinationsprobleme zog Barbara die Socken an. Die zweite brachte knöchelhohe Schnürschuhe. Immerhin hatten wir Ende September, die Nächte wurden kühler. Barbara schlüpfte ruhig in den linken, dann in den rechten Schuh. Ich überlegte, ob ich ihr beim Schnüren helfen sollte, doch sie schnürte bereits seelenruhig einen Schuh nach dem anderen zu und band die Schleifen. Die besorgten Freundinnen standen daneben und schauten seelenruhig zu. Was für ein Affentheater!

Die junge Kollegin hatte sich inzwischen selbst umgezogen. Sie wollte selbstverständlich mit ins Krankenhaus fahren. Ich löste die Flurversammlung zum wiederholten Mal auf und machte noch einen Rundgang durch die Zimmer, um zu schnüffeln, ob nicht irgendwo sich der Anflug einer erneuten Störung zeigte. Dabei entdeckte ich, dass ein Schüler fehlte. Nennen wir ihn Ahmad. Er hat einen Migrationshintergrund, seine Eltern stammen aus Tschetschenien. Ich wurde in verschiedene Zimmer weitergeschickt, wo er sich angeblich aufhielt. Ich fand ihn nicht. Ich fand nur einen Schüler, der sich gerade über der Toilettenschüssel die Seele aus dem Hals kotzte. Er tat mir nicht leid. Ich wollte mich auch nicht um ihn kümmern, sondern gab seinen Zimmerkollegen einen entsprechenden Auftrag. Am Morgen nach der kurzen Nachtruhe traf ich Ahmad vor dem Frühstücksraum und stellte ich ihn zur Rede. Er könne mir nicht sagen, wo er gewesen sei. Na, prima! Ich vermutete wie einige der Mädchen, die er nicht unter seiner Fuchtel hatte, dass er in der Raucherecke vor dem Haus möglicherweise seine Shisha geraucht hatte, die mitzunehmen ich ihm im Vorfeld der Fahrt eindringlich verboten hatte. Seine „Freunde“ beteuerten später, er habe bei meinem Kontrollgang in seinem Bett gelegen, verdeckt von einem der Jungen. Wer es glaubt, wird selig.

Im Foyer der Herberge erwarteten die beiden Klassen mich, auch die Busfahrer wollten wissen, wie es nun weiterging. „Natürlich führen wir das Programm wie geplant durch. Wir besichtigen das Rhein-Energie-Stadion. Meine Kollegin wird sich melden, sobald sie kann, da bin ich sicher. Sie kann mit dem Taxi nachkommen.“ – „Sie müssen noch ein EKG bei Barbara machen und warten, was die Blutanalyse ergeben hat“, sagte eine der Freundinnen, die sich nachts so fürsorglich um Barbara gekümmert hatten. „Woher weißt du das?“, fragte ich erstaunt. „Ich habe unsere Klassenlehrerin angerufen!“, sagte sie stolz darauf, dass sie mit ihrem Handy umgehen konnte. Mir fiel ein, wie schnell die Nachricht von dem Busunfall im einige hundert Kilometer entfernten Bremen bei der dritten Parallelklasse angekommen war. „Du hast im Krankenhaus angerufen?“ Ich konnte es nicht glauben. „Hat dich irgendjemand darum gebeten?“, fragte ich wütend. „Hast du einen winzigen Moment daran gedacht, dass es nicht deine Sache ist? Im Krankenhaus sollten außerdem Handys ausgeschaltet bleiben!“ Das ging eher gegen die Kollegin. Selbst im Grab würden demnächst noch Handys klingeln, da war ich mir sicher. Selbst im Tod würde man noch zur Buschtrommel greifen, und wenn auch nur, um als letzte Nachricht den eigenen Tod mitzuteilen. Letale Kommunikation. Kommunikationsexitus. Ich kochte. Der gutbezahlte Facharzt und zwei weniger gut bezahlte Assistentinnen klebten die Elektroden auf die Haut der Schülerin, während diese entspannt mit ihrer Freundin per Wischerhandy kommunizierte. Die Rechnung beglich die soziale Kasse, gespeist aus den Beiträgen der Arbeitnehmer. Sie sah, dass ich wütend war, begreift aber offensichtlich nicht den Grund. Ein Begriff wie Eigenmächtigkeit war ihr wohl auch nicht bekannt, Autorität schon gar nicht. Spontane Entscheidungen sind das Vorrecht der Jugend, und wenn man sie zur Rede stellt, folgen stereotype Äußerungen, die mit „Ich wollte doch nur …, ich habe doch nur …“ beginnen.

