oder: Mehr Mensen! Mehr Bildung für die Kaumuskeln!

Kap. 22

Berufswahlvorbereitung oder Berufswahlorientierung, kurz BO, gehörte zu den Bausteinen unseres Schulprogramms. Ich hörte erstaunt, dass von den 350 Ausbildungsberufen gerade einmal 70 den Schülern bekannt waren. Da war es ein Leichtes, dass der für Schulen zuständige Mitarbeiter der Arbeitsagentur, die früher einmal banal Arbeitsamt hieß, unseren Schülerinnen empfahl, eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu absolvieren. Wir begannen im Deutschunterricht die BO mit Arbeitsblättern, die die Überschrift „Deine Stärken“ trugen, ich ließ gern Aufsätze oder Präsentationen mit dem Titel „Mein Traumberuf“ anfertigen, im Kunstunterricht entstanden fantastische Kunstwerke, die in der hiesigen Volksbank ausgestellt wurden. Auf Altenpflege bezogen sich unsere Produkte eigentlich nie. Eine Kollegin sprang auf den Zug auf und nahm an einer Altenpflege-Challenge teil. Unsere Schüler sollten den abwechslungsreichen Beruf der Hauswirtschafterin bzw. des Hauswirtschafters erkunden. Sie dekorierten vor Ostern die Tische im Altenheim mit frühlingshaften Blumengestecken, damit die Alten auch merkten, dass Ostern war. Unter dem Motto „Fächer, Schiff und Bischofsmütze“ lernten sie, wie man Servietten faltet. In der Wäscherei spielten sie „Hose findet Besitzer“. In einem Senioren-Park musste man sich schon etwas einfallen lassen, um die Wäsche jedem Bewohner zuordnen zu können. Die Schüler versahen Kleidungsstücke mit Namensetiketten an einer Maschine, die eine Temperatur von 200 °C anzeigte. In der Großküche mussten sie ausrechnen, wie sich die Mengenangaben in einem Rezept je nach Mitessern ändern müssten. Beim Thema Gebäudereinigung ging es nicht nur um das Putzen. Das Thema „Achtung – Gefahr“, der Umgang mit Gefahrenstoffen und deren Kennzeichnung stand im Vordergrund. Die Challenger erfuhren an der Station „Haustechnik“, wie ein Aufzug funktionierte und was man machte, wenn er stecken blieb.

Ich dachte nicht lange darüber nach, ob die an der Altenpflege interessierten Schüler im Geschichts- oder Politikunterricht noch einen Sinn sahen. Vielleicht sollte ich sie in die Geschichte der Altenheime einweihen. Ein Kollege ließ sich vom Berufemarkt inspirieren, der alljährlich vom Kreis veranstaltet wurde. Dort berichteten Bundeswehrangehörige über die Vorteile, zur Bundeswehr zu gehen, die inzwischen ein Berufsheer ist und nicht mehr durch allgemein Wehrpflichtige belästigt wird. Unsere Realschüler kamen mit enttäuschten Mienen auf mich zu. „Die haben gesagt, als Realschüler brauchen wir uns gar nicht erst zu bewerben, wir hätten sowieso keine Chance!“ Ich wusste nicht, warum das Info-Gespräch so frustrierend verlaufen war. Nun erklärte mir ein Neuntklässler jedoch, er habe eine Praktikumsstelle bei der Bundeswehr. Ich war skeptisch, ob für diesen Jungen, der keinen Kontakt zu seinem Vater hatte, dessen Mutter halbseitig gelähmt in einem Rollstuhl saß, der zu Hause von seinem Großvater betreut wurde und der geschichtlich und politisch interessiert und bei den Schulsanitätern aktiv war, die Bundeswehr das geeignetste Unternehmen sein konnte. „Ja klar, aber es ist eine Unverschämtheit, dass ich 450 Euro Praktikumsgebühr selbst bezahlen soll.“ – „Dazu kann ich dir nichts sagen, weil ich nicht weiß, welche Regelungen es gibt. Aber ich denke, du könntest versuchen, über das Sozialamt einen Zuschuss zu bekommen.“ – „Ich habe ein Protestschreiben an die Verteidigungsministerin geschrieben. Können Sie das einmal korrigieren?“ Ich schmunzelte. „Du willst zum Bund und schreibst deiner obersten Chefin ein Protestschreiben, bevor du dort angenommen bist? Du solltest ihr lieber eine Schachtel Mon cheri schicken.“ – „Nee, dann schicke ich ihr lieber einen Dildo!“ Ich lachte laut los, ich konnte nicht anders.

Ich hatte mein Ohr an der Zeit. In meinem schicken neuen Lehrerraum gab es zwar kein Waschbecken, überhaupt kein fließendes Wasser, also auch keinen Seifenspender, keinen Handtuchspender und schon gar keine Händedesinfektion. Diese war kurzfristig während der Schweinegrippe-Epidemie – oder war es die Hühnergrippe? – neben Plakaten zur richtigen Desinfektion – Husten in den Ärmel oder die Armbeuge – in der Schule verteilt worden. Aber bei mir als Landkind brach so schnell weder Panik noch Schweinegrippe aus. Dafür hatte ich mit meinem Lehrerraum eine äußerst kommunikative Exklave fast schon inmitten der bösen Gesamtschule. Die Spinde neben meiner Lehrerraumtür wurden in den Pausen von Gesamtschülern benutzt und der darin befindliche Müll nach dem Schließen der Spindtür auf dem Flur verteilt. Ein halbes Jahr lang fegte ich mit einem großen Besen den Flur vor meiner Tür und versuchte immer wieder, meist vergeblich, Freiwilligen das Gerät in die Hand zu drücken. Ein halbes Jahr lang ermahnte ich jeden Schüler, vor seinem Spind keinen Müll zu hinterlassen, getreu meinem Grundsatz: Erziehung findet nicht von Dienstag auf Mittwoch statt. Wenn ich in der sechsten Stunde den „großen“ Realschülern Bismarcks Sozialgesetzgebung zumutete, tobten vor meinem Klassenfenster die „kleinen“ Gesamtschüler herum, die in die Mensa gingen oder mit dem Essen fertig waren. Oder ich konnte zuschauen, wer die Toilettenanlage gegenüber besuchte. Meinen Schülern sagte ich oft: „Bitte schaut nicht jeder Hose nach, die pinkeln geht!“ Manchmal bat ich auch, mir auf jeden Fall Bescheid zu sagen, wenn einmal jemand ohne Hose zum Pinkeln gehe. Ich versuchte die Situation mit Humor zu nehmen. Manchmal trat ich vor meine Klassentür und sah Scharen von Gesamtschülern davor. „Wollt ihr nicht in die Pause gehen?“ Manchmal erhielt ich eine Antwort. „Es regnet draußen.“ Ich sollte annehmen, dass es an der Gesamtschule, anders als an meiner Realschule, die sich ja beide den Schulhof teilten, eine gesonderte Pausenregelung gab. Wenn es nicht regnete, breitete ich geduldig die Arme aus und schob einen nach dem anderen Schüler durch die Glastür ins Freie. Dabei ging meine Pause auch schon einmal drauf.Aber manchmal erhielt ich Besuch von einem netten, älteren Gesamtschulkollegen. Er hatte sich hierher abordnen lassen, weil er in unserem Städtchen wohnte und mit dem Fahrrad zur Schule fahren konnte. Jahrelang war er mit dem Zug in seinen Schulort gefahren. Er kam mitten im Unterricht oder in der Pause, es gab immer humorvolle Begegnungen mit meinen Schülern, er war ein netter Lehrer, ließ sich aber nicht auf der Nase herumtanzen. In den letzten Wochen des Schuljahres häuften sich seine subjektiven Beschwerden: „Ich glaube nicht, dass ich hier alt werde.“ Oder: „Ich habe die Nase bald voll.“ Oder: „Ich lasse mich nicht wie einen dummen Jungen behandeln.“ Der Humor kam ihm Stück für Stück abhanden. Als Außenstehende konnte ich nicht beurteilen, was da an der Gesamtschule schieflief, aber das Renommee in der Öffentlichkeit schien nicht vorhanden zu sein. Unter Hunderten von Eltern musste es aber doch auch zufriedene geben. Warum hörte ich davon nichts?

Noch ein Grundsatz: Wenn ein Chirurg tausendmal einen Blinddarm erfolgreich operiert hat, erfährt davon niemand. Wenn es beim 1001. Mal Komplikationen gibt, steht es in der Zeitung. Dann folgt ein Flashmob. Dann gibt es anonyme Briefe. Denn man weiß ja nicht, ob man den Chirurgen nicht einmal nötig hat.

Mit dieser Art des menschlichen oder eher unmenschlichen Umgangs hatte ich immer schon große Probleme gehabt. Schüler könnten mich leicht zitieren: Ich kann gar nicht so schnell kotzen, wie mir schlecht ist. Übrigens sagten meine ostwestfälischen Schüler meistens „Blindarm“, so wie sie ja auch „Magen-Darm“ hatten, wenn sie die entsprechende Grippe meinten. Als Niedersächsin musste ich mich in diese sprachliche Welt des Jahres 1977 erst einmal integrieren. Inzwischen hat sich vieles erledigt. Im Nachbardorf stand eine Burg, davor gab es den üblichen Burggraben, in dem vor vierzig Jahren tatsächlich Wildschweine grasten und grunzten. Als ich das erste Mal die Burg besichtigte, verfolgte mich der intensive Duft der Tiere. Ich erwähnte meinen Besuch in einer folgenden Stunde in einer Klasse, in der auch Schüler aus dem Burgort saßen. Sie waren ernsthaft beleidigt, weil ich über den Gestank offen sprach. Es nützte nicht, dass ich betonte, wie schön es für mich war, endlich ein echtes Wildschwein zu sehen, weil es in meiner niedersächsischen Heimat keines gab. Es dauerte mindestens so lange, wie die Wildschweine entfernt wurden, bis sich die Schüler wieder beruhigten. Ich forderte ihren Unmut später noch einmal heraus. Viele von ihnen berichteten in ihren Aufsätzen, sie hätten zu bestimmten Dingen keine „Lusten“ gehabt. Ich erklärte, das sei Umgangssprache, Platt, und sie waren beleidigt.

