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Der Uhu in Friedrich Wilhelm Webers „Dreizehnlinden“

Vogelkundige kennen den Begriff des Hassens. Manche Vögel versuchen mögliche Feinde, Eindringlinge oder Angreifer zu vertreiben, indem sie sich auf diese stürzen, sie direkt anfliegen oder attackieren. Eulen sind Ziel der Angriffe von Greifvögeln oder Krähen, die sich vor allem in Brutzeiten zu Gruppen zusammenschließen. Eulen jagen selbst überwiegend nachts Vögel, darunter auch Tauben oder Entenküken, und in Bodennähe Igel, Kaninchen, Mäuse, Schnecken oder Regenwürmer. Zur Jagdbeute der Uhus gehören außerdem andere Eulen wie der Waldkauz und die Waldohreule.

Nur Adler können einem ausgewachsenen Uhu gefährlich werden.

Lange galt der Uhu als Jagdschädling und Konkurrent der Jäger. Heute zählt er zu den streng geschützten Arten.

 

Im Alten Testament zählt der Uhu laut Martin Luthers Übersetzung zu den unreinen Tieren, die nicht verzehrt werden durften. Im Mittelalter wurden Eulen als Hexenvögel bezeichnet. Der Ruf des Uhus in der Nacht wurde oft als böses Vorzeichen gedeutet. In einem Märchen der Brüder Grimm erschreckt der „Schuhu“ ein ganzes Dorf. Im Kinderlied „Die Vogelhochzeit“ bringt der Uhu der Braut die Hochzeitsschuhe. Bei Shakespeare ertönt der Ruf des Vogels der Nacht, als Macbeth den König ermordet. „Le Grand-duc“ – Der Großherzog – nannte Edouard Manet sein Gemälde eines toten Uhus.

In einigen Ländern der Erde jedoch und sogar in der Lausitz galt der Uhu als Glücksbringer.

Wir haben den Aberglauben abgelegt und verehren die Eule als weisen Vogel, etwa als Leseeule. Er erscheint als Symbol für Wissenschaft und Technik.

 

Welche Rolle übernimmt der Uhu bei Friedrich Wilhelm Weber?

 

Im ersten Kapitel des Versepos „Dreizehnlinden“ tritt der Uhu als mürrischer Kritiker auf. Er verhöhnt den Dichter: „Rauh sind deines Sanges Töne.“ Er fordert ihn auf: „Laß das Leiern, laß das Klimpern! / O es schafft dir wenig Holdes; / Beßres Klingen, bestes Klingen / Scheint das Klingen mir des Goldes …“

Der Dichter soll lieber die eigene Haut pflegen, im Garten Rüben und Gerste auf dem Acker anbauen. Er soll auf den „Wust papierner Träume“ verzichten. Literatur gilt dem Uhu als „öder Plunder“. Das große Ziel der großen Zukunft sei die „Einerleiheit“, die schrankenloseste Bewegung sei die wahre Völkerfreiheit.

Der Dichter nennt den Uhu einen „gelben Neidhart“, einen Vertreter der Verneinung der seelenfrohen gotterlösten Welt. Der Dichter setzt die Schönheit der Natur dagegen, das Grottenheiligtum, in dem eine stille blaue Blume träumt.

 

Im elften Kapitel erscheint der Uhu wieder. Er sitzt „einsam grollend“ in einer dunklen Felsenritze und spottet über den Knaben, der eine Meinung haben will. Weise sei es, sich selbst zu verleugnen und zu denken, was die Starken denken. Das Recht lasse sich biegen und beugen. Freiheit ist für den Uhu nur dann ein Vergnügen, wenn man auf seinen eigenen Willen verzichtet und sich fremdem Willen fügt, wenn man im Tross der Macht läuft, immer mit dem großen Haufen. Hass und die Lust am Schaden sind besser als Liebe.

Wenn zwei sich streiten, rot vor Zorn und blass vor Neid, ist es für den Uhu köstlich anzusehen. Der alte Neidhart freut sich über die gezupften und gezausten Federn und polstert mit ihnen sein Nest.

Er spottet über Tugend und Moral, über Güte und humanen Liebesdusel. Der sei gekünstelte Erregung. „Morgen macht ihr euch, ihr Frommen / Selbst das Recht zu atmen streitig.“

Wenn er nichts zu essen hat, geht er zu den Nachbarn. Nur ein dummer Gimpel lebe und sterbe auf seinem Ast. Das Vaterland gilt ihm wenig. Es sei die dümmste Liebe, ein Vaterland zu lieben, wenn man daraus vertrieben worden sei.

Das richtet sich an Elmar, den träumerischen Schwärmer, der auf seiner Flucht das Klostertor erreicht und bewusstlos vom Pferd sinkt.

 

Im 24., dem vorletzten Kapitel des Epos, gibt sich der Uhu, in einer Felsenritze verborgen, struppig, verdrießlich und böse, weil Elmar das Christenwasser genommen hat, sich also taufen ließ. Christen und Heiden seien blöde Toren.