Ich frühstückte nun erst einmal geruhsam, ignorierte die heimlichen Blicke und das Tuscheln der Zicken und organisierte das Auschecken, wobei der dritte Kollege sich ohne Absprache einmischte. Er meinte es auch nur gut. Als wir gerade die beiden Busse besetzt hatten und losfuhren, rief meine Kollegin mich an. Sie werde mit dem Taxi zum Stadion kommen, wir sollten unbedingt auf sie und Barbara warten, beide wollten die Führung mitmachen. Wie bitte? Da verbringen die beiden auf Krankenkassen- und auf Staatskosten eine feudale Nacht im Krankenhaus und wollen ihren Feudalurlaub mit einer Stadionführung krönen, statt, wie es sich gehört hätte, kränkelnd im Krankenhaus oder wenigstens im Bus auf die Heimreise zu warten!? Ich hätte platzen können vor Wut. Aber ich zwang mich zu einer gleichmütigen Miene. Die letzte Klassenfahrt in meinem Dienstleben hatte ich mir durchaus positiver vorgestellt.

Der Schüler Ahmad war an der schlechten Stimmung mindestens zweifach beteiligt. Am ersten Abend verließ er ohne Erlaubnis während der Stadtführung die Gruppe, um sich in einem Fastfood-Restaurant etwas zu essen zu besorgen. Leider entging mir sein Fehlen nicht. Ich ließ ihn von zwei Jungen zurückholen und stellte ihn zur Rede. Vorwurfsvoll blickte er mich aus verkniffenen Augen an und verteidigte sich: „Ich hatte Hunger!“ – „Wir kommen gerade vom Abendessen, wie kannst du da schon wieder hungrig sein?“ Immer noch vorwurfsvoll antwortete er: „Im Essraum der Jugendherberge konnte ich nicht essen, da wurde ja Schweinefleisch ausgegeben!“ Mein Mann ist Muslim, aber nicht radikal. Ich kenne mich mit muslimischen Bräuchen aus. Vielleicht war ich deswegen zu Ahmads Klassenlehrerin bestimmt worden. „Das musstest du ja nicht essen, es gab eine abgetrennte Theke mit vegetarischem Essen, außerdem sechs verschiedene Salate und fünf Desserts. Erzähle mir nicht, dass nichts für dich dabei war!“ Bereits mehrfach hatte Ahmad die Schule aufgemischt, im zweiten Jahr wechselte er auf Betreiben seiner Eltern, die trotz ihrer bevorstehenden Einbürgerung überall Verrat in Form von Ausländerfeindlichkeit witterten, die sechste Klasse. Mehrere Klassenkonferenzen mussten sich mit seinem ungehörigen Verhalten und seinen Verstößen gegen die Schulordnung befassen. Er versuchte in jeder Klasse, die Schüler unter Druck zu setzen: „Ihr müsst mich unterstützen, denn ihr seid meine Mitschüler!“ Bis zur zehnten Klasse hatten die Mitschüler mit Hilfe der Lehrer und der Schulleitung gelernt, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Er brachte die Mädchen unlängst zum Kreischen, indem er ihnen beschrieb, wie nach muslimischem Brauch Tiere geschächtet werden, sodass sie von mir wissen wollten, was ich davon hielte. Ich antwortete ehrlich, dass ich das Schächten ohne vorherige Betäubung für Tierquälerei halte. Ahmad nahm ich mir vor, um ihm gehörig die Leviten zu lesen. Er fühlte sich völlig zu Unrecht gerügt. Im Angesicht des Kölner Doms kündigte ich nun Ahmad an, ich würde seinen Eltern wegen des Verlassens der Gruppe eine Mitteilung, einen Tadel schreiben. Patzig antwortete er, das solle ich nur, das sei ihm egal. Dass er den vor der Fahrt unterschriebenen Schülervertrag gebrochen hatte, juckte ihn nicht. Er bestätigte meine Ansicht, dass diese Verträge kein pädagogisches Konzept ersetzten. Auch ohne den Vertrag müsste ich nun pädagogische Konsequenzen erwägen. Die Pädagogik war lediglich durch einen Verwaltungsakt umständlicher geworden.