Eines Tages sagte eine Schülerin, ihr Lieblingsgericht seien „Klöse mit Sose“. Ich, sprachpraktisch und pädagogisch beflissen, verbesserte: „Klöße mit Soße“. Sie verstand mich nicht, also ließ ich sie die Wörter an die Tafel schreiben. Sie schrieb: „Klöße mit Soße“. Meine anschließenden Hinweise auf Aussprache und Schreibweise schienen alle zu verstehen. Beschwingt ging ich in der Pause ins Lehrerzimmer. Mein ostwestfälischer Deutschkollege sah mir an, dass ich beschwingt war, und fragte nach der Ursache. Erstaunt zog er bereits beim ersten Satz die Augenbrauen hoch. „Aber es heißt doch: Klöse mit Sose!“ Also legte ich ihm Zettel und Stift hin, und er begriff und lachte.

Meine Schüler brauchten etwas länger, um über meine Erziehungsversuche zu lachen. Wenn ich ausdrücken wollte, dass man sich nicht wundern muss, wenn man in der Gefahr umkommt, in die man sich begibt, sagte ich auf Platt: „Un ik säggt noch to üm: Bliev wech von de Immen. Un dor keem he all an to blarrn.“ Auf Hochdeutsch heißt es: „Und ich sagte noch zu ihm: Bleibe weg von den Bienen. Und da kam er schon an zu plärren (weinen).“ In den späten Neunzigerjahren hörte ich dann von einigen begeisterten Aussiedlermädchen: „So ein Platt kann meine Großmutter auch noch!“ Ja, die Aussiedler … Die erste Welle der sogenannten Russlanddeutschen war die angenehmste. Die Eltern wollten deutsch sein, sie sprachen zu Hause mit den Kindern Deutsch, wenn auch nicht akzentfrei, und die Kinder gaben sich Mühe, schnell gut zu sprechen und vor allem schön zu schreiben. Ich war sehr angetan von der gestochenen, sauberen Handschrift sogar der Jungen. Die Kinder waren gut, wahrscheinlich streng erzogen, höflich und unauffällig. Aus Jurij wurde 1991 Jürgen.

Die zweite Welle bot schon mehr Herausforderungen. Helene, Larissa, Svetlana und Irina schwiegen und lächelten, im Deutschunterricht wollten sie eine Gruppenaufgabe auf Russisch lösen, weil sie sich in dieser Sprache leichter verständigen konnten. Ich untersagte es und wurde für russenfeindlich gehalten. Als ich fragte, ob sie nicht alle einen deutschen Pass hätten, blickten sie erschrocken, verstanden und nickten dann verschämt. Ich gab mir Mühe, ihnen vor den schadenfrohen einheimischen Schülern klarzumachen, warum ich ausgerechnet im Deutschunterricht ihr deutsches Sprachvermögen nicht nur fördern wollte, sondern auch dazu verpflichtet war. Waldemar, Nikolaj, Victor, Eugen und Eduard waren schon härtere Kaliber. Sie waren zu Hause die unbestrittenen Lieblinge auch ihrer Mütter, die bei Sprechtagen in abgetragenen Mänteln vor mir saßen, mit schlechten Zähnen und schlechteren Deutschkenntnissen. Die Väter arbeiteten hart, und wenn sie nicht an ihrer Arbeitsstelle werkten, bastelten sie zu Hause an einem neuen Leben. Manche aber, vor allem die der dritten Welle Ende der Neunziger, schienen gern zur Wodkaflasche zu greifen. Probleme in der Familie wurden mit körperlicher Gewalt ausgetragen. Nicht von den Kindern erfuhr ich davon, sondern von Verwandten, Bekannten und Nachbarn. Da war pädagogisches Geschick und viel Verständnis notwendig, aber manchmal auch konsequentes Disziplinieren. Als Frau Schwäche zu zeigen war bei manchen Jungen obsolet. Awas und Lina aus dem Libanon oder Jovan aus Serbien waren nur froh, friedlich in einem deutschen Klassenraum sitzen zu können.

In meinem Elternhaus lernte ich früh, Probleme anzugehen und nach einer Lösung zu suchen, wenn sie auftraten, und sie nicht auf die lange Bank zu schieben. Die meisten meiner Kollegen taten ebenso, was notwendig war. Oft hatten ja unsere Schüler Probleme, weil die Eltern nicht in der Lage waren, eine Lösung für ihre eigenen Probleme zu finden. Wenn ein Schüler das Geld für eine Klassenfahrt nicht aufbrachte, sah ich zu, wie ich ihm helfen konnte. Wenn ein Schüler aus religiösen Gründen an der Klassenfahrt nicht teilnehmen sollte, sprach ich mit den Eltern, versuchte sie davon zu überzeugen, dass sie keine Bedenken haben mussten, und wenn das nicht gelang, akzeptierte ich ihre Entscheidung. Dadurch wurde die Fahrt für alle etwas teurer, aber die anderen sahen ein, dass man mit Mitschülern keinen Spaß haben würde, die zur Teilnahme gezwungen würden. Einige meiner Kollegen ließen sich auf einen Kampf mit diesen Eltern ein und gaben am Ende entnervt auf. Die Atmosphäre aber war gestört. Nur wenige Jahre lang betrafen diese Irritationen die Verhaltensweisen der baptistischen Eltern, von denen einige sehr radikale Ansichten vertraten. Auch dies erleichterte mir das Schulleben: Ich nahm hin, was ich nicht ändern konnte. Solange ich keinen Angriff auf meine Persönlichkeit, auf meine Freiheit und mein Selbstverständnis erkannte, nahm ich nichts persönlich. Ich sorgte auch bei den Eingewanderten für Entspannung. Im Geschichts- und Politikunterricht forderte ich die Aus-, Um- oder Übergesiedelten immer wieder auf, die Herkunftsorte ihrer Familien zu nennen. Irgendwann kamen sie auf ihre deutschen Wurzeln. Sie lauschten selbst gebannt meinen Erzählungen über die Gründe, warum Menschen schon im Mittelalter die deutschen Reichsländer des Heiligen Römischen Reichs verließen und sich in Polen oder Russland ansiedelten, wie sie dort ihre deutschen Traditionen pflegen wollten, wie sie bei Stalin damit aneckten und nach Kasachstan oder Sibirien verbannt wurden. Als sie das Leben in der Sowjetunion unerträglich fanden und nach Deutschland „zurückkehren“ wollten, wurden sie, die als Deutsche verfolgt wurden, hier als Russen beschimpft.

Eines Tages verabredeten sich etwa dreißig türkischstämmige und ebenso viele russlanddeutsche Hauptschüler nach der sechsten Schulstunde am Schultor, um sich zünftig eine Prügelei zu liefern. Einige unserer vernünftigen Schüler informierten den Schulleiter, er und einige Kollegen und die schließlich eintreffende Polizeistreife konnten die Raufbolde zur Ordnung rufen.

Wir Kollegen sorgten auch dafür, dass Schule nicht nur stures Unterrichten war. Seit ich hier unterrichtete, gab es in jedem Jahr ein gemeinsames Karnevalsfest. An einem Nachmittag feierten die Kleinen, also die fünften bis siebten Klassen, ihr eigenes Kostümfest, danach gegen siebzehn Uhr starteten die Großen, also die achten bis zehnten Klassen, ihre Kostümfête. Ich brachte meine Kinder bei der Kinderfrau unter oder nahm sie mit in die Schule, wenn sie dazu Lust hatten. Später konnte ich sie allein zu Hause lassen, ich brauchte mit dem Auto drei Minuten bis zu meinem Haus und schaute ab und zu nach dem Rechten. Es war herrlich zu sehen, mit welchem Ernst die Schüler sich am Kostümwettbewerb beteiligten. Je nach Engagement der Lehrer, Schüler oder Schulleitung gab es Büttenreden, Sketche oder Spiele, manchmal hatte die SV mit den Lehrern ein großes Programm in der Turnhalle zusammengestellt. Der Tag war stressig, hinterließ aber ein gutes Gemeinschaftserlebnis. Ich verkleidete mich nicht gern, aber jetzt musste es sein. Der Clown lag mir fern, er war auch schon das Kostüm des Konrektors. Ich wollte als Werder-Bremen-Fan gehen! Immerhin besaß ich eine grüne Jogginghose, ein grünes Shirt, grün-weiß gestreifte Werder-Kniestrümpfe, einen grün-weiß gestreiften Schal und eine passende Mütze. Ich betrat frühzeitig das Foyer, das noch spärlich besetzt war. Eine Sechstklässlerin kam mir entgegen und stutzte. „Als was gehen Sie denn?“, fragte sie keck. „Das siehst du doch: als Werder-Fan.“ Sie zog die Stirn kraus. „So ein Scheiß-Verein?“ Sie schien den Sinn von Karneval nicht erfasst zu haben. Aber ich lachte sie aus. „Ja, genau!“

Meine erste Karnevalsfeier 1977 fand in der Turnhalle statt. Ein Junge ohne Lampenfieber, in das Gewand eines arabischen Beduinen gekleidet, stellte sich mit dem Mikrofon in die Mitte der Halle. Alle Anwesenden verstummten gespannt. Er rief: „Oh, Allah, sende mir eine Taube!“ Er wartete, wir warteten, er schaute sich um. „Oh Allah, ich sehe schon, ich brauche Hilfe. Allein kann ich nichts ausrichten.“ Er bat den Schulleiter zu sich und forderte ihn auf, sich auf den Boden zu knien, die Arme zu heben und mit ihm zu rufen: „Oh, Allah, sende mir eine Taube!“ Der seriöse Schulleiter fiel tatsächlich auf die Knie. Das Gleiche geschah nun auch mit dem Konrektor und nach und nach mit dem gesamten anwesenden Kollegium, etwa zwanzig Personen. Schließlich knieten wir hintereinander, hoben alle die Arme und baten gemeinsam Allah, uns eine Taube zu schicken. Nun schaute der Junge noch einmal zum Himmel, schüttelte den Kopf und meinte: „Oh, Allah, du hast mir zwar keine Taube geschickt, aber eine Herde Kamele!“ Es war für mich als Frau eines Muslims ein Erlebnis, über das ich schon damals herzlich lachen konnte.