„Keine Götter sind dort oben / Und deshalb kein Recht hienieden.“

Nur mit Waffen schaffe man sich Recht. Der Glaube sei nur Ballast. Er, der Uhu, glaube nur an sich selbst. Als Oberuhu sei er der Denker, seine Lehre werde siegen. Die schärfste Klaue bekomme das beste Stück. Heimat sei für ihn dort, wo es ihm gutgeht, wo er jagen und überleben kann.

„Jene Welt ist für die Katze, / Diese Welt gehört der Eule.“

Der Dichter antwortet dem Uhu am Ende trotzig mit einem „dennoch“. Er verzagt nicht vor dessen Hohn.

Weber sieht den technischen Fortschritt der Eisenbahn, der „dampfbeschwingten Rosse“, als Symbol einer schweren Zeit, eines neuen Babel, in dem Gold, also Geld und Macht den Glauben verdrängen. Er will den Heuchlern und Spöttern etwas entgegensetzen, „abseits der großen Straße“, er schwimmt nicht mit dem Strom, dem Mainstream. „Helf‘ uns Gott den Weg zur Heimat / Aus dem Erdenelend finden.“ Er bittet darum, für den armen Schreiber zu beten. Seine Heimat ist christlich.

 

Friedrich Wilhelm Weber nutzt den Uhu als unbeteiligten Beobachter, als negativen Kritiker, als Gegenpol, so wie Gero der Gegenpol von Elmar ist. Der christliche Widersacher fügt dem Heiden Elmar Schaden zu, obwohl dieser eine Christin liebt und Christen in Brandgefahr rettet. Darüber spottet der Uhu, über die Doppelmoral, die Tugendheuchelei. Die Christianisierung lief unter Karl d.Gr. bekanntlich nicht immer sehr christlich ab.

Die Welt ist grausam. Weber hat sie als Politiker und Arzt direkt erfahren, in einem Jahrhundert voller kriegerischer Auseinandersetzungen. Es ist eine bittere Realität, der der Dichter sein Dennoch entgegenhält, den Glauben an Gott und seine Schöpfung, also auch den Menschen, obwohl er die menschlichen Schwächen kennt. Der Leser hat die Wahl.

Konstanz Weber – der große Bruder

Teil 2: Abenteuer Auswanderung

Childe Harold heißt das amerikanische Schiff, das am 5. April 1852 in Bremerhaven ablegt. Das Ziel ist New York. Die Überfahrt dauert 48 Tage. Der Kapitän heißt McHenry, er ist für 398 Passagiere verantwortlich. Angeblich sorgt er für gute Kost, eine gute Behandlung und eine ziemlich gute Reise.

Die New Yorker Auswanderer-Zeitung berichtet von monatlich 30.000 Einwanderern, von denen mindestens die Hälfte aus erwachsenen, arbeitsfähigen Männern besteht. Die Amerikaner begrüßen alle, „Weib und Kind und Mann“, als wertvolle Neubürger. „Ist es noch ein Wunder, daß Amerika blüht?“, fragt der Autor. Er versteht nicht, warum es „Natives“ gibt, die die Einwanderung scheel ansehen.

Unter den Passagieren des Dreimasters befindet sich Konstanz Weber. „Mit westfälischer Tinte“ beschreibt er in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Wilhelm die Überfahrt und seine Tränen, weil „eine Macht von Ursachen“ ihn aus seinem Vaterland vertrieben hat. Den Betrieb im Hafen empfindet er als chaotisch, bevor alle Passagiere an Bord sind und Ruhe einkehrt. Aus der Wesermündung geht es an Norderney, an Helgoland, an der englischen und französischen Küste vorbei.

Als Dolmetscher kann Konstanz Weber sprachliche Barrieren zwischen den Passagieren und der Besatzung überwinden helfen. Als Priester kann er zwei Kinder taufen und für drei Gestorbene die Trauerfeier gestalten.

Als der eigene Proviant zur Neige geht, verteilt der sparsame Steuermann weißen und schwarzen Schiffszwieback, „so hart, daß es den Untergang der Welt überdauern kann“, Brötchen ohne Mehl, schlechten Kaffee oder Tee und später „faul gewordenes, stinkendes Trinkwasser“. Ab und zu gibt es übel zubereitete Kartoffeln, Heringe, Bohnen, Graupen, Sauerkraut, Erbsen und Reissuppe. Als die Fahrt zu lange dauert und Passagiere hungrig bleiben, kommt es zu einer Meuterei mit Plünderungen. Konstanz Weber übersetzt und schlichtet, er beruhigt den Kapitän, der Waffengewalt anwenden will.

Das Unterhaltungsprogramm enthält einen Ball auf dem Verdeck und heimatliche Gesänge im Mondschein, eine Walpurgisfeier, Andachten. Konstanz Weber sucht Trost im Gebet, mit Trauer denkt er an die Kommunion in Grönebach, die er verpasst.

Der Atlantik bietet Sturm und Flaute, Gewitter, Orkan und turmhohe Wellen. In Höhe der Neufundländer Sandbänke wird es bitterkalt. Den Männern geht der Tabak aus, sie behelfen sich mit gedörrtem Tee, Seegras aus den Matratzen und getrocknetem Kaffee.