Am zweiten Tag fiel Ahmad wiederum anlässlich der warmen Abendmahlzeit auf. Die Tafel im Foyer der Jugendherberge, die in allen Aspekten tadellos geführt wurde, führte in der Speisekarte die Wahlmöglichkeiten zwischen den „normalen“ und vegetarischen Menüs auf. Es schmeckte allen – außer Ahmad. Er hatte sich den Teller randvoll mit schweinefleischfreiem Putencurry und Spätzle geladen, probierte eine Gabelspitze voll und schob angewidert den Teller von sich. Dann stand er auf, nahm mit spitzen Fingern den Teller und schüttete den gesamten Inhalt in den Restebehälter. Mir fiel ein, dass er nach einer Wanderung im Sommer den Grill mit riesigen Steaks belegte, nachdem er ihn gründlich gesäubert hatte, obwohl der Besitzer betonte, er habe den Rost extra seinetwegen lange geschrubbt. Alle mussten warten, bis Ahmads Fleisch gegart war, erst dann durften sie ihre Würstchen aus Schweinefleisch grillen. Seine Sympathiewerte waren auf einem Tiefpunkt angelangt. Möglicherweise fehlte ihm in der Jugendherberge der gewohnte Fleischkonsum. Er bestätigte als Sohn eines „Hartz-vier“-Vaters meine regelmäßigen Beobachtungen, dass gerade Kinder weniger begüterter Eltern während der Klassenfahrten die größten Ansprüche an die Mahlzeiten stellten. Ahmad selbst antwortete auf meine Frage, ob seine Eltern sich die Klassenfahrt leisten konnten, denn ich wusste, dass er noch drei Geschwister hatte: „Meine Mutter geht putzen. Mein Alter hat keine Lust zu arbeiten.“

Als er auf Wunsch seiner Eltern ein Vierteljahr vor dem Abschluss noch einmal die Klasse wechselte, da ich eine Rassistin sei, wie er sagte, kam der Klassensprecher seiner neuen, dritten Klasse zu mir und meinte, Ahmad solle sich nicht einbilden, dass er ein Abschluss-T-Shirt bekomme. Ich bat ihn, keine unnötige Spannung zu erzeugen. Der Junge tat mir leid. Zwei Jahre später klingelte mitten im Unterricht ein Handy, obwohl die Schüler wussten, dass Handys laut unserer Schulordnung nicht aktiv sein durften. „Das wird Sie interessieren,“ grinste der Schüler. „Es geht um Ahmad!“ Meine Neugier siegte. Ein früherer Schüler, der in einer Großküche eine Ausbildung als Koch absolvierte, berichtete mir, dass Ahmad mit ihm arbeite. Ahmad ließ mir schöne Grüße ausrichten! Nein, er wolle nicht Koch werden, sondern müsse eine Vielzahl von Sozialstunden ableisten. In den meisten Fällen wird aus den Jungen etwas, die in der Schule aufgefallen sind. Ich hoffte nur, er kam mit dem Zubereiten von Schweinefleisch klar.

Kap. 11

Erziehung ist ein Geschäft, für das man einen langen Atem braucht. Ich wunderte mich, wie es die an unserer Schule bekannte baptistische Familie mit fünfzehn Kindern fertig brachte, höfliche, anständige, fleißige Jugendliche heranzuziehen. Weil sie abends zusammensaßen und lasen oder bastelten? Weil sie keinen Fernseher besaßen? Weil sie inzwischen als Zugeständnis an moderne Kommunikation einen Computer hatten, aber nicht ins Internet gelangten? Oder weil sie rigoroser erzogen wurden? Die Ablehnung des Sexualkundeunterrichts hat schon manche baptistische Familie ins Ausland getrieben, in Länder, in denen die Sexualkunde nicht verpflichtend im Curriculum steht, in denen die Eltern mehr Mitsprachemöglichkeit bei den Lerninhalten haben als bei uns. – Wenn die Kleidung Ausdruck beginnenden sexuellen Verhaltens ist, trugen etliche unserer Schülerinnen ihre Pubertät öffentlich zur Schau. Eine unserer Neuntklässlerinnen, nennen wir sie Carina, begegnete mir im Foyer der Schule, in dem ich als Aufsichtsperson tätig wurde. Sie trug eine modische, helle Sommerhose, deren Bund auf halber Hüfthöhe lag. Etwa fünfzehn Zentimeter Bauchzone waren zu sehen, darüber ein knappes Top, das ihre schon recht weit entwickelte Brust betonte, mit einem ziemlich tiefen Dekolleté zwischen den Spaghettiträgern. „Hallo, Carina“, erwiderte ich ihren höflichen Gruß und fügte schelmisch hinzu: „Na, du siehst ja aus, als ob du zum Strand wolltest.“ Ich verabscheue BFs und AFs, Busen- und Arschfalten, bei Schülerinnen. Ein Physiklehrer kam auf uns zu. „Was haben Sie gegen meine Kleidung?“, fragte sie mich schnippisch. „Wenn du im Urlaub wärest, würde sie mich nicht stören, aber hier in der Schule möchte ich eigentlich nicht so viel Brust sehen.“ Das Mädchen zog blitzschnell vor meinen und den Augen meines Kollegen das Top nach oben und legte die Brust frei. Immerhin trug sie darunter noch einen knappen, trägerlosen Büstenhalter. Aufreizend hüpfte sie zur Tür und verschwand unter den Schülern im Pausenhof.