In einem der nächsten Jahre bat der Schulleiter vier Kolleginnen und mich, an der Schultür stehenzubleiben und aufzupassen, wer die Schule betrat. Fremde Jugendliche hatten sich angekündigt, die SV fürchtete Scherereien und vergab Eintrittskarten und Stempel aufs Handgelenk. Bald tauchte eine Gruppe unbekannter junger Männer auf und baute sich drohend vor uns auf. Wir bedeuteten ihnen, dass es sich bei unserer Feier um eine geschlossene Gesellschaft handelte, und baten sie, zu gehen. Da entstand Unruhe im Foyer. Irgendwie hatten sich einige Jungen Zugang zur Schule verschafft und standen rauchend und mit der Bierflasche in der Hand im Flur. Die SV, Schulleiter und Kollegen bugsierten sie sanft, aber bestimmt auf den Schulhof und drohten damit, die Polizei zu holen. Wir Frauen hatten uns eingehakt, weil die Fremden sich an uns vorbeidrängen wollten. Plötzlich ertönte Geschrei aus der Jungentoilette, die nur vom Schulhof aus zu erreichen war. „Es brennt! Feuer!“, rief jemand. Wir blieben unverändert auf unserem Posten stehen, die SV rief den Hausmeister und Kollegen vom Flur nach draußen, die feststellten, dass jemand die Klopapierrollen an der Wand angezündet hatte. Rasch wurden die Brände gelöscht, doch nun rief der Schulleiter die Polizei. Die Störer verschwanden blitzschnell in Richtung Hauptschule, als der Streifenwagen auf den Hof fuhr. Wir Frauen blieben auf unserem Posten. Die Helfer beseitigten die Brandspuren, die Polizei zog ab, es war eine halbe Stunde ruhig. Dann kam die Gruppe zurück, es waren sieben oder acht Jungen. Sie schafften es wegen unseres körperlichen Einsatzes nicht, in die Schule einzudringen. Plötzlich rief ein SV-Mitglied: „Meine Jacke!“ Wir drehten uns um und sahen, wie die Raufbolde eine Jacke vom Tisch durch den Briefschlitz des SV-Raumes nach draußen zogen und damit fortrannten. Die SV-Jungen sprinteten hinterher und kamen kurz darauf mit siegreichem Grinsen zurück. Wir Frauen atmeten auf, aber hier war eindeutig eine rote Linie überschritten worden. Von diesem Nachmittag an gab es keine gemeinsame Karnevalsfeier mehr. In der Lehrerkonferenz beschlossen wir, nur noch Klassenfeiern während der Unterrichtsstunden zuzulassen.

Auch die Abschlussfeiern begannen unter den Störversuchen von außen, aber mittlerweile auch unter denen unserer eigenen Schüler zu leiden. Das Alkoholverbot sowie das Rauchverbot wurden eindringlich erneuert, Sanktionen wurden angekündigt. Der „Spaßtag“, auch „Remmidemmi-Tag“ genannt, war so entgleist, dass der Schulfrieden erheblich gestört war. Einige betrunkene Schüler waren durch die Klassen marschiert, hatten sich mit der Bierflasche in der Hand auf den Boden gesetzt und den Unterricht torpediert, Lehrer beleidigt und Bier verschüttet. Am Spaßtag hatte die SV mit einigen Lehrern und dem Hausmeister die Turnhalle geschmückt und ein großes Programm erstellt. Nach dem Fest für alle waren die Umkleiden verwüstet, Taschen und Wertgegenstände gestohlen worden, und die Entlassklassen überließen den Lehrern das Aufräumen. Also wurde auch dieses Fest in der Turnhalle gestrichen. In den Folgejahren mussten Schüler von ihren Eltern aus der Schule abgeholt werden, weil sie am Spaßtag die Regeln missachteten. Die anständigen Schüler begannen zu murren. Alles werde verboten, es gebe keinen Spaß mehr in der Schule.

Wir feierten den Abschluss in einer Dorfhalle. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte hatte die Schule sich als verantwortlicher Veranstalter zurückgezogen, die Eltern mussten den Vertrag mit dem Hallenbetreiber unterzeichnen, sie sorgten für eine Security, und während früher immer penibel auf die Reduzierung aller Unkosten geachtet wurde, zahlten die Eltern nun ohne Meckern. Während wir Lehrer jedoch früher eingeladen waren, mussten wir nun unseren Beitrag zu den Unkosten leisten. Früher brachten die Eltern Selbstgebratenes und –gekochtes und Salate mit, nun ging das aus lebensmittelrechtlichen Gründen nicht mehr.

Die Feier unter Aufsicht verlief friedlich, dennoch verließ ich frühzeitig den Saal, bevor alkoholisierte Schüler mir um den Hals fallen konnten. Draußen standen autoritätseinflößend die beiden Security-Mitarbeiter, ich verabschiedete mich freundlich. „Schön‘ Amd!“, antworteten sie. Ich ging im Schein der Straßenlaternen auf mein Auto zu, da kamen einige Schülerinnen zu mir gelaufen. „Moment, schauen Sie erst einmal unter Ihr Auto. Da sind vorhin so ein paar schwarze Jacken über den Parkplatz gelaufen und haben irgendetwas vor die Reifen gelegt.“ Gemeinsam sammelten wir mittelgroße Scherben auf. Ich bat die Mädchen, die Schulleitung und die Security zu informieren, was sie auch zusagten, und fuhr nach Hause. Am nächsten Morgen stellte ich im Tageslicht fest, dass mein Auto mit einigen Aufklebern mit rechtsextremen Parolen verschandelt wurde. Ich probierte jedes erdenkliche Mittel aus, zuletzt nahm ich den Rat einer Freundin an, es mit Margarine zu versuchen. Ich brauchte Stunden, um den Klebstoff zu entfernen, ohne den Lack zu beschädigen. Einige Kollegen versuchten es gar nicht erst und fuhren in die Fachwerkstatt. Zu den aktuellen Feiern kamen zuletzt immer weniger Kollegen, meistens nur die Fach- und Klassenlehrer. Früher war es eine Pflichtveranstaltung für alle Lehrer, die für uns aber Ehrensache war. Les jour s’en vent. Times are a-changing.

Kap. 23

Der erste Schulleiter meiner Schule war ein sehr kultivierter, würdiger, natürliche Autorität ausstrahlender „Chef“, der stets mit Anzug und Krawatte und einer dicken dunklen Hornbrille auftrat. Er war immer auf Ausgleich bedacht, griff selten in Angelegenheiten seiner Kollegen ein, konnte ruhig mit aufgebrachten Eltern und Schülern umgehen und erhob nie seine Stimme. Doch wenn die Stadt anfragte, ob wir Kollegen nach dem Unterricht an der Bushaltestelle die Busaufsicht übernehmen könnten, lehnte er den Einsatz seiner Lehrer freundlich, aber bestimmt ab. Dann aber erfuhren wir, dass die Hauptschullehrer weniger Glück hatten. Der Schulleiter hatte sie zur Busaufsicht verdonnert. Die Bushaltestelle liegt an der Grenze zum Hauptschulhof, da gab es wohl weniger Argumente. Von da an jedoch war die Stimmung zwischen den Kollegien, die nie besonders herzlich war, erheblich getrübt. Wir hatten keine gemeinsamen Treffen, keine traditionellen Feierlichkeiten, keine Berührungspunkte, und die Hauptschullehrer fühlten sich wohl nicht ganz zu Unrecht benachteiligt. Als der neue Schulleiter seinen Dienst angetreten hatte, wollte er die Anfrage der Stadt und des Hauptschulkollegiums wohl nicht mehr abschmettern. Also wurde neben einem Hauptschulkollegen täglich nun je ein Realschulkollege zur Busaufsicht abgestellt, kostenlos und verbindlich.

Zu den im Fahrplan angegebenen Zeiten sollten sich die Schüler jeweils in einer Reihe an der Gehwegkante aufstellen, nicht drängeln und diszipliniert in den Bus einsteigen. Das war die Theorie, bis der Bus auf die Schülerreihe zufuhr, aber nicht beim ersten Schüler hielt, sondern in der Mitte der Reihe. Von zwei Seiten fand nun der Kampf um den Platz im Bus statt, kleinere Schüler wurden fast zerquetscht, die großen wussten genau, wo sie anzusetzen hatten, um alle kleineren aggressiv zu machen. Immer wieder mussten die Aufsichtslehrer mit den Busfahrern Tacheles reden, die wenigsten störte unser Ärger. Sobald der Fahrer ein anderer war oder ein Bus zu früh kam, brach das Chaos wieder aus. Die Schüler des zweiten Busses drängten die aufgereihten Schüler zur Seite und kämpften sich in den Bus. Eine Kollegin kam gegen ein Uhr dreißig weinend ins Lehrerzimmer. Sie hatte versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen, und war von Hauptschülern als Votze beschimpft und bespuckt worden. Nach sechs Stunden Unterricht müsse sie sich das nicht bieten lassen. Da ich keine Rechtsvorschrift finden konnte, die uns Lehrer zwang, an öffentlichen Bushaltestellen Aufsicht zu machen, beschloss ich für mich, wirklich nur Aufsicht zu machen und nicht zu versuchen, in einer Masse von mehreren hundert Schülern einzelne zu erziehen. Ich beobachtete aus einer angemessenen Entfernung das Treiben und griff nur ein, wenn ich eine Gefährdung fürchten musste.

Eines Tages schoss eine Hauptschulkollegin auf mich zu, die ich bis dahin noch nie als Aufsichtsperson erlebt hatte. „Ihre Schüler da drüben wollen die Zigaretten nicht ausmachen!“, fauchte sie mich an. Ich schaute zu den Zehntklässlern ganz am Ende der Bushaltestelle hinüber und antwortete: „Die stehen auf der anderen Straßenseite, also lassen Sie die doch da rauchen.“ Sie schien kurz vor dem Platzen zu sein. „Ja, wenn Sie denn keine Pädagogin sind!“, giftete sie und rauschte beleidigt davon.

Mein frustrierendster Einsatz an der Haltestelle war auch mein letzter. Es hatte tagelang geschneit, danach getaut und wieder gefroren, so dass der Schnee voller harter Eisklumpen war. Die Schüler meiner Schule hatten mich noch nie als Zielscheibe benutzt, ich kann dafür keinen Grund nennen. Wenn an diesem Mittag eines der Kinder sich bückte, um Schnee aufzunehmen, brauchte ich es nur scharf anzublicken, es wurde von anderen gewarnt, ließ den Ball fallen und grinste mich an. Ich grinste zurück und drohte mit dem Finger. Plötzlich knallte ein Eisball mit voller Wucht gegen meine rechte Kopfseite. Wie betäubt blieb ich einen Moment stehen, drehte mich langsam in die Werferrichtung und sah mehrere feixende Hauptschüler. Ich setzte mich auf dem Lehrerparkplatz in mein Auto und verständigte tags darauf die Schulleitung, dass ich ab sofort nur noch aus meinem Auto heraus Aufsicht machen würde. Ich sei dort nicht mehr sicher, und ich hätte es nicht nötig, für eine Aufgabe, die nicht zu meinen Dienstpflichten gehöre, meine Gesundheit zu riskieren. Einige Tage lang schmerzte die Beule. Die Schulleiterin fragte nicht nach meinem Befinden.