Das erwartete Land des Friedens erreicht Konstanz Weber am 27. Mai 1852, nachts um 2 Uhr 27 deutscher Zeit. Er verbrachte 51 Tage auf dem Schiff.

 

Quelle:

Kuhne, Wilhelm: Sauerländer Gottesmänner. Nicht nur für die Seelen da …, Jahrbuch des HSK 2007

 

Leider gibt es kein Bild von Konstanz Weber.

 

Konstanz Weber – der große Bruder

Teil 1

„Konstanz war scheinbar ein intellektueller Überflieger, Künstlertyp, kein Verhältnis zu Finanzen oder Verwaltung, der in so einem Lausedorf wie Grönebach sicher völlig fehl am Platz, unterfordert und vielleicht deshalb unglücklich war.“

Konstanz? Der älteste Bruder Friedrich Wilhelm Webers kommt in der Familiengeschichte in der Regel nur als der Mentor des kleinen Fritz vor, der ihn in Paderborn auf den Besuch des Theodorianum vorbereitet und als „gestrenger Lehrmeister“ gilt.

Konstanz tritt in das Paderborner Priesterseminar ein und kommt dann in der Biografie des jüngeren Bruders nicht mehr vor. Ebenso wenig Interesse gilt in unserer Stadt dem jüngsten Bruder Louis und der kleinen Schwester Auguste.

Grönebach? Der Verfasser des obigen Zitats stammt aus diesem Ort, der heute Stadtteil von Winterberg im Hochsauerlandkreis ist. Vollends neugierig macht dann sein Hinweis darauf, dass Konstanz überstürzt nach Amerika ausgereist ist. Warum?

Konstanz Johannes Weber wird 1806 in Falkenhagen in Brandenburg geboren. Die Familie zieht nach Alhausen. Konstanz macht am Theodorianum Abitur, studiert Theologie und wird 1829 in Paderborn zum Priester geweiht. Er geht als Vikar nach Bad Driburg. Im Mai 1836 wird er nach Bühne versetzt, wo er eine Stelle als Pfarrverweser erhält. Von 1841 bis 1843 ist er Vikar in Medebach.

Im Jahr 1843 schreibt der Amtsbürgermeister in Niedersfeld, heute ebenfalls Stadtteil von Winterberg, die Stelle des Pfarrverwesers in Grönebach aus, ohne sich mit dem Generalvikariat in Paderborn abzusprechen. Der „Kaplan Konstantin Weber“ wird von diesem dennoch zum Pfarrverweser ernannt. Der falsche Vorname wird kopiert.

Der Bürgermeister bekommt Ärger, da eigentlich dem Baron von Gaugreben in Bruchhausen das Recht zusteht, die vakante Pfarrstelle zu besetzen. Die Gemeinde hat zudem das Vorschlagsrecht. Ein Gegenkandidat wird gefunden, doch in einer „Kampfabstimmung“ erhält Konstanz Weber die Mehrheit.

Ärger gibt es dann aus verschiedenen Gründen. Das Generalvikariat versucht zunächst zu schlichten.

Konstanz streicht die Frühmesse an Sonn- und Feiertagen. Er möchte eine neue Kirche bauen, weil die alte St. Lambertus-Kirche baufällig und zu klein ist. Das Pfarrhaus, die Scheune und der Stall sind in schlechtem Zustand. Drei Kühe, zwei Rinder, ein Kalb und 15 Schafe gehören zur Pfarrstelle.

Manche Gemeindemitglieder fürchten die Mehrkosten. Immerhin liefern sie ans Pfarramt zu Ostern vier Eier und zu Michaelis 23 Silbergroschen und 1 Pfennig. Auch der Küster erhält einen Teil. Das Pfarramt bringt 300 Taler ein. Zum Vergleich: Lehrer oder Förster bekommen jährlich 50 bis 60 Taler.

Konstanz Weber mischt sich in den Hausierhandel ein, in das Bauernrecht, die Holzzuteilung, die Industrieschule. Zu viele Klagen erreichen das Generalvikariat.

Und dann bedauert Konstanz Weber öffentlich, dass die Revolution 1848 gescheitert ist. Er kritisiert das Dreiklassenwahlrecht, das Großgrundbesitzer und Besserverdienende bevorzugt. Er kandidiert bei der Wahl zum Preußischen Abgeordnetenhaus, unterliegt aber einem Liberalen.

Die bischöfliche Behörde mahnt ihn mehrfach, seine Verwaltungsaufgaben gründlicher wahrzunehmen, die er vernachlässigt hat. Er hat Schulden, etwa beim Buchhändler.

Das Generalvikariat enthebt am 26. Februar 1852 Konstanz Weber seines Amtes. Ein neuer Pfarrer ist schon bestimmt. Als Begründung werden „Zweifel an der ordnungsgemäßen Verwendung des Vermögens des kirchlichen Grundbesitzes in Grönebach“ genannt.

Konstanz verkauft seine Besitztümer, Möbel, Bücher und Vieh. Anfang April 1852 bucht er in Bremen die Überfahrt nach New York.