Mit hundertprozentiger Sicherheit stammte diese Schülerin nicht aus einer baptistischen Familie. Es lebe die Freizügigkeit? „Wir sind ein Haus des Lernens und nicht ein Haus des Knutschens!“, lautete mein Standardsatz, wenn ich während der Pausenaufsicht knutschende Schüler erwischte. „Auseinander! Halbzeit!“, lautete meine erbarmungslose Aufforderung. „Was haben Sie gegen das Knutschen?“, versuchten immer wieder größere Schüler mich in eine Diskussion zu verwickeln. „Ich habe nichts gegen das Knutschen, aber es gehört nicht in die Schule. Nachmittags könnt ihr knutschen bis zum Umfallen, aber nicht hier. Sonst verlangt ihr demnächst noch, dass ich euch ein Bett auf den Schulhof stelle.“ – „Sie sind ja nur neidisch!“, meinte eine vorwitzige Zehntklässlerin. „Stelle dir vor, ich würde mit meinem Mann bei euch auf dem Schulhof stehen und knutschen. Wie fändest du das?“ Diese Vorstellung brachte sie nun doch zum kräftigen Lachen. Die häufigste Klage von Seiten der Lehrer ging und geht immer noch dahin, dass ein Lehrer eher Erzieher und Sozialarbeiter als ein Fachunterrichtender ist. Wie alle Verallgemeinerungen ist diese Klage sehr subjektiv, aber deshalb nicht völlig unberechtigt. Als ich in den Siebzigerjahren nach dem Staatsexamen an meine erste Schule kam, hatte ich meine eigene strenge Erziehung in Elternhaus und Schule noch auf der Seele liegen. Ich war erwachsen, aber meine Vorstellungen von meinen kommenden pädagogischen Leitlinien und den Erwartungen der pädagogisch Verantwortlichen in Politik und Schulpolitik waren noch sehr diffus. Ich sah mich eher auf der Seite der zu Erziehenden, lange kam ich nicht vollständig auf der Seite der Erzieher an, empfand dies aber nicht als Mangel oder Makel. Ich sah viele Schulprogramme kommen und gehen. Während meiner Studienzeit in Münster und der Lehramtsanwärterzeit in der tiefsten ostwestfälischen Provinz war Klafki der große Didaktikpapst. Seine bildungstheoretischen Ansätze konnte ich nachvollziehen, seine praktischen Ansätze gefielen mir und überzeugten mich davon, den richtigen Beruf gewählt zu haben. Die Richtlinien ließen mir ausreichend inhaltliche und pädagogische Freiheiten. In der ostwestfälischen Provinz war Klafki noch nicht angekommen. Die im Hauptseminar vermittelte Didaktik konnte ich als Anfängerin an meiner Ausbildungsschule nicht umsetzen. „Kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen modernen Theorien“, sagte mein väterlicher, durch und durch christlicher Mentor, „ich lehne das neumodische Zeug ab.“ Sein Unterricht war so, wie meiner nicht sein durfte und sollte. Im Geschichtsunterricht hörte er sich eine Hausaufgabe an und kommentierte sie selbst, notierte sich eine Zensur, dann erzählte er hinreichend lebendig zwanzig Minuten lang, für zehn Minuten beantworten die Schüler seine Fragen zum Erzählten, es folgte die Hausaufgabe. „Die Hauptsache ist: Ruhe, Ruhe, Ruhe!“, erklärte er mir. Ich war auf ihn, auf sein Wohlwollen, sein Entgegenkommen angewiesen, außerdem war er zwanzig Jahre älter als ich, also verkniff ich mir jede Bemerkung. Ich war jung, ich wollte Leben in der Bude. Ich hätte bei meinem ersten Betreten der Schule gewarnt sein müssen. Im kleinen, lichtdurchfluteten Foyer war ein Berg aus Pappmaché aufgebaut, darauf tummelten sich verschiedene Hexenwesen oder schwebten als Mobile über einer Brocken-Szene. Im oberen Flur hatten die Klassen selbstgestaltete Plakate an den Wänden befestigt. Sie trugen die Überschrift „Hexenverbrennung im Mittelalter“. Im Deutschunterricht der Klasse acht behandelte der Fachlehrer Adjektive, ihre Herleitung und Steigerung am Beispiel eines Textes mit dem Titel „Hexenverbrennung im Mittelalter“. Lemgo war in erreichbarer Nähe. Hier, so erzählte mein Geschichtsmentor, sei noch im 18. Jahrhundert die letzte Hexe verbrannt worden. Ich überprüfte nicht, ob diese Aussage stimmte, weil ich durch diese eigentlich moderne Projektarbeit mit dem alten Thema das Interesse verlor. Die gleiche Symptomatik stellte ich bei einer Vielzahl der Schüler fest. Aber es herrschte Disziplin.