Das letzte Halbjahr meiner Dienstzeit war angebrochen. Das Deule war kein Deule mehr, sondern nur noch Gele und Pole. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich mit meiner Zweidrittel-Teilzeit vierzig Jahre lang zwei, drei oder sogar vier Deutschklassen, also vier Korrekturen übernommen hatte, dabei mit Ausnahme des Halbjahres, in dem mein Sohn geboren wurde, immer Klassenlehrerin war und „mit Freuden, Herr Präsident“ Sonderaufgaben übernahm, ohne nach dem Lohn zu fragen. Ein halbes Jahr genoss ich ein paradiesisches Dasein ohne Klassenarbeiten. Wenn ich sonst die Tests zwar für notwendig hielt, aber nicht immer schreiben ließ, weil ich manchmal einfach keine Luft mehr bekam, nahm ich in diesem Halbjahr zwei, drei oder sogar mehr Tests in Geschichte und Politik mit nach Hause. Eine Klassenarbeit etwa als Musterarbeit für die ZP, die Zentrale Prüfung, zu entwerfen oder gemäß dem vorgeschriebenen Aufgabentyp, kostete mich teilweise einen ganzen Nachmittag an Vorbereitung. Die Arbeiten zu korrigieren wurde von Jahr zu Jahr aufwändiger, die ZP und die Lernstandserhebungen machten aus meiner Küche mit dem großen Küchentisch einen Zettelladen, und bis zuletzt sah ich es als Ehrensache an, alle Fehler anzustreichen, während manch überarbeiteter Vollzeitkollege nur noch die extremen Hefte mit spitzer Feder korrigierte. Ich forderte bis zuletzt richtige Verbesserungen bei den Berichtigungen und sah sie auch nach, während meine Kollegen entweder die Berichtigungen nur sehen wollten, andere aber bereits darauf verzichteten, weil sie von den meisten Schülern erst gar nicht angefertigt wurden. Ich gab den Schülern keine Chance, am Ende des Halbjahres ein Heft anzuschaffen und das im Unterricht oder zu Hause Geschriebene von der netten, klugen Nachbarin abzuschreiben, um eine gute Note zu ergaunern. Ich hatte neben meinem Zweidritteldienst noch ein kostenloses Drittel frei für die Pädagogik. Als meine beiden Kinder Abitur gemacht hatten, hätte ich in die Vollzeit wechseln können, ich bin dankbar dafür, dass ich in der Teilzeit bleiben konnte.

Ich hängte freiwillig ein halbes Jahr an und durfte Ende Juli in Pension gehen. Davor stand noch ein Raumwechsel an. Mein Lehrerraum wurde zum Jahrgangsstufen-Lehrerzimmer des neuen siebten Jahrgangs der Gesamtschule. Zum 40. Dienstjubiläum schrieb ich im Jahr 2014 in meinen Pressetext, dass ich gern selbst die Gesamtschule mit konzipiert hätte und ihren Aufbau wohlwollend beobachtete. Tatsächlich hatte ich mich gemeldet, als Freiwillige für die Gründungskommission gesucht wurden. Ausgewählt wurden passend zu den konservativen Mehrheitsverhältnissen im Stadtrat eine Kollegin und ein Kollege, die eigentlich absolut nichts mit einer Gesamtschule am Hut hatten. Der Bürgermeister betonte unermüdlich, die Stadt müsse den Bürgern die Möglichkeit geben, dass ihre Kinder einen städtischen, also staatlichen Schulabschluss erhalten könnten. Die Gesamtschule sollte demnach unter allen Umständen eine gymnasiale Oberstufe erhalten. Das Jahrzehnte lang totgesagte Städtische Gymnasium würde damit endgültig begraben. Ich hatte mir sagen lassen, dass es sowieso bereits seit fünf Jahren nur noch mit einer Sondergenehmigung der Bezirksregierung laufe. Als meine Kinder dort zum Abitur geführt wurden, gab es schon lange die Konkurrenz zu einem sogenannten privaten Gymnasium, das mit wenigen Prozenten Beteiligung der katholischen Erzdiözese und ansonsten als staatlich anerkanntes Gymnasium natürlich auch überwiegend zu 97 bis 98 Prozent staatlich war. Beide Gymnasien lagen wenige hundert Meter voneinander entfernt. Am kirchlichen war die Teilnahme am Religionsunterricht bis zum Abitur Pflicht. Beide beharkten sich öffentlich und begeistert, obwohl es zwischen den Schülern normale, auch freundschaftliche Kontakte und zwischen den Schulen teilweise Kooperationen gab. Meine Tochter besuchte in der Oberstufe einmal den Leistungskurs Deutsch am „Paterkasten“, wie die Nachbarschule von Spöttern bezeichnet wurde. „Da kriegt ja jeder Abitur“, lästerten die Pro-Städter, die sich eine besondere Elitestufe zubilligten. Hochmut kommt vor dem Fall.

Nun schlug der demografische Wandel auch in unserem Städtchen zu, weit und breit waren keine Aussiedler-, Übersiedler- und Spätaussiedlerkinder mehr zu rekrutieren, die in den neunziger Jahren manchen Lehrer vor der Zwangsversetzung bewahrten. Die Hauptschule, der die Stadt jahrelang alle Flüchtlingskinder und Kinder zuschusterte, die zu wenig Deutschkenntnisse oder zu wenig selbstbewusste Eltern hatten, war nicht mehr zu halten. In NRW konnte Ministerpräsident Rüttgers noch fünf Jahre lang eine Garantieerklärung durchsetzen, aber den Niedergang der Hauptschule, der unbeliebtesten Schule in Deutschland, nicht mehr aufhalten. Als ich hörte, dass unter der neuen rot-grünen Landesregierung Schulministerin Sylvia Löhrmann den Kommunen die Wahl überließ, wie ihre „Schullandschaft“ aussehen sollte, hielt ich diese Politik zum ersten Mal für vernünftig. Mein Standardspruch hatte bis dahin gelautet: „Wenn in Düsseldorf jemand furzt, stinkt es bei uns im Lehrerzimmer.“ Was dann  jedoch kam, war Wildwuchs. Jede Kommune konnte eine Sau durchs Dorf treiben, die G 8 oder G 9, Gemeinschaftsgrundschule A, B und C hieß, die sich Stadtschule, Realschule Plus, Sekundarschule oder Verbundschule nannte. Das Städtische Gymnasium setzte sich von der Nachbarschule ab, indem es den 45-Minuten-Takt in den Volle-Stunden-Takt umwandelte, mit dem Ergebnis, dass Kooperationen technisch unmöglich wurden und die Schulbuszeiten schwerer abzustimmen waren. Es sollte ein Alleinstellungsmerkmal sein und ließ die Schule allein stehen. Zum Städtischen Gymnasium schickten Eltern ihre Kinder, die keine kirchliche Schule wollten oder an dieser nicht angenommen worden waren. Selbst als meine Freundin ihre Enkelin hatte taufen lassen, wurde diese nicht an der kirchlichen Schule angenommen. Die Mutter ist ledig und alleinerziehend und gab wilde Spekulationen von sich, warum ihre Tochter nicht ausgewählt worden war.

Inzwischen wurde an der kirchlichen Schule kein Auswahlverfahren mehr durchgeführt, weil die Klassenstärke allgemein sank. Wer zum Städtischen gehen musste, galt bis dahin als „der Rest“. Die Eltern des Städtischen kämpften trotz aller Widrigkeiten vehement gegen die Gründung der Gesamtschule, die Lehrer weigerten sich, an der neuen Schule zu unterrichten, sie zogen den Umzug an einen anderen Schulort vor. Es gab vorzeitig keinen Abiturjahrgang an der städtischen Schule mehr. Von meiner Realschule aus gingen regelmäßig auch Schüler mit dem „Qu-Vermerk“ zu beiden Schulen, nun wechselten die meisten zur kirchlichen. Verschärfend kam hinzu, dass ein eigentlich internes kirchliches Gymnasium im südlich gelegenen Nachbardorf nun ebenfalls Schüler aus unserem Städtchen rekrutierte. Eine ehemalige Kollegin, mit den Fächern Mathematik und evangelische Religion, hatte einen katholischen Kaufmann geheiratet und schickte nun ihr erstes Kind in das Nachbardorf zu diesem zweiten kirchlichen Gymnasium, weil sie die Gesamtschule ablehnte. Warum sie nicht das kirchliche Gymnasium am Ort wählte, wollte sie mir nicht sagen. Um das Fass nun vollends zum Überlaufen zu bringen, mischte auch die riesige, überragende kirchliche Schule im westlich gelegenen, fünfzehn Kilometer entfernten Nachbarstädtchen mit. Sie errichtete einen Realschulzweig, und die meisten Eltern, die ihre Kinder in unserer Stadt nicht anmelden wollten, ließen sie nun mit Bussen durch die Hügellandschaft karren. In dieser Stadt schmolzen ebenso wie in meiner die Realschule und das Städtische Gymnasium ab, eine Gesamtschule befand sich im Aufbau.

In der Kreisstadt bewirkte der liberale Stil der Schulministerin noch Kurioseres. Ohne große Bürgerbeteiligung entschied sich der Stadtrat zur Einrichtung einer Sekundarschule, die Realschule sollte auslaufen. Genau diese Schulform hatten wir im Kollegium einstimmig abgelehnt, weil sie eine Haupt- und Realschule sein sollte, aber eine bessere Hauptschule gewesen wäre. Die Eltern der Realschule kämpften wohl mit denselben Ängsten dagegen und konnten vor dem Verwaltungsgericht einen Erfolg verbuchen. Die Sekundarschule wurde dennoch eingerichtet, sie sollte die bisherigen Hauptschüler aufnehmen. Die Realschule hatte vorher aber schon einen Hauptschulzweig eingerichtet. Welch ein Chaos! Ich befürchtete, dass bei Fortbestehen der Realschule die Sekundarschule eine Hauptschule wurde, dass es also nur um einen Namenswechsel ging. Die Sekundarschule musste mehr als effektiv arbeiten und sich in der Bürgerschaft einen Spitzenruf erwerben, wenn sie qualitativ das Niveau der Realschule erreichen wollte. Aber es heißt ja auch, dass Konkurrenz das Geschäft belebt. Die Realschule muss sich ihr stellen. Nur das einzige Gymnasium der Kreisstadt mit dem verstaubten königlich-preußischen Namen thront noch unangefochten auf dem Hügel. In diesem Jahr 2019 prahlt die Realschule der Kreisstadt damit, dass sie viel mehr Anmeldungen habe, als sie erwartet habe und bewältigen könne. Die Zeiten ändern sich vielleicht, aber die Eltern kaum.