„Entgegen dem damaligen Zeitgeist besaß Weber eine freiheitlich-demokratische Grundeinstellung. Gegen alles, was die menschliche Freiheit einschränkte, hatte er eine tiefe Abneigung. Es wundert daher nicht, dass er alles Absolutistische und Autoritäre, wofür das Königreich Preußen stand, verabscheute. Seine Grundeinstellung führte zwangsläufig dazu, dass er auch zur kirchlichen Obrigkeit ein angespanntes Verhältnis hatte“, schreibt Ewald Stahlschmidt und nennt Wilhelm Kuhne, der ihn „im Spannungsfeld der Machtstrukturen“ sieht („Die Warte Nr. 80/1993).

Konstanz Weber traut am 31. Januar 1850 seinen Bruder Friedrich Wilhelm und Anna Gipperich in Meschede, wo ihre Eltern wohnen. Zwei Jahre später wandert er aus. Sieben Jahre später, am 27. September 1859, stirbt er in Rome in der Diözese Albany.

 

Danke für die Anregungen und Texte aus Grönebach!

 

Ewald Stahlschmidt: Konstantin Weber, eine der markantesten Persönlichkeiten in der jahrhundertealten Geschichte von „St. Lambertus“ und des Kirchspiels Grönebach, De Fitterkiste Nr. 30/2021

 

Leider gibt es kein Bild von Konstanz Weber.

Schein und Sein – Im Elfenbeinturm

Hyperion Teil 3

Wer baute das siebentorige Theben? Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Wohin gingen die Maurer, als sie die Chinesische Mauer fertiggestellt hatten? Hatte Cäsar einen Koch bei sich, als er die Gallier besiegte?

In Bertolt Brechts berühmtem Gedicht aus dem Jahre 1935 stellt ein lesender Arbeiter Fragen.

Wir könnten also fragen: Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen wahr, die um ihn herum dafür sorgten, dass er in seinem Elfenbeinturm sitzen und erhabene Literatur produzieren konnte?

 

Die Familie Gontard und ihre Angestellten kamen aus der glänzenden Residenz Kassel und fühlten sich plötzlich „in eine urweltliche Umgebung versetzt“. Vor allem die schlechten Straßenverhältnisse werden erwähnt: die kahlen Berge, „schmutzige, unbeschreiblich ärmliche Dörfer und noch schmutzigere, ärmlichere holperige Wege“. Hölderlin sieht „Hütten, wo der fromme Landmann schlief“.

Der Kutscher saß bei Wind und Wetter auf einem der Pferde oder stand zeitweise auf der Deichsel und schwang die Peitsche. Er ist dem Dichter keine Zeile wert.

 

Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen in Driburg wahr, als er 1796 mit der Familie Gontard in unsere Stadt kam? Zunächst nahm er nur seine geliebte Diotima wahr, an zweiter Stelle schwärmte er von der Natur, und an dritter Stelle galt sein Interesse der Legende der Varusschlacht. Er stellte sich „Legionen erschlagener Krieger“ vor, die „mit ihrem Blut die Erde färbten“.

„In unserem Bade lebten wir sehr still.“

Der Bankier Gontard sollte ja auch möglichst unwissend bleiben.

Den erhabenen Dichter beeindruckte nicht die menschliche, sondern die landschaftliche Umgebung. Er wanderte nach Herste, von wo der Sauerbrunnen kam, der „Brunnengeist“, das Mineralwasser, das er mit Wein und Zucker genoss. Er besuchte das Glasmacherdorf Siebenstern, sah eine Schmiede in Neuenbeken. Aber wenn seine Diotima bei ihm war, flirrten die Hormone. Da war er ganz Hyperion.

Wer servierte ihm das Wasser, den Wein und den Zucker, wenn er durstig von der Wanderung zurückkehrte?

 

Rund 60 bis 80 Kurgäste, darunter Träger bekannter Namen, hielten sich im August 1796 im Bad auf. Die Stadt konnte „wegen der Ackerwirthschaft seiner meisten Bewohner nichts zur Erheiterung der Badegäste beitragen“, schreibt der Brunnenarzt Wilhelm Ficker.

Immerhin spielten bis in den Abend hinein die „böhmischen Musikanten“. Auf der „Liebhaberbühne“ des Kurhauses wurden Komödien aufgeführt, allerdings durch Kurgäste selbst. Es gab einen Raum zum Billardspielen.

Nicht so heiter war natürlich das Wecken morgens um fünf Uhr, wenn die „Dienstboten“ für die Badegäste Wasser pumpten und in den Badewannen verteilten. „Stubenmädchen“ eilten durchs Haus, über Dielen, Galerien, Promenaden, durch Säle und Säulengänge. Sie bereiteten das Frühstück vor.

Das Brunnentrinken und verschiedene Anwendungen füllten den Vormittag aus. Hölderlins Magen soll das Driburger Wasser sehr gut bekommen sein. Vielleicht saß er dann mit Diotima im Pavillon auf dem Rosenberg und schwärmte von Hermann dem Cherusker. Im besten Fall schwärmte sie zurück. Dann konnten sie sich auf das Mittagessen freuen: sechs Hauptschüsseln, drei Sorten Fleisch, etwa Wildbret, Geflügel, Forellen, Krebse, und Kuchen zum Nachtisch. Auch in seinem „sehr anständig“ möblierten und tapezierten Zimmer konnte Hölderlin sich bedienen lassen. Als Hauslehrer und Hofmeister durfte er aber auch „an gemeinsamer Tafel ohne Berücksichtigung von Rangunterschieden“ speisen.