Mein Deutschmentor sollte um acht Uhr da sein. Ich saß wie die Klasse ruhig auf meinem Stuhl, an der Rückwand des Klassenzimmers, und wartete auf ihn. Um viertel nach acht saßen wir immer noch und warteten. Um fünf nach halb neun öffnete sich leise die Tür, er huschte herein, sah etwas verquollen aus, war aber munter und energisch. Zügig wurden die Hausaufgaben abgehandelt, zügig wurden die Steigerungsformen der Adjektive geübt, übrigens ohne Hexenverbrennung, dann folgte ein kurzes Diktat, das ich am Ende der Stunde zur Korrektur mitnehmen durfte. Ich war erfreut. Ich staunte. Er erkannte den Erklärungsbedarf. „Ich komme mit der Klasse prima zurecht. Wir haben uns darauf geeinigt, dass alle mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen bleiben, wenn ich nicht gleich komme. Sie werden es noch selbst feststellen: Es fällt einem von Jahr zu Jahr schwerer, sich zur Schule zu begeben. Ich freue mich schon auf meine Pensionierung. Dann kann ich endlich meinen Traum verwirklichen, nämlich Schafe zu züchten.“ Verulkte er mich? Ich als Bauernkind war so begeistert davon, dass ich Lehrerin werden durfte, dass ich nie im Leben Schafe züchten wollte.

Der Fachleiter für Geschichte unterrichtete an einer anderen Realschule. Er wies uns Lehranfänger auf den Spagat hin, der uns bevorstand. Wir sollten moderne Lehrmethoden einüben und mussten doch mit den alten Zöpfen versöhnlich umgehen. Die alten Zöpfe saßen im Lehrerzimmer meiner Ausbildungsschule rund um einen langen Tisch. Jeder Platz war besetzt, der Schulleiter-Direktor wies mir einen Platz in der Bibliothek zu, einem Nebenraum oder besser einer Nische neben dem Lehrerzimmer. Auch durch die geöffnete Tür konnte ich kaum Kontakt zum Kollegium halten. Setzte ich mich einmal neben meinen Mentor, dauerte es nicht lange, und ich musste meinen Platz für einen altgedienten Kollegen räumen. Der Mentor folgte mir nicht in meinen Raum. Mein zukünftiger Mann studierte noch in Münster. Ich beging jedes Wochenende Landflucht und kehrte, wenn es mein Stundenplan zuließ, erst am Montagmorgen zurück. Doch die Rechnung meines Wirtes sah anders aus.

„Ich möchte Sie bitten, bereits am Sonntag aus Ihrem Wochenende zurückzukehren. Wenn am Montagmorgen ein Kollege ausfällt, brauche ich Sie als Feuerwehr.“ Zu allem Überfluss wohnte er im Haus neben mir. Das konnte ich nicht wissen, als ich die Dachgeschosswohnung in dem gemütlichen Einfamilienhaus mietete. Ich konnte auch nicht wissen, dass er nicht nur katholisch und konservativ, sondern auch nationalistisch eingestellt war. Darum sah ich es als gerechte Strafe an, dass eines seiner fünf Kinder später einen indonesischen Partner fand und ihn auch gegen den Zorn des Vaters ehelichte. Es musste Leben in die Provinz. Von wegen Ruhe!

Am Sonntag kehrte ich brav von Münster nach Ostwestfalen zurück. Am Sonntagabend klingelte das Telefon, meine Vermieterin rief mich herunter. Handys gab es 1974 noch nicht. Unten an der Treppe erfuhr ich durch den Hörer, dass ich in der ersten Montagsstunde als Feuerwehr einspringen sollte. Brav fuhr ich zur ersten Montagsstunde. Eine weitere Stunde stand auf meinem Plan, ich hatte für meinen Mentor einen Entwurf angefertigt. Der Direktor rief mich zurück zum Lehrerzimmer. Ich sollte einen kranken Kollegen in einer fremden Klasse vertreten. „Aber ich habe die nächste Stunde Geschichte nach Plan in der 8 b und die Stunde geplant. Der Kollege rechnet mit mir.“ – „Er weiß Bescheid, er schüttelt eine Stunde aus dem Ärmel.“ Aber ich doch nicht! „Also gehen Sie in die 7 a.“ Ich widersprach nicht mehr. Im Laufe der nächsten Monate sprang ich sogar gern ein, weil ich in diesen Stunden allein in den Klassen war und nach Herzenslust das Unterrichten probieren konnte. Wenn etwas in die Hose ging, merkte es niemand und es schadete mir nicht. Wenn etwas gelang, konnte ich es konservieren. Anders als meine Anfängerkollegen in der Großstadt hatte ich keinen, der mir seinen Entwurf zum geschickten Kopieren überließ.