In unserer Stadt teilen sich zwei kirchliche Gymnasien die bürgerliche bis gutbürgerliche Klientel. „Man“ geht zwar nicht mehr oft in die Kirche, die Zeit der Pflichtmessen donnerstags vor der ersten Stunde ist längst passé, Beichten sind out und Kirchenkritik und Austritte sind in, aber mein Kind geht in eine „private“ Schule. An den staatlichen Schulen herrschen ja auch Chaos und Disziplinlosigkeit! Wusste die rot-grüne Schulministerin, was eine Laissez-faire-Pädagogik hervorruft? Chaos und Disziplinlosigkeit unter den erwachsenen Bürgern. Eine Bürgerin schickte sogar einen Brief an die Stadtratsfraktion, mit der sie sympathisierte. Diese veröffentlichte den Brief auf der lokalen SPD-Homepage – anonym.

Eine Mutter wehrt sich – Anonymer Brief (Auszüge)

Das Verhalten der [Mehrheitsfraktion] gibt den Bürgern doch stark zu denken, so lassen sich Politik und Verwaltung offensichtlich von einem Schulexperten, der in jeder Hinsicht ausschließlich die Schließung von Schule propagiert, über die Maßen beeinflussen.Neben der Veränderung der Grundschullandschaft darf aber der ,,Umbau“ der übrigen Schullandschaft zur Gesamtschule nicht in Vergessenheit geraten […]. Betrachtet man aber nun die aktuelle Situation der Gesamtschule, würden sehr, sehr viele Eltern wünschen, diese Entscheidung wäre damals (auch in aller Eile) so nicht getroffen worden.lst unseren Politikern eigentlich bewusst, wie sich die Gesamtschule im lnneren darstellt? Welche pädagogischen Konzepte (sofern man diese überhaupt als solche bezeichnen kann) unsere Kinder um Lernerfolge bringen?Wie kann es sein, dass eine Schule ein Konzept verfolgt, bei dem darauf gesetzt wird, dass sich Schüler den Lernstoff weitestgehend selbst aneignen? ln ,,Lernbüros“ sitzen jeden Tag Kinder unterschiedlicher Altersstufen zusammen und sind eigenständig damit beschäftigt, Zinsrechnung, Prozentrechnung, englische Grammatik oder das Argumentieren im Deutschen zu üben. Lebt das Lernen nicht davon, dass in der Klasse gefragt, erklärt und gemeinsam gelernt wird? Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke, meine ich doch, dass erfolgreiches Lernen durch das positive Zusammenspiel von Lehrern und Schülern gestaltet wird. Wo ist der Sinn dieser Art zu lernen und was ist mit schwachen Schülern, die Unterstützung brauchen und nicht alleine lernen können? Wenn ich mit meinem Sohn Mathe oder auch andere Fächer übe, muss ich mit Schrecken feststellen, wie wenig Wissen vorhanden ist. Sein Leistungsstand entspricht bei weitem nicht dem eines Realschülers oder eines Gymnasiasten. Wohin soll das alles führen?
Der Start der Gesamtschule war holperig – o.k., wir als Eltern dachten, die Schule müsse erst einmal vernünftig ,,in Gang“ kommen. Jetzt besteht sie aber schon im 4. Jahr und es wird eher schlimmer als besser. Aus dem Bekanntenkreis weiß ich, dass sehr viele Eltern ihr Kind lieber heute als morgen von der Schule abmelden würden, um dieser Farce aus dem Weg zu gehen. Da aber die Aufnahmekapazitäten anderer Schulen begrenzt sind, müssen sie widerwillig (!) bleiben. lst das denn der Sinn von Schule? War das das Ziel der Umstrukturierung, dass Eltern – und wie man immer wieder hört auch Lehrer – unzufrieden, ja sogar besorgt sind? Viele Lehrer haben die Schule schon wieder verlassen – warum wohl?
Die Stadt investiert viel Geld in den Ausbau der Gesamtschule. Über die lnvestitionen in den Ausbau einer Mensa im Städtischen Gymnasium konnte man erst kürzlich in der Zeitung lesen. Warum werden Steuergelder so verschwendet? Viele Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder in der Schule essen. Für einige ist es auch ein finanzielles Problem. Warum müssen Dinge erzwungen werden, die nicht dem allgemeinen Interesse entsprechen. Steckt dahinter eine Schulleitung, die sich auf Kosten der Kinder, aber auch der Eltern und der Stadt, profilieren möchte? Warum schaut die Stadt dabei zu, ohne einzuschreiten?

Unter anderem von meinem Sohn höre ich, welches Chaos im Gebäude herrscht. ,,ln den Pausen ist immer was los…“. Sind die Lehrer nicht in der Lage, die Kinder auch zu erziehen?
Fasst man alles zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Die Lernerfolge sind mäßig (wie da eine Oberstufe zustande kommen soll, die zu einem guten Abitur führt, ist uns Eltern ein Rätsel). Die Konzepte sind mehr als fraglich, Kinder werden zu ,,Versuchskaninchen“. Die ganze Schule scheint im Chaos zu versinken. Steuergelder werden mehr oder weniger sinnvoll verschleudert. Eine eigensinnige und sehr fragliche Schulleitung leitet und plant offensichtlich an den Bedarfen der Schüler vorbei. Und dann stellt sich die Frage, warum müssen alte, gut funktionierende Strukturen für neue, nichtgewollte Systeme aufgegeben werden? Vielleicht ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, zu Altbewährtem zurückzukehren. […] Wenn es immer heißt „der Elternwille zählt“, dann sollte er auch hier gehört werden. Das macht doch Demokratie und gute Politik aus. […]

Anonym bedeutet feige

Der Genosse, der die Homepage betreute, ließ sich von meinen guten Argumenten gegen eine Veröffentlichung dieses Pamphlets nicht abbringen. Ich warf ihm vor, dass er eine Form von Boulevard-Journalismus betrieb und dass er der Gesamtschule, die unsere Partei ja eigentlich unterstützen sollte, einen Bärendienst erwies. Ich weiß, warum ich eine glühende Anhängerin der repräsentativen Demokratie und eine unversöhnliche Gegnerin der direkten Demokratie bin. Woher sollen Eltern wissen, welche Schule gut und welche schlecht ist? Für mich gilt: Eine Schule ist eine Schule ist eine Schule … Wenn vom Elternwillen die Rede ist, dem man auch in der Verwaltung folgen müsse, dann springen bei mir sämtliche Warnsensoren an. Die Eltern wollen einen roten Teppich ausgerollt haben, sie wollen gute Noten für ihr Kind, sie wollen in Ruhe ihr eigenes Leben verwirklichen. Nicht umsonst kursiert der Spruch, dass die Eltern ihr Kind am ersten Schultag in der Schule abgeben und es fertig erzogen und ausgebildet nach zehn oder dreizehn Jahren wieder abholen möchten. Ohne Ironie: Der Text enthält zwar einige Stellen, bei denen ich zum Rotstift greifen würde, aber insgesamt scheint er von einer Person geschrieben worden zu sein, die sich auf einem höheren sprachlichen Niveau bewegen kann. Es scheint so. Die Anonymität allerdings eröffnet Raum für Skepsis. Es ist möglich, dass nur eine Verfasserin existiert, aber auch mehrere Personen den Text verfasst haben. Es ist möglich, dass die oppositionelle Fraktion den Brief entworfen hat. Es könnte ein Verteidiger der kirchlichen Schulform gewesen sein. Anonyme Texte sind im heutigen digitalen Zeitalter in den (a)sozialen Medien meiner Ansicht nach Ausdruck von mangelnder demokratischer Ethik. Wenn einer Redaktion der Autor bekannt ist, kann sie dies unter dem Brief vermerken. Aber dies geht nur mit gutem Grund, etwa bei echter Bedrohung von Leib und Leben des Autors. Die Angst, die Schulleiterin könnte ihre Autorität missbrauchen und das Kind für die Kritik der Eltern büßen lassen, ist möglicherweise verständlich. Aber dann hätte ich als Presseverantwortliche eine andere Form der kritischen Auseinandersetzung gewählt als ausgerechnet einen anonymen Brief. Ich hätte mir gewünscht, dass die oppositionelle Fraktion an die Tür der Gesamtschule klopft und um ein persönliches Gespräch bittet. Auf einen anonymen Brief würde ich nicht reagieren.

Kap. 24

Die Bushaltestelle wurde der veränderten Schullandschaft angepasst. Es gab drei feste Haltepunkte, und die Busfahrer wurden von einem Busabgeordneten der Gesamtschule professionell eingewiesen. Dennoch kam es zwischen den Schülern der Realschule, Gesamtschule und Hauptschule bis zum Sommer 2018 weiter zu Gerangel und Kämpfen um den besten Platz. Eltern klagten nach wie vor über unhaltbare Zustände im Bus. Allein dass mehr als die Hälfte der Einsteigenden keinen Sitzplatz erhielten, ist Ursache vieler Beschwerden. Es würde mich nicht wundern, wenn demnächst Lehrer als Busbegleiter eingesetzt würden, kostenlos und verbindlich. Denn muss man sich dem Elternwillen nicht beugen?

Meine Erinnerungen enden mit einer Art politischem Testament, über das meine Kinder vielleicht einmal schmunzeln werden. Der demokratische Konsens ist in Gefahr, las ich in der Zeitung, der gesellschaftliche Zusammenhalt drohe zu zerbrechen, die Bürger seien in großer Sorge, las ich, sie gingen auf die Straße und protestierten. Sie forderten direkte Demokratie, sie wollten endlich gehört werden, sie fühlten sich abgehängt. Rechte Radikale suchen und finden Anhaltspunkte, um eine radikale Umkehr zu alten Verhältnissen zu fordern. Habe ich in den vergangenen vierzig Jahren wirklich so wenig bewirkt? Ich muss mir ständig vor Augen führen, dass ich nicht für alle gesellschaftlichen Mängel und Fehlleistungen verantwortlich gemacht werden kann, und doch beschleichen mich Zweifel, ob ich mit meiner Pädagogik nicht aus der Zeit gefallen war, ob ich zu „bestimmend“ war, wie ein Kollege mich bei meiner Verabschiedung einschätzte, oder sogar zu lasch. Als Deule konnte ich Erfolge vorweisen, Schüler lernten bis zur 10. Klasse einigermaßen richtig zu schreiben, die meisten konnten Gedichte und Erzählungen interpretieren, Argumentationen schreiben und Bewerbungsschreiben verfassen. Manche hatten Spaß an der Literatur bekommen. Manche würden auch als Erwachsene keine Bücher lesen, aber „Sie können nicht die ganze Welt retten!“ war einer der Schulleitersprüche, die mir mein Leben lang im Gedächtnis haften.