Wer lieferte die Zutaten? Wer bereitete in der Küche die Speisen zu? Wer deckte die Tische? Wer spülte in der Küche?

 

Hölderlin könnte den Besitzer des Bades, den Freiherrn Kaspar Heinrich von Sierstorpff, kennengelernt haben. Er, anfangs begeistert von der Französischen Revolution und von der Republik träumend, erwähnt ihn nicht. Eine andere Quelle beschreibt die „Masse der Emigranten, die damals Westfalen überschwemmten und deren Gehaben er [Sierstorpff] so aus nächster Nähe beobachten konnte“. Von ihnen hatte der Freiherr „keine günstige Meinung“, während seine Frau sich „ihrer warmherzig annahm“.

Der Hausherr „ließ die alten, verwahrlosten Einrichtungen erneuern, Brunnenhaus und Kursaal errichten, die Umgebung durch Anlagen, wie den vorher kahlen Rosenberg, verschönern und verstand auf diese Weise das Ansehen des Bades […] zu heben“.

 

Wer erneuerte die Einrichtungen? Wer baute das Brunnenhaus? Wer pflegte die Anlagen?

Die Bürgerinnen und Bürger Driburgs spielen 1796 in der erhabenen Literatur keine Rolle. Arbeiter hatten in der Regel auch keine Zeit zum Lesen.

Literatur-Empfehlung:

Beatrix Langner: Übermächtiges Glück, Insel-Taschenbuch 2020

Erich Hock: „Dort drüben in Westphalen“, Metzler 1949/1995

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 2

Im ersten Teil ging es um Diotima, die zur Dichtung gewordene Geliebte Friedrich Hölderlins, die ihm kein Glück brachte. Ein Menschenfreund wurde der Dichter nicht, und auch der Staat bekommt in seinem Briefroman sein Fett ab und weg.

„Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen.

Aber was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden dürre liegt? Da hilft der Regen vom Himmel allein. O Regen vom Himmel! o Begeisterung! Du wirst den Frühling der Völker uns wiederbringen. Dich kann der Staat nicht hergebieten.“

 

Wenn man den Grad der Erhabenheit an der Anzahl des pathetischen „O“ in Friedrich Hölderlins „Hyperion“ misst, erreicht er große Höhen.

Erhaben ist zuerst die Kunst, das erste Kind göttlicher Schönheit, jedenfalls bei den Athenern.

Das zweite ist die Religion als Liebe der Schönheit, unendlich und allumfassend. „Ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürr Gerippe ohne Leben und Geist.“

 

Friedrich Wilhelm Weber ist ein religiöser Mensch. Des Himmels Huld ist sein Schirm, er lässt die Engel Gottes auch durch niedere Türen ein und aus gehen. „Dir dank ich, Gott, für jede Gabe.“

Hölderlin lässt seinen Hyperion sagen, dass er die Götter und die Menschen nicht mehr braucht. „Ich weiß, der Himmel ist ausgestorben, entvölkert, und die Erde, die einst überfloß von schönem menschlichen Leben, ist fast, wie ein Ameisenhaufe, geworden.“

Hyperion will nicht mehr zu friedenslustig, zu himmlisch, zu träge sein, er zieht in den Kampf. „Gerechter Krieg macht jede Seele lebendig.“

Hyperion schwärmt in einem Brief an Diotima von künftigen Vaterlandsfesten. Er geht heiter in den Kampf. Das kommt einigen von uns sicher bekannt vor.

Dann kommt es, wie es kommen muss. Hyperion schwärmt nicht mehr, er jammert. „O meine Diotima, hätte ich damals gedacht, wohin das kommen sollte? Es ist aus, Diotima! Es ist des Unheils zu viel.“

Auch seine Liebesgeschichte endet tragisch, Diotima stirbt einen schönen Tod. Ruhelos reist er durch Europa und:

„So kam ich unter die Deutschen.“

Hölderlin teilt als Hyperion aus, verbreitet seine Wut über die Landsleute, die seine Dichtergröße nicht anerkennen. Er bezeichnet die Deutschen als Barbaren, unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark, beleidigend für jede gutgeartete Seele.

 

Da will man doch gleich wieder zu Webers Gedichten greifen! Der fand „Ein Tal und Herzen, treu wie Gold. – Ein Städtchen dann im trauten Heimatland!“

 

Hyperion schwärmt nicht mehr, er ätzt, er verteilt Gift, als müsste er böse Kommentare in unseren „sozialen“ Medien schreiben.

 

„Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“

 

Friedrich Wilhelm Webers Welt ist auch nicht nur idyllisch. Als Arzt hat er manches bittere Schicksal, Krankheit und Tod kennengelernt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb bleibt er bescheiden und positiv.