Der Mentor sprach mich wegen einer Schülerin an, die in allen Diktaten in diesem Schuljahr eine Sechs geschrieben hatte. „Ihre Eltern gehören zu den Alteingesessenen, sie haben einen großen Gartenbetrieb aufgebaut und wenig Zeit für ihre Tochter, die den Betrieb einmal übernehmen soll. Könnten Sie ihr nicht Nachhilfe geben?“ Damals durften noch Diktate als Klassenarbeiten geschrieben werden. Ich liebte Diktate. Auch Grammatikarbeiten waren in Deutsch noch möglich und üblich. Wenn man wie ich das Große Latinum hatte, bereitete die Grammatik keinerlei Probleme. Mit der Dreizehnjährigen ging ich drei Wochen lang alle Rechtschreibkapitel des Sprachbuchs durch, das getrennt vom Lesebuch eingeführt worden war. Sie machte einen aufgeweckten, aber verunsicherten Eindruck. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass nur die Übung sie sicher machte. Sie begriff und schrieb im nächsten Diktat eine glatte Drei. Außer dass ich zutiefst mit meinen didaktischen und pädagogischen Fähigkeiten zufrieden war, brachte mir jede Nachhilfestunde drei Mark ein.

Mein Geschichtsmentor lud mich ein, ihn und seine Klasse auf einer Tagesfahrt zu begleiten. Wir fuhren an einen flachen See, der ideal zum Baden war, wo sich die Schüler in der sommerlichen Gluthitze abkühlen konnten. Niemand fragte uns, ob wir einen Rettungsschwimmerschein hatten. Im Bus entwickelte sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich der Mentor immer mehr in Rage redete, je mehr ich argumentierte. Es ging um Demokratie und Sozialismus. Ich war Demokratin, aber ich wusste bis dahin eigentlich nur theoretisch, also nicht konkret, was ein Sozialist ist. Ich empfand allerdings die Argumentation meines Mentors als unsachlich und argumentierte dagegen, eher aus formalem als aus inhaltlichem Interesse. Schließlich würgte er das Gespräch ab: „Demokratischer Sozialismus ist ein Widerspruch in sich!“ Er wendete sich dem Busfahrer zu und verwickelte ihn in ein belangloses Gespräch. Meine Naivität war erstaunlich. Keinen Gedanken verschwendete ich daran, dass er den Direktor informieren könnte, Petzen gehörte für mich in die Kiste mit dem moralisch Verwerflichen, ich stellte mir nicht vor, dass ich am Ende meiner Anwärterzeit von beiden beurteilt und eventuell verurteilt werden konnte. Ich trat selbstbewusster auf, als gut für mich war.

Ein Kollege wandte sich in der großen Pause an mich, er war Mathematiklehrer und Bürgerschütze, später sogar Schützenkönig. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt zu ihm gehabt, auch und vor allem auch nach dem Gespräch nie wieder. „Entschuldigen Sie, aber Sie parken ständig auf dem unteren Parkplatz. Der ist aber für die festen Lehrer reserviert. Untermenschen dürfen dort nicht parken!“ Mir blieb die Spucke weg. Die Zeit des Nationalsozialismus hatte ich während des Studiums ausgiebig studiert, Klemperers „LTI – Wörterbuch des Unmenschen“, seine Lingua tertii imperii gründlich erarbeitet und engagiert meine Gegenposition zum Nazismus vertreten. Nazi-Begriffe waren belegt, anständige Leute benutzten sie nicht. Und da wagte es dieser Mann, mich als Untermenschen zu bezeichnen.

„Entschuldigen Sie, aber da warte ich ab, bis mir das jemand sagt, der kompetent ist!“