Manchmal habe ich Null-acht-fünfzehn-Stunden gegeben: „Schlagt das Buch auf und bearbeitet die Aufgabe vier auf Seite achtzig.“ Wenn meine Kinder krank waren, wenn ich zu lange korrigiert hatte, wenn ich Ärger mit meinem Mann hatte, wenn wir bei Nachbarn oder Freunden zu lange gefeiert hatten, dann zog ich die Notbremse. Konnte ich damit eine ganze Generation verderben? Ich gab auch Stunden nach den Regeln der Flurpädagogik: Gehe über den Flur und überlege, was du machen musst. Oder Stunden der Klinkenpädagogik: Drücke die Klinke der Klassentür hinunter und überlege, welcher Unterrichtsstoff anliegt. Ich gab sogar Stunden nach den Regeln der Hammerpädagogik: Gehe über den Flur, drücke die Klinke hinunter, schlage das Klassenbuch auf und frage: „Was hammer in der letzten Stunde gemacht?“ „Ich kenne noch eine andere Pädagogik“, lachte ein Kollege, „die Auto-Pädagogik: Setze dich morgens ins Auto und überlege, was du in allen Klassen machen willst.“ Bei mir klappte das nicht, ich war mit dem Auto in fünf Minuten in der Schule.

Solange die Realschule abschmolz, kümmerte ich mich um die Schulhomepage, die mir niemand abnehmen wollte, bei der mir niemand half, ihr ein moderneres Gesicht zu geben, und niemand ersparte mir, das alte Frontpage mit meiner XP-Möhre bis zum Sommer 2018 weiter nutzen zu müssen. Im amtlichen Mitteilungsblatt der Stadtverwaltung beklagte der Bürgermeister den rauen Ton, mit dem in den asozialen Medien, vermutlich vor allem in Facebook, seine Politik und die Arbeit der Verwaltung kritisiert werde. Er werde angefeindet, weil er beim „Kehraus“ des Städtischen Gymnasiums nicht unter den 400 Lehrern und Ehemaligen auf dem sonnendurchfluteten Schulhof gesessen und Grillwürstchen verzehrt hat. Er berief sich darauf, dass er nicht eingeladen wurde.
Ich verstehe den Frust der Restschüler, -eltern und -lehrer. Auch an der Realschule gab es ihn, denn wir Kollegen hatten zugestimmt, dass in unserer Kleinstadt eine relativ gut funktionierende Realschule aufgegeben und die Gesamtschule gegründet wurde, zugunsten der Hauptschule und zulasten des Städtischen Gymnasiums. Etliche jetzigen und ehemaligen Realschullehrer und ich nahmen – wohl ziemlich naiv – an, dass die Gymnasiallehrer nahtlos zur Gesamtschule wechseln würden. Dass es im Getriebe knirschen würde, hatten wir erwartet, aber nicht die jetzigen öffentlichen Auseinandersetzungen.
Ich war immer Anhängerin der städtischen und staatlichen Einrichtungen. Meine Kinder haben am Städtischen Gymnasium Abitur gemacht, und die Schulzeit ging auch nicht immer reibungslos ab. Aber eine Schule ist eben eine Schule ist eine Schule … Ich persönlich hatte gehofft, dass das Städtische Gymnasium sich unserer Argumentation anschließen und die Gesamtschule unterstützen würde, nicht zuletzt auch wegen der Eltern, die für ihre Kinder mit „nur“ einer Hauptschul-Empfehlung keine Schule mehr hätten finden können. Die Hauptschule wurde vom vielgepriesenen Elternwillen schon lange nicht mehr angesteuert. Da nützte auch die Bestandsgarantie der Regierung Rüttgers nichts. Die Gymnasien hatten uns immer schon die guten Realschüler abgeworben, im Zeichen des demografischen Wandels mehr denn je. So weiterwurschteln wie bisher erschien mir schon lange obsolet.
Eine Sekundarschule hatte ich wie die meisten meiner Kollegen abgelehnt, weil sie eine bessere Hauptschule geworden wäre. Die Konkurrenz von drei katholisch gesteuerten Gymnasien, die den Eltern einen roten Teppich auslegten, war einfach zu stark, und die Eltern sind heute ja leider bereit, ihre Kinder stundenlang durch die ostwestfälischen Hügellandschaften fahren zu lassen, anstatt die Schulen am Ort zu unterstützen.
Dass es zu persönlichen Anfeindungen kam, tat mir wirklich leid. Ich vermute, da war die Fakebook-Generation, wie ich sie nenne, am Werk, schnell mit Beschimpfungen, langsam bis zum Stillstand mit Argumenten. Ich hätte mir ein starkes städtisches Gymnasium gewünscht, nicht eines, das ein Alleinstellungsmerkmal durch die Veränderung des Stundentaktes für eine gute Idee hält, die Stunde von 45 Minuten auf 60 ausdehnt und sich um andere städtische Schulen nicht schert. Ich hätte mir einen runden Tisch mit den Gymnasiallehrern gewünscht, und zwar vor der Entscheidung für oder gegen eine Gesamtschule. Ich hätte mir gewünscht, dass die engagierten Lehrer und die Schulleitung der Gesamtschule mehr Rückhalt bekommen. Hätte hätte …
Wer ist bereit, die Gesamtschule nach Kräften zu fördern, ohne sie wieder in ein aussichtsloses Konkurrenzverhältnis zu den sogenannten privaten oder kirchlichen Gymnasien zu stellen? Ich habe zum Glück keine Funktion, aber eine eindeutige Haltung. Ich wurde von der Schulleiterin der Gesamtschule zum lange versprochenen Kaffee eingeladen. Endlich las ich in meiner Lokalzeitung positive Berichte, etwa den über eine neuseeländische Schülerin, die Deutsch lernen möchte, bereits eine Freundin und viele Unterstützer gewonnen hat und sich wohlfühlt.

Ansonsten behalte ich den Spaß des Korrigierens noch eine Weile bei. In der NW stehen viele gute Sätze, es gibt für einen Lehrer i.R. gewiss nichts Schöneres, als morgens beim Frühstück die Tageszeitung ohne Unterbrechung von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Aber dann geschieht es bisweilen: Alle guten Vorsätze sind vergessen, der PC wird angeworfen, das Mailprogramm geöffnet, WEIL …

Sehr geehrter Herr K.,
natürlich mache ich mit! Ich hatte zum Kaffee mit Milch gerade ein Brötchen, Ziegenkäse, Camembert, einen „Alten Schweden“ aus Wismar, mit Frischkäse gefüllte Paprika sowie einen Teller Erdbeeren. Ich fühle mich optimiert, deshalb schreibe ich Ihnen.
DENN mir geht es auf den Nerv, wenn ich wieder einmal einen DASS-Satz falsch geschrieben lese.
„Es geht mir zunehmend auf den Nerv, das …“ – der DASS-Satz ist in den meisten Fällen ein Objektsatz. Ich frage: Wer oder was geht mir auf den Nerv? Hier frage ich wie nach einem Subjekt nach einer Nominativ-Ergänzung: „DASS einem heutzutage jeder sagt, wie man zu leben hat.“ Hier ist „es“ ein Scheinsubjekt, der DASS-Satz könnte also auch als Subjektsatz formuliert werden. („DASS einem jeder sagt, wie man zu leben hat, geht mir auf den Nerv.“)
Viele Grüße auch an Ihre Kollegin Jessica W., die auf der nächsten Seite schreibt:
„Natürlich ist mir bewusst, das arbeiten am Wochenende ziemlich unbeliebt ist.“
Wer oder was ist mir bewusst? Hier frage ich tatsächlich nach dem Subjekt: „DASS arbeiten am Wochenende ziemlich unbeliebt ist.“
Schlimm ist dabei, DASS „arbeiten“ auch falsch geschrieben ist. Wer oder was ist unbeliebt? (DAS) Arbeiten. Also könnte der Satz perfekt lauten:
„DASS das Arbeiten am Wochenende unbeliebt ist.“ Möglich ist auch „zu arbeiten“.
Ich hoffe, DASS ich ein wenig zu Ihrer Selbstoptimierung beitragen konnte.
Ich bin auf der Seite von Janina R., auch wegen ihrer guten Argumente.
Ein schönes Wochenende wünscht
E. Affani

Eine junge Frau sprach mich beim Einkaufen vor dem Supermarkt an. Sie wolle ihr zweites pädagogisches Staatsexamen machen und schreibe eine Arbeit über die Professionalisierung von Lehrerinnen. Sie fragte, ob ich aus meiner eigenen Erfahrung heraus darüber ein Statement verfassen könne. Alle Versuche, die ich hier bereits geschildert habe, wenigstens halbprofessionell zu unterrichten, schrieb ich ihr offen und ehrlich auf. Ich klagte nicht an, ich konnte mich selbst ja nicht anklagen, aber ich machte schon deutlich, dass ich eigentlich neben meinen Fächern Deutsch und Geschichte nicht auch noch Politik, Musik und Informatik hätte unterrichten dürfen, dass ich deswegen auch nur halbprofessionell Mutter, Ehefrau und Hausfrau sein konnte. Aber wir durften über die uns ungerecht erscheinenden, ungleich verteilten Belastungen nicht klagen, denn dann hätte der Chef von der Bezirksregierung Probleme bekommen. Er beschwerte sich einmal doch, da erschien jemand aus dem Dezernat und der Chef musste beweisen, dass er in der Lage ist, die Stundentafel anständig zu organisieren. Maulkorbpolitik!
Lehrer und vor allem Beamte haben nicht zu klagen. Dafür dürfen sie von der Gesellschaft zusätzlich noch Prügel beziehen. Angestellte werden noch schneller krank. Die Attraktivität des Berufs geht gegen Null. Früher konnten wir wenigstens noch neben der Schule eine Familie haben. Der Lehrermangel ist anscheinend akut, Seiteneinsteiger werden angeworben. Wenn diese tatsächlich die besseren Pädagogen sein werden, ist bei der Ausbildung der Lehrer etwas oberfaul in unserem Staat. Billiger sind die Seiteneinsteiger auf jeden Fall, denn sie werden nicht verbeamtet. Ich amüsiere mich über Politiker, die mehr Geld für Bildung fordern. Ja, mehr Geld für Mensen, mehr Geld für die Kaumuskeln der Schüler wird Deutschlands Bildungspolitik retten.