„So zog ich aus zum fernen Ziele / Getrosten Muts bergab, bergan: / Es gibt der Täler ja so viele, / Wo man sein Hüttchen bauen kann.“

 

Und Beethoven, der erhabene Meister der Töne, der bei uns mit Hölderlin verkuppelt wurde? Der mit seiner Taubheit haderte? Er hat uns unter anderem eine Hymne hinterlassen mit Worten aus Schillers Ode an die Freude, die jeder auswendig kennt: „Alle Menschen werden Brüder.“

Hölderlin statt Weber

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 1

Es hat mehrere Ansätze gegeben, dem kleinen Städtchen Driburg am Osthang des Egge-Gebirges ein Flair zu verleihen, das es als etwas Besonderes erscheinen lässt, es über andere Orte erhebt. Heute nennt man es auch Alleinstellungsmerkmal. Mit dem Nationalpark hat es nicht geklappt.

Die Bemühungen der Familie von Sierstorpff, später von Oeynhausen-Sierstorpff, um den Ausbau der Kuranlagen gehörte eindeutig dazu. Die Einwohner der Stadt kamen nicht immer hinterher, bisweilen verharrten sie sogar in einer ablehnenden Haltung.

Als Driburg sich Bad Driburg nennen durfte, gefiel es fast allen, kurz nach einem verlorenen Krieg. Das Flair ließ noch auf sich warten. Nach dem zweiten großen Krieg war es noch schwieriger, weil auch der Kurbetrieb gelitten hatte.

Friedrich Wilhelm Weber gab der Stadt lange das Gefühl der Erhabenheit. Seine Büste findet man im Kurpark, seit 1934. Als Arzt nutzte er den Bürgern persönlich, als Politiker vertrat er sie unauffällig im fernen Preußischen Landtag in Berlin, und als Dichter rührte er ihr Herz. Die folgenden Generationen konnten gar nicht oft genug seine Verse zitieren: „Wonnig ist’s, in Frühlingstagen / Nach dem Wanderstab zu greifen / Und, den Blumenstrauß am Hute, / Gottes Garten zu durchschweifen.“ Man definierte ihn fast ausschließlich über sein Epos „Dreizehnlinden“.

Im Nationalsozialismus konnte man ihn leicht für völkisch-nationalistische Erzählungen missbrauchen. Er konnte sich nicht wehren.

Nun ist er aus der Mode gekommen.

An seine Stelle ist, auf Initiative von Annabelle Gräfin von Oeynhausen-Sierstorpff, Friedrich Hölderlin getreten. Zuletzt stellte man ihn an die Seite Ludwig van Beethovens, den er zwar nie kennenlernte, mit dem er aber dasselbe Geburtsjahr teilte. Beethovens Erhabenheit zweifelt niemand an.

Welcher Driburger könnte aber spontan einen Vers von Hölderlin aufsagen?

„Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings / Aufgegangen das Tal, wenn … Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume / Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft.“ Zu schwer.

Einfache Kost ist auch „Hyperion“ nicht. Webers Dreizehnlinden-Kloster kann man immerhin in unserer Region verorten. Hyperion schwärmt im fernen Griechenland, etwa von den geselligen Städtern in Smyrna. Sicher hätte er sie auch in unserem Badeort gefunden, wenn er es versucht hätte. Er will sich den Sitten und Gebräuchen der Bewohner anpassen, findet aber unter ihnen nicht genug Kraft und Geist.

„Es war mir wirklich hie und da, als hätte sich die Menschennatur in die Mannigfaltigkeiten des Tierreichs aufgelöst, wenn ich umher ging unter diesen Gebildeten. Wie überall, so waren auch hier die Männer besonders verwahrlost und verwest.“

Geistesschönheit und Jugend des Herzens vermisst er.

„Sahn jene Menschen einen Funken Vernunft, so kehrten sie, wie Diebe, den Rücken.“

Da möchte man doch lieber wieder Webers Idylle sehen: „Das ist dort hinter den Weiden, / das Dörfchen treu und gut, / Der einzige Winkel der Erde, / wo meine Seele ruht.“

Hölderlin hätte mehr als drei Wochen in Driburg bleiben sollen. Er hätte in Webers Dörfchen, Alhausen, sein pessimistisches Welt- und Menschenbild ändern sollen. „Komm! ins Offene, Freund!“ schreibt er doch zu seinem Gang aufs Land. Er hätte zur Iburg wandern sollen, wo er dem Himmel näher gewesen wäre. Stattdessen zieht er sich zurück. „Weder die Berge sind noch aufgegangen / des Waldes Gipfel nach Wunsch.“

„Ich war es endlich müde, mich wegzuwerfen, Trauben zu suchen in der Wüste und Blumen über dem Eisfeld.“

Weber begegnet den Widrigkeiten des Lebens pragmatischer, und wenn es hart wird, sucht er Trost im Glauben. Hölderlin fehlt solch ein Anker.

„Pathos, Schönheitssinn, Erhabenheit besitzen ja heute keine große Konjunktur mehr“, sagt ein Hölderlin-Experte. Vielleicht hat er unrecht.