Es war die richtigste aller Antworten, aber für meine persönliche Situation die falscheste. Der Direktor sah mich am Umdrucker stehen. Ich benutzte eine Matrize, die ich nach Anweisung meines Mentors aus dem Regal neben dem Gerät entnommen hatte. „Wir haben an dieser Schule einen Etat, der aber nur für die Lehrer reicht. Sie müssten sich bitte eigene Matrizen kaufen.“ Ich fühlte mich wie bei einem Vergehen ertappt und wagte nicht einmal mehr, meinen Mentor darauf anzusprechen. Fortan unterrichtete ich fast nur noch mit dem Buch, denn auch wenn mein Gehalt mir im Vergleich zu meinem Studentenbudget unglaublich hoch erschien, musste ich doch sparsamst damit umgehen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts kopierten sich vor allem die jungen Kollegen einen Wolf. Eine gute Kopie galt als Garantie für einen guten Unterricht. Die Schüler wurden möglichst die ganze Stunde damit beschäftigt. Auch die berühmte Freiarbeit folgte diesem Konzept. Schüler erhielten einige Baumstämme in Form von Arbeitsblättern und arbeiten selbstständig die siebenundzwanzig Aufgaben durch, während der Fachlehrer die Kopien der nächsten Stunden vorbereitete. Für kurze Zeit weilte an meiner Realschule ein Freund unserer Schulleiterin als Medienberater. Am ersten Tag rief er erstaunt aus: „Sie arbeiten hier doch wohl nicht mehr mit Papier? Die Zeiten stehen auf digital, Papier ist out!“ Er traf in den nächsten Wochen auf so viel Ablehnung, dass er sein Engagement aufgab.

Die Matrizen zu Beginn meiner Ausbildungszeit erforderten umfassende Kompetenzen. Man spannte sie möglichst ohne Falten in die Schreibmaschine ein, beschrieb sie und leistete sich nach Möglichkeit keinen Fehler, denn der war schwer zu beseitigen. Was war noch einmal eine Schreibmaschine? Ach ja, falls ihr noch keine im Museum gesehen habt: Es ist eine PC-Tastatur mit klackenden Lettern, mit einem Farbband, ohne Strom, ohne Monitor, ohne angeschlossenen Drucker, ohne USB-Port oder Internetanschluss, ohne Diskette, CD, DVD oder BD. Die eingespannte Matrize beschrieb man mit der Schreibmaschine oder mit der Hand, fügte etwa eigene Zeichnungen oder Tabellen mit dem Lineal ein, zog dann das obere Blatt von der Farbunterlage ab und spannte sie mit der in Spiegelschrift durchgedrückten Seite nach außen in den Umdrucker ein. Mittels einer Lösungsflüssigkeit, die nicht ganz gesund roch und die sich in einem schmalen Tank befand, wurde nun durch manuelles Kurbeln die Matrizenvorlage auf leere Blätter übertragen. Ich kann mich nicht erinnern, dass damals auf meinen oder fremden Arbeitsblättern jemals so viele Fehler auftauchten wie auf den heutigen, die mit dem PC entworfen werden und leicht korrigiert werden können, bevor man sie vervielfältigt. Matrizen waren teuer, für mich als Lehramtsanwärterin mithin zu teuer.

Als absolut moderne Sozialform galt die Gruppenarbeit, von der der Hauptseminarleiter nicht allzu viel hielt. Er stand auf Lehrererzählungen und war ein Typ, der von älteren Semestern gern als konservatives Arschloch bezeichnet wurde. Immerhin sei er aber bei Prüfungen fairer als seine Stellvertreterin, erzählte man mir. Ich war zu Beginn meiner Anwärterzeit so selbstbewusst, dass ich den Warnungen kein Gehör schenkte und den Unterricht so organisierte, wie ich es für sinnvoll hielt. Ich plante handlungsorientierte Phasen ein, als im Zentrum der Ausbildung noch kognitive, emotionale und pragmatische Lernziele standen und nicht Sozialformen, Methoden und Kompetenzen. Ich erinnerte mich an meine eigenen öden Geschichtsstunden. Ich wollte die Schüler nicht langweilen, sondern begeistern. Meine Mentoren stärkten mir unbewusst den Rücken. Denn da ich von ihnen absolut keine Rückmeldungen, weder positive noch negative Kritik bekam, da sie mir liberal entgegenkamen, entsprechend dem Motto „Machen Sie mal!“, fühlte ich mich sicher genug, Eigeninitiative zu entwickeln.

Aus der Bahn warf mich kurzfristig meine unerwartete Schwangerschaft. In der Lehramtsanwärterzeit schwanger zu werden ist riskant, in einer ostwestfälischen Kleinstadt noch riskanter, wenn man nicht einmal verheiratet ist. Also wurde so schnell wie möglich geheiratet. Aber in einer ostwestfälischen Kleinstadt war im Jahre 1976 die Hochzeit mit einem arabischen Muslim schon gar nicht opportun. In einer katholisch geprägten Umgebung zählte eine Evangelische mit diesem Hintergrund nicht. Aber das machte ich mir nicht bewusst. Ich sah keinen Makel an meiner Biografie haften, schließlich lebten wir in einer Demokratie und hatten Menschenwürde und Toleranz auf unsere Fahne geschrieben. Also lehnte ich jede Vermutung ab, dass meine Biografie in irgendeinem Zusammenhang mit der Beurteilung durch meine Ausbilder stand.