Im Februar 2018 trafen sich die aktuellen, ehemalige und verabschiedete Kollegen zum letzten Mal zu einem nachweihnachtlichen Beisammensein mit einem Dreigängemenü. Trotz meiner guten Kamera waren die Fotos in dem schummrigen Lokal eben auch schummrig, aber das entsprach teilweise der Stimmung. Zwei Ehemalige hatten einen Sketch vorbereitet.
Kollege W. hat sie nicht mehr erlebt, die Hauptschüler, die Krücken, Rotzlöffel und Nervensägen, die wir in den letzten Jahren bei uns auf der Realschule hatten, weil die besseren Realschüler längst auf den Gymnasien waren. Dass eines unserer „privaten“ Gymnasien in der Peripherie sieben (!) Schülern das Abitur verweigerte, ist doch bezeichnend. Unser lokales Gymnasium nimmt fast alle auf, hat keine Aufnahmebeschränkungen mehr und vertraut darauf, dass die Schule in den nächsten Jahren in Klasse 10 (Fachoberschulreife) oder 12 (Fachhochschulreife) die Nieten abstoßen kann und wieder mehr Kinder von den Grundschulen kommen. Die Gymnasien drohen bessere Gesamtschulen zu werden. Ich erinnere mich an einen Jungen, die Eltern sind fleißige Mittelständler. Er war nett, konnte aber nicht drei deutsche oder einen englischen Satz fehlerlos aufs Papier bringen. Mit wie vielen zugedrückten Augen haben wir ihm den Q-Vermerk gegeben, um ihm die Zukunft nicht zu verbauen! Er war in Physik gut und ist es immer noch – auf dem Gymnasium! Er hat für die Schule mit anderen einen Physik-Preis geholt. Gesamtschulen fördern Stärken und stützen Schwächen. Auch einer der Kotzbrocken wurde aufgenommen, der gerade eben die Fachoberschulreife erhalten hatte. Als ich ihn traf, bat er mich, seine Facharbeit zu korrigieren. Er hatte nie Hemmungen gezeigt.
Es war zum Teil Rocky-Horror an unserer Schule. W. verklärte ins einem Sketch die Realschule bis zur Unkenntlichkeit. Es gab das Aus für das Städtische Gymnasium und die Realschule nicht „Aus politischen Gründen“, wie einer der Sketchkollegen meinte, sondern weil die Bürger die „privaten“ Gymnasien vorziehen.
Einer der Kollegen wechselte tatsächlich zur Gesamtschule. Er trug dann mit seinen Rocky-Horror-Erzählungen vor manchen Kollegen dazu bei, dass diese bereits im Ansatz ihres Entstehens demoliert zu werden drohte, ganz im Sinne der Gymnasien. Ich habe lange ganz bewusst seine negativen Schilderungen nicht weitergegeben, dafür kamen aber seine kritischen Aussagen in meinem Bekanntenkreis an und wurden lustig weiter kolportiert, wahrscheinlich hat er das alles gar nicht so gesagt, wie es dargestellt wurde. Ich habe bei der Aktualisierung der Homepage ganz vorsichtig und positiv agiert. Negative Kritik in der Öffentlichkeit erscheint genug bei den Fakebookern.
„Frau A., Sie haben uns doch gesagt, Neger sagt man nicht.“ – „Wieso? Wo habe ich Neger gesagt?“ – „Sie haben negativ geschrieben!“ Das war von dem Schüler ernst gemeint. Negertief ernst!

Mein politisches Testament

Ich wurde 1950 geboren, auf einem niedersächsischen Bauernhof, auf dem traditionell auch nach dem Zweiten WK Ackerbau und Viehzucht betrieben wurden. Uns unterschied jedoch von anderen Bauern, dass meine Großeltern Wert auf Bildung legten. Beide Kinder, der Hoferbe und seine Schwester, meine Mutter, gingen zur Mittelschule (heute Realschule). Meine Großmutter hatte wie mein Großvater „nur“ Volksschulbildung (Kl. 1 – 8), aber die war damals solide. Mein Großvater war Bürgermeister unserer Gemeinde. Wir fünf Kinder wurden 1944, 1949, 1950, 1951 und 1955 geboren. Die Älteste sah unseren Vater zum ersten Mal, als er nach über dreijähriger amerikanischer und englischer Kriegsgefangenschaft im November 1947 nach Hause kam. Mein Vater war Lehrersohn, kein Bauer, er gab 1948 als Berufsbezeichnung „Abiturient“ an, als ausgeübten Beruf „Landwirt“. Mein Onkel, der Hoferbe, starb 1943 in der Ukraine, also musste meine Mutter den Hof übernehmen. Mein Vater blieb auf dem Hof, obwohl er mit seinem Abitur in den Jahren des Wiederaufbaus in Deutschland große Weiterbildungschancen gehabt hätte. Trotz ständiger finanzieller Sorgen und großer Existenzängste schickten die Eltern uns alle auf das Gymnasium in die elf Kilometer entfernte Kreisstadt, die nur mit dem Zug zu erreichen war. Der Standardspruch lautete: „Ihr sollt es einmal besser haben.“ Die traditionelle Landwirtschaft war nicht mehr gefragt, aber zur Modernisierung des Hofes und zur Spezialisierung fehlte das Geld. Immerhin hatte meine Mutter als begeisterte Leserin einen großen Bücherschrank angelegt, sie leistete sich Bertelsmanns Lesering. Die aktuelle Lektüre bestand aus der Kreiszeitung und dem Grünen Blatt, einer Landwirtschaftszeitung. Wir schauten manchmal hinein, wenn wir Langeweile hatten, aber niemand hielt uns dazu an, uns über Wirtschaft oder Politik Gedanken zu machen. Die Zeitung wurde in handliche Stücke gerissen und als Toilettenpapier genutzt. Vier Erwachsene, fünf Kinder und bis 1970 wechselnde Hilfskräfte bei den Erntearbeiten hätten den Vorrat an gutem Klopapier rasch beseitigt.

Als ich im November 1963 eines Morgens den Bahnhof betrat, standen die meisten Schüler zusammen und weinten. Ich fragte nach dem Grund und erfuhr, dass der US-Präsident Kennedy ermordet worden war. Ich wusste nicht, wer das war, weinte aber mit, weil ich nicht für ungebildet gehalten werden wollte. Es gab ein relativ neues Radiogerät in unserer Küche, also nicht mehr einen Volksempfänger aus den dreißiger Jahren, und meine Eltern und Großeltern hörten regelmäßig Nachrichten und vor allem den Wetterbericht. Aber uns Kinder hielt man nicht dazu an, Radio zu hören. Wenn wir Küchenarbeit erledigten, hörten wir gern moderne Musik, doch wenn unser Vater dazukam, sagte er: „Stellt die Negermusik aus!“ und schaltete das Gerät meistens selbst aus. Nun sollte man annehmen, dass die fehlende politische Bildung zu Hause dann ersatzweise in der Schule stattfand. Als ich Anfang 1960 zum Gymnasium kam, gab es zunächst für mich in der Unterstufe gar keinen Politikunterricht, keinen Geschichtsunterricht, keine zusammenfassende Gemeinschaftskunde. Möglicherweise fehlten für diese Fächer auch überhaupt Lehrer, denn die ehemaligen NS-Lehrer waren entweder nicht geeignet oder im Krieg umgekommen. Religionsunterricht, so erfuhr ich vor kurzem, wurde für uns überwiegend evangelische Kinder lange Zeit von einem katholischen Theologen erteilt. Ich konnte noch keinen Gegenbeweis finden.

In seinen Stunden musste ich, etwa 12 Jahre alt, zu Beginn auf einer kleinen elektrischen Tastatur Kirchenlieder aus dem Gesangbuch einstimmig begleiten. Der Lehrer hatte zwei künstliche Füße. Wir konnten ihn durch eine einfache Frage dazu bringen, sein Unterrichtsthema zu vergessen und über seine Kriegserfahrungen in Russland und seine russische Kriegsgefangenschaft einschließlich seiner erfrorenen Füße zu erzählen. Die eindringlichste historische Bildung an dieser Schule habe ich diesem Lehrer zu verdanken und die erste Hälfte meiner pazifistischen Einstellung. Irgendwann erhielt ich auch Geschichtsunterricht, an eine Stunde namens Politik kann ich mich in all den neun Jahren nicht erinnern, wohl jedoch an Gemeinschaftskunde bei einem Lehrer, den wir Laber-Herbert nannten. Seine politische Bildung gipfelte in dem Satz: „Man kann doch nur noch die NPD wählen.“ Er vermutete hinter allen anderen Parteien entweder eine amerikanische oder eine russische Verschwörung. Ich erfuhr nichts über die Verfassung unserer Bundesrepublik, aber dass wir nicht BRD sagen und schreiben durften. Ich lernte nichts über „die da drüben“, aber dass man nicht DDR sagen oder schreiben durfte. Doch da mir der Mann unsympathisch war, hatten seine Aussagen für mich eher eine abschreckende Wirkung.

Erst nachdem ich 1969 mein Abitur mit einem für damalige und meine Verhältnisse ordentlichen Notendurchschnitt von 3,1 und einer Drei in Gemeinschaftskunde bekommen und Germanistik und Geschichte als Studienfächer gewählt hatte, begann ich politische Texte zu lesen. Ich kaufte von meinem ersten Geld, das ich aus dem Honnefer Topf – heute BAFöG – erhielt, einen SPIEGEL. Es dauerte ungefähr ein Jahr, bis ich in der Lage war, mich mit den wichtigsten politischen Begriffen auszukennen, z.B. Gewaltenteilung, Demokratie und Parlamentarismus. Ähnlich wie in Kennedys Todesjahr konnte ich 1969 im Jahr nach den Studentenunruhen mit diesen absolut nichts anfangen und hielt mich daher völlig aus der aktuellen Politik heraus. Wenn ich 1970 nicht zufällig meinen palästinensischen Ehemann kennengelernt hätte, wäre ich wohl auch nicht so informiert über den Nahostkonflikt. In der Schule kam er nicht vor. Nach drei Jahren Geschichtsstudium hatte ich natürlich mehr Sicherheit bei der Beurteilung historischer Zusammenhänge gewonnen, allerdings eher bei den Themen, mit denen ich mich intensiv auseinandergesetzt hatte, vor allem bei der Revolution 1848, der Weimarer Republik und dem NS. In den beiden Jahren nach dem ersten Staatsexamen war ich so mit dem Erwerb des didaktischen Rüstzeugs beschäftigt, das ich für mein zweites Examen brauchte, dass ich mich um meine eigene politische Bildung nicht kümmern konnte.