Ostwestfälische Fröhlichkeit oder: Weber in der Bütt? „Jetzt war, vom Weine feucht, die Zunge los!“

Natürlich ist die Szene urkomisch, die unser Lokaldichter Friedrich Wilhelm Weber im Vorspann seines „Goliath“ schildert. Eine kleine Runde sitzt am Tisch der Gastgeberin, man ist beim Nachtisch angekommen. Die Dame des Hauses gibt dem Diener Friedrich einen Wink, das Dessert aufzutragen. Der aber, „ein frommes Blut vom Lande“, versteht ihre Aufforderung falsch und bringt die Küchenlampe. Bevor die Situation peinlich wird, brechen alle Gäste in fröhliches Gelächter aus.

Die Geschichte von Olaf, der wegen seiner Größe und Stärke Goliath genannt wird, ist nicht sehr fröhlich. Er arbeitet für zwei auf dem Hof des Bauern Knut, der sprichwörtlich zum Lachen in den Keller geht. Als der ihn vom Hof jagt, weil er es gewagt hat, seiner Tochter schöne Augen zu machen, erlebt Olaf nur noch die Natur als Freudenfest, den Bach und den Wind, die lustigen Bergkobolde. Auf dem Hof verlernt jedermann „Lied und Lachen“.

Der Dichter greift eine nordische Sage auf und beschreibt, wie Gott den Riesen Fäl straft, weil er am Karfreitag „in frechem Übermut zum Tanze pfiff, so wild und stürmisch, dass die Mädchen jauchzten“. Alle erstarren zu schwarzem Stein!

Da kann man nur hoffen, dass die Sachsen am Fuß der Iburg in Webers „Dreizehnlinden“ besser wegkommen. Immerhin greifen sie in Frühlingstagen wonnig nach dem Wanderstab, stecken sich einen Blumenstrauß an den Hut und ziehen nach dem langen Winter singend durch das Tal. Aber dann liest man von ihren Kämpfen mit dem „Landesfeind“, von einer weinenden Jungfrau, von rachelüsternen alten Frauen, die einem Mann an den Bart gehen, vom „Helden“, dem zähen, herben, ehrlichen Westfalen. Da könnte man schmunzeln, wenn nicht gleich der Uhu dazwischenginge: „Lass das Klimpern, lass das Leiern!“

Himmel, ist denn das Leben nur ernst und „Moloch unserer Tage“? Auf die Sachsen folgen die freudlosen Franken und dann auch noch die Preußen? Können bei Weber nur die Brunnen lustig hüpfen? Ora et labora?

Die sturen Heiden feiern „auf der Iburg stumpfem Kegel“ die Sonnenwende, essen und trinken, die Angst vor den Franken im Nacken.

In Webers Kloster nach Büttenreden zu suchen ist aussichtslos. Die Mönche brauen jedoch auch. Der Küchenmeister verwertet Kiebitzeier und sorgt für „Fastenspeise! Zwar genießbar / Ist die Welt in manchen Stücken, / Und mir deucht, zum Osterfeste / Gibt es einen Hirschkalbsrücken“. Die Brüder singen, aber nur zu Gottes Preis und Ehre.

Auf Webers Habichtshof geht es ähnlich humorlos zu. Die Sachsen brauen Met und zechen tapfer, bei Tisch gehen sie mit dem Trinkhorn bescheiden um, der Bischof von Paderborn und Kaiser Karl sitzen ihnen im Nacken. Im Herbst feiern sie das Erntefest, singen Stoppellieder. Wer getauft ist, fühlt sich stark und verspottet die Ungläubigen. Die Musikanten spielen auf. „Brauner Met, ihr wackern Leute, / Harrt auf euch in vollen Krügen; / Trinkt und esst und dann im Tanze / Lasst die Mädchenzöpfe fliegen.“ Das Volk sitzt auf der Tenne und lässt sich Kraut und Schinken schmecken. „Iss und schweig!“ Die Franken hören mit.

Damit die Füße beim Tanzen besser gleiten, hat man Wacholdernadeln auf den Boden gestreut. Die holden Frauen sitzen an der Seite und etwas höher als die Männer. Das Methorn macht die Runde. Kostbarer Riesling wird eingeschenkt, auch die Damen dürfen mit anstoßen. Wie es dann leider oft kommt, kommt es zum Streit. Gero und Elmar kabbeln sich, die Lage eskaliert. Die Feier ist vorbei, Frieden und Frohsinn sind fortgeflogen.

 

Zum Glück sind dies alles alte Geschichten. Auf der Iburg stumpfem Kegel wird nicht mehr gefeiert. Driburger trinken keinen Met, kein fermentiertes Drachenblut, allenfalls als Medizin. Driburgerinnen tragen keine Zöpfe, dagegen fast alle Männer Bärte. Kein Kaiser treibt mehr einen Zins und Zehnten ein, da fällt ein guter Grund zum Zechen weg. Vor den Franken muss sich niemand mehr hüten. Der Erzbischof ist in Rente gegangen. Es könnte allerdings sein, dass er Pastor Lauschus beauftragt hat, in die Bütt zu gehen und von dort ein wenig auf die Schäfchen zu achten. Helden- und Kampfgesänge sind verstummt. Getanzt wird einträchtig nach frommen Klängen wie „La-la-la-Layla“. Alkoholfreies Bier ist der Renner. Helau!