„Die Lehramtsanwärterin wurde nach ihrer Verheiratung zugänglicher.“

Diesen Satz schrieb der Schulleiter meiner Ausbildungsschule mir in die Personalakte, derselbe Schulleiter, der mich als Feuerwehr einsetzte und mein Privatleben lenken wollte. Ich habe die Akte nicht eingesehen, es war nicht nötig, denn mein zweiter Chef hat mir später diese Beurteilung gesteckt. Süffisant.

Ich bereitete mich auf das zweite Staatsexamen vor. Im Geschichtsunterricht behandelte ich mit den Schülern der siebten Klasse die Stadt im Mittelalter. Informelle und standardisierte Tests waren der Schwerpunkt meiner Unterrichtsreihe. Ich ging davon aus, dass mein Mentor wusste, wovon die Rede war. Nachdem die Herrscher abgehakt waren, wandte ich mich dem Stadtvolk zu und ließ die Schüler handlungsorientiert ermitteln, wie die einzelnen Schichten in der mittelalterlichen Stadt ihr Leben gestalteten. Die Unterrichtsreihe lief erstaunlich rund, die Prüfungsstunde enthielt natürlich einige Haken, ich war nervös, die Schüler waren es, aber sie machten mit und brachten sogar einige wirklich gute Ergebnisse zustande. Das Prüfungsgespräch eröffnete im Beisein des Schulleiters, der sich nach zehn Minuten wegen dringender Aufgaben verabschiedete, der Hauptseminarleiter. „Warum haben Sie keine Lehrererzählung eingebaut?“ – „Weil ich das Leben des Volkes von unten, sozusagen auf der Straße, darstellen und dabei die Schüler selbst Ergebnisse erarbeiten lassen wollte. Eine Lehrererzählung hätte zu viel vorweg gegeben.“ Ich nannte noch weitere Gründe. Der Fachleiter nickt zufrieden, im Gegensatz zur Obersten Heeresleitung.

„Das ist marxistische Geschichtssicht!“

Peng! Nun folgte etwa eine Stunde lang, ohne dass ich kleines Würstchen noch gefragt war, eine erbitterte Auseinandersetzung der beiden Männer, die beide Geschichte studiert und vermutlich auch unterrichtet hatten, über marxistische Geschichtssicht. Am Ende stand das Urteil des Terminators, dass bei der Zensurenfindung der Umstand eine Rolle gespielt habe, dass ich durch meine Mutterschaft die Ausbildung unterbrochen und also unter besonderer Belastung gestanden hätte. In meinen vierzig Dienstjahren habe ich etliche junge Menschen bei ihrer Lehrerausbildung unterstützt, weil mir bei den Gedanken an meine eigene Ausbildung regelmäßig die Galle hochkam. Meinem netten christlich-katholischen Mentor konnte ich nicht mehr unbefangen begegnen, weil ich ihm ungewollt unterstellte, dass er meine Ansicht über die Existenz des demokratischen Sozialismus an die Oberen weitergegeben hatte. Ich habe mich mit dem Marxismus nie eingehender beschäftigt, als es während des Geschichtsstudiums oder der Unterrichtsvorbereitung erforderlich war. Seltsamerweise war das erste Porträt von mir, das Schüler meiner Realschule im Kunstunterricht als Karikatur anfertigten, mein Gesicht, eingefügt in den prächtigen Haarkranz von Karl Marx. Ich habe es bis heute stets gut aufbewahrt. Mit der Kunstlehrerin habe ich immer noch guten Kontakt.

Im Unterricht, in der Schule, vor den Kollegen, Eltern und Schülern sollte jeder Lehrer politische Neutralität wahren. Das war eines meiner wenigen Grundprinzipien. Meine Tochter allerdings erlebte im Deutschunterricht des Gymnasiums einen Lehrer, der eine ökologisch-demokratische Partei wählte und dies ganz deutlich machte, indem er mit einem Kugelschreiber und einem Lineal mit dem entsprechenden Propagandaaufdruck herumfuchtelte. War ich politisch zu korrekt? Erst bei meinem parteibezogenen silbernen Jubiläum im Jahre 2007 wurde durch einen Zeitungsbericht öffentlich bekannt, dass ich Mitglied der SPD bin. In meinen Beurteilungen von Schülern bedachte ich stets mit, dass ich ein falsches Bild von ihnen haben könnte. Natürlich war ein mangelhaftes Diktat nicht relativierbar und objektiv mangelhaft. Ich konnte es aber nur dann ohne Zweifel als mangelhaft bewerten, wenn ich es im Unterricht gründlich genug vorbereitet hatte. Doch bei Aufsätzen ergab sich immer ein Spielraum, selbst wenn ich noch so sehr um Objektivität bemüht war.

Kap. 12 folgt in TEIL 2