„Wer Geschichte unterrichtet, kann auch Politik unterrichten“, sagte mir mein erster Schulleiter, und ich durfte in den Klassen einspringen, in denen kein Politiklehrer zur Verfügung stand. Es dauerte einige Jahre, bis ich feststellte, dass es an meiner Schule nur einen einzigen ausgebildeten Politiklehrer gab. Alle Geschichtslehrer, manchmal aber auch Deutschlehrer oder andere Fachkräfte wurden in Politik eingesetzt, je nachdem, wer in welchen Stunden frei war. Die erfahrenen Lehrer unterrichteten in den oberen Klassen. Dies fand ich anfangs gut, denn auf diese Weise konnte ich mich allmählich mit den Büchern und dem Lehrplan und den Themen vertraut machen. Fortbildungen wurden mir nicht angeboten, ich suchte sie auch nicht, denn es war schwer genug, mein Familienleben mit meinem Schulleben zu vereinbaren. Da ich aber immer nur sporadisch und in vielen verschiedenen Klassen im Fach Politik eingesetzt wurde, vermisste ich immer mehr eine Kontinuität. Ich hatte dort Bildungslücken, wo ich keine Gelegenheit zum Unterrichten erhielt.

Im Geschichtsunterricht kam natürlich die Entstehung der Gewaltenteilung vor, ich kannte Verfassungen und also auch unser Grundgesetz. In allen oberen Klassen, die ich in Politik schließlich unterrichtete, bestellte ich für jeden Schüler ein Exemplar bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Schüler freuten sich, dass auf der Rückseite unsere Nationalhymne mit Noten abgedruckt war! Ich konnte nur hoffen, dass sie außer den von mir im Unterricht hervorgehobenen Artikeln, vor allem den Grundrechten, auch selbstständig im Buch lesen würden. Meine Schüler ab Klasse 8 wussten von mir, warum wir nur die dritte Strophe singen. In der Regel wurde der Geschichtsunterricht zweistündig, der Politikunterricht einstündig erteilt. Optimal war es, wenn ich in meiner Klasse außer den vier Deutschstunden auch alle drei Geschichts- und Politikstunden erteilen konnte. Dann endlich hatte ich Gelegenheit, Themen zu vertiefen und ansatzweise auch politisches Interesse bei den Schülern zu wecken. Dieser Fall trat leider viel zu selten ein. Am schlimmsten waren die Politikstunden, die mit einer Wochenstunde erteilt wurden, in Klassen, in denen ich nur diese eine Stunde unterrichtete. Die Schüler mussten lernen, mich und mein Fach Politik anzunehmen, ernst zu nehmen und trotzdem mit Humor. Auch die Schüler hatten ja Brüche hinzunehmen, sie hatten Politikunterricht oder keinen, zwei Wochenstunden oder nur eine, epochal, d.h. in einem Halbjahr und danach nicht, bei einem Lehrer, dem sie „Ahnung“ zubilligten, oder bei einem, der ersatzweise arbeitete oder gleich Mathematikübungen vorzog. Die Kontinuität fehlte. Das gleiche Problem bestand auch beim Geschichtsunterricht, vor allem als auf einen Schlag drei Lehrer mit diesen Fächern in Pension gingen.Da die Klassen also ständig wechselten, hatte ich auch selten Gelegenheit herauszufinden, was denn von meinem Politikunterricht bei den Schülern „hängengeblieben“ war. Ich hatte Klassen z.B. mit 23 Jungen und neun Mädchen oder bis zu 34 Schülern insgesamt. Da stand eher die Erziehung als die Bildung im Raum.

Klassenfahrten gingen anders als aktuell über eine Woche, ich fuhr bis 1989 fünfmal mit meiner 10. Klasse nach Berlin, ohne die Schüler oder Eltern zu fragen, ob sie nicht eine schickere Fahrt machen wollten. Ich absolvierte die vorgegebenen Pflichtveranstaltungen, um die Berlin-Förderung zu erhalten, um die Kosten im Rahmen zu halten. Denn Berlinfahrten waren immer historische und politische Fahrten. Die Schüler kehrten reifer und gebildeter von der Fahrt zurück. Leider kam ich nie auf die Idee, nach Brüssel oder Straßburg zu fahren. Ich kann kein Französisch …

Als ich 1998 in die Informatik einstieg, wurde es etwas leichter, aktuelle Themen für den Unterricht zu finden, denn die Politikbücher waren hoffnungslos veraltet. Noch Jahre nach der Einführung des Euro mussten wir mit Büchern arbeiten, in denen mit DM-Beträgen gehandelt wurde. Inzwischen könnte ein moderner Politikunterricht wohl auch nur mit dem Internet gestaltet werden. Der Wahl-o-mat gefiel schon einer Mehrheit. In meinem letzten Dienstjahr nutzte ich die vielfältigen inhaltlichen Möglichkeiten des Computers und Internets und auch die methodischen, vor allem die Präsentationsmöglichkeiten. Aber immer waren die Politikstunden zu wenig und zu kurz. Manche Themen, etwa die Flüchtlingsproblematik, kommen auch im Geschichtsunterricht vor, aber der Zusammenhang mit den Abwehrmechanismen in der Bevölkerung, den Abstiegsängsten, den Toleranzproblemen, den Nationalismen, den antireligiösen Aspekten, den finanziellen, kommunalen Problemen usw. kann man nicht einmal eben in einer einzigen Politikstunde bewältigen. Politik und politische Bildung brauchen Zeit, zum Lesen, zur Informationssuche, zum Argumentieren, Zeit zum Nachdenken, und die scheint man den Schulen nicht mehr zu gewähren. Stattdessen werden laut einem auch in meinem Lehrerzimmer kolportierten Bonmot immer wieder neue Säue durchs Dorf getrieben.

Ich denke, alle erfahrenen Lehrer denken, der nach ihnen kommenden Lehrergeneration fehlt es an Bildung. Ich weiß, dass man als junger Lehrer eben noch unerfahren ist und Lücken hat, aber auch haben darf. Man muss sie nur auffüllen können und wollen. Man muss, so wie ich die Gelegenheit erhielt, dazu eine Chance erhalten. Ich konnte zu Hause, in meiner Freizeit, am Nachmittag und immer, wenn mir danach war, an meiner politischen Bildung arbeiten. Dass die heutigen Lehrer, die oft bis zum späten Abend in der Schule gehalten werden, die kaum noch Zeit für die Familie bzw. zur Familiengründung haben, danach noch die Kraft zur politischen Bildung aufbringen, kann ich nur hoffen. Dass mehr Politiklehrer da sind und auch an die Schulen gehen, kann ich ebenso nur hoffen. Ich bin aber nicht sehr optimistisch. Dabei bräuchten wir mehr denn je junge oder alte, aber in jedem Fall engagierte Pädagogen, die dem drohenden Zerfall unserer demokratischen Ordnung entgegenwirken – die es können. Wir bräuchten Bildungspolitiker, die den Schulen nicht immer mehr Sozialarbeit und digitalen Wandel aufbürden, sondern ihnen Zeit und auch Muße zu ihrer eigentlichen Aufgabe lassen: der Allgemeinbildung, also auch der politischen Bildung.

Im Jahr 1982 wollte ich Helmut Kohl als den nächsten Bundeskanzler verhindern und trat in die SPD ein. Es hat leider nicht geholfen, sondern er blieb sogar 16 Jahre im Amt und durfte auch noch bei der Wiedervereinigung absahnen. Als Lehrer war ich zu politischer Neutralität verpflichtet und habe erst 2013 gewagt, bei den Kommunalwahlen zu kandidieren. War ich zu neutral? Hätte ich wie der Interimsdeutschlehrer meiner Tochter mit einem Lineal herumwedeln sollen, auf dem das Logo seiner Partei prangte? Ich überlasse es meinen Nachkommen, darüber zu urteilen und es möglicherweise besser zu machen.

Epilog

Mein stilles Gedenken gilt der Kollegin, die ihre Werte aus ihrem katholischen Glauben bezog und sie lebte, die unverheiratet war, bei jeder Schulveranstaltung, in der Küche oder auf dem Sportplatz mitorganisierte, unermüdlich neben ihrem Vollzeitberuf ihre Eltern pflegte, über eine unvergesslich klare Handschrift verfügte, die aber aus Erschöpfung frühzeitig aufgeben musste.

Mein stilles Gedenken gilt dem Kollegen, der mir nicht vertraute. Eine Mutter hatte mir ihr Leid geklagt. Ihre Tochter sei in allen drei Fächern, die dieser Kollege unterrichtete, mit einem Mangelhaft bewertet worden. Ich hörte dieser Mutter nur zu. Anschließend meinte sie beim nächsten Kollegen, auch ich hätte bestätigt, dass ihre Tochter bei drei Fächern dreifach unter diesem Kollegen zu leiden habe. Dieser trug das Gehörte zum ersteren weiter und sprach mich darauf an, so dass ich den Vorwurf weit von mir weisen konnte. Der erstere Kollege suchte nie ein Gespräch.

Mein stilles Gedenken gilt dem verheirateten, aber kinderlosen Kollegen, der nicht Lehrer, sondern Ingenieur sein wollte, der aber ein Auge verloren hatte und umschulen musste. Wenn er die randalierenden Schüler zu seiner Linken mit dem gesunden Auge fixierte, wurden sie von randalierenden Schülern zu seiner Rechten mit Federmappen beworfen. Sie hatte keine Chance herauszufinden, wie schülerfreundlich, gebildet und humorvoll er im Grunde war. Er ging frühzeitig in den Ruhestand.

Mein stilles Gedenken gilt dem Kollegen, der mich in meinem ersten Dienstjahr als Emanze bezeichnete und mir damit ein Kompliment machte, der in seinem letzten Dienstjahr sagte, er werde sofort seinen Dienst quittieren, wenn die Schüler ihn mit Papierfliegern bewerfen würden, sobald er sich der Tafel zuwandte. Er hielt durch.

Mein stilles Gedenken gilt der Kollegin, die nach der Scheidung mit zwei kleinen Kindern ihre Lehramtsanwärterzeit absolvierte und jeden Tag fünfundzwanzig Kilometer über die Egge zur Schule fuhr. Als ich ihr riet, doch am Ort eine Wohnung zu nehmen, antwortete sie: „Ich will doch nicht in der Provinz wohnen!“ Sie ging vorzeitig in den Ruhestand.

© Elisabeth Affani 2019