Weber-Rezeption in Bad Driburg

„Weit entfernt ist der Realist Weber von schwärmerischer Heimattümelei.“ (W. Freund)

Im Jahrbuch der Weber-Gesellschaft von 1987 schrieb Johannes Heinemann: „Webers literarisches Werk ist von der Fachwelt sehr unterschiedlich beurteilt worden. Neben hohem Lob steht die völlige Ablehnung.“ (S. 16) Leider nennt Heinemann keine Quellen für das zweite.

Im gleichen Band fragt Winfried Freund, „ob nicht gerade das intime Geschehen des ‚Goliath‘ in unserer Zeit wieder größere Anteilnahme hervorrufen könnte“, und setzt das Werk von „Dreizehnlinden“ ab (S. 31). „Intim“ würde man heute im Jahre 2021 anders verstehen, als Freund es verstand. Der „Goliath“ ist persönlicher, realistischer, ohne Mystik, ohne ideologische oder religiöse Überhöhung. Er enthält eine tragische Liebesgeschichte, bei der moderne Leser heute ruhig den Kopf schütteln können. Aber wer regelmäßig im Ersten die „Tatort“-Folgen genießt, wird auch den „Goliath“ nicht mit rein objektiven Maßstäben messen.

Freund urteilt 1987 auch, dass es der „Goliath“ verdiene, „über die regionalen Grenzen hinaus bekannt zu werden“ (32). Sein Urteil scheint in Bad Driburg nicht wahrgenommen worden zu sein. Als Hermann Sömer † mich bat, eine Lesung im Weberhaus in Alhausen zu gestalten, gefiel es ihm gar nicht, als ich ihm statt „Dreizehnlinden“ den „Goliath“ anbot. Sömer hatte gerade stolz den neuesten Film über Weber der Öffentlichkeit vorgestellt und auch darin die Geschichte von Elmar und Hildegunde in den Mittelpunkt gerückt. Damit war die Möglichkeit vertan, die modernere, zeitgemäßere Seite des Lokaldichters zu zeigen. Das nationale Pathos des 19. Jahrhunderts, das im Nationalismus des 20. Jahrhunderts mündete, ist im 21. Jahrhundert endgültig aus der Zeit gefallen. Die weiter abnehmende Frömmigkeit, die von Weber erkannte und beklagte zunehmende Säkularisierung, gegenwärtig verbunden mit Kirchenaustritten bei den beiden führenden Konfessionen, lässt die literarische Auseinandersetzung mit der längst vergangenen Epoche der Anfänge des Christentums überflüssig erscheinen.

Die Themen des „Goliath“ sind, wie Winfried Freund erläutert, allgemeinmenschliche, zeitlose, und daher – leider – immer noch aktuell. Der Leser erlebt die heile Welt einer heilen Familie mit idealen, liebenden Eltern und einem liebenden Kind, in die plötzlich der Tod in Form eines Erdbebens einbricht. Die Idylle wird zerstört. Der Leser erfährt die Kehrseite des Ideals: Ein tyrannischer, reicher Bauer herrscht über seine Familie und seine Arbeiter und verharrt in autoritären Strukturen. Auch in seine Familie dringen Katastrophen, die er nicht verhindern kann. Er betäubt seinen Ärger und seine Hilflosigkeit mit Alkohol. Das ist ein Thema, das auch für heutige Familien durchaus Bedeutung haben kann.

Moderne Eltern nehmen auf die Partnerwahl ihrer Kinder in der Regel nur wenig Einfluss. Insofern ist der Gehorsam der Tochter, die auf den geliebten Mann und daraufhin jede andere Partnerwahl verzichtet, heute nicht mehr nachzuvollziehen. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Jedenfalls gilt dies in verfassungsmäßiger, rechtlicher Hinsicht. Die Realität kann davon abweichen.

„Geld macht nicht glücklich.“ Dieser Spruch wird in einer Gesellschaft gern ironisiert, die im Vergleich zu früheren Jahrhunderten über großen allgemeinen Wohlstand verfügt. „Kein Geld macht auch nicht glücklich“, heißt der Gegenspruch, oder „Geld allein macht nicht glücklich, aber es kann beruhigen“. Ein Ideal wäre auch heute, reich und gleichzeitig glücklich, also den gewünschten Partner zu heiraten. In den meisten Fällen möchten Eltern ihre Kinder glücklich sehen.

Von unserer Gleichberechtigung war Webers Zeit weit entfernt, aber dass er einen Begriff von partnerschaftlicher Liebe hat, ist zu seiner Zeit beachtlich. Mag sein, dass die Eltern und besonders die Mutter hier Einfluss genommen haben, und Weber hat es im hohen Alter noch verinnerlicht.

Manchmal erreichen Eltern, wenn sie die Partnerwahl ihrer Tochter oder ihres Sohnes ablehnen, gerade das Gegenteil des Gewünschten. Kluge Eltern unserer Zeit wissen das und halten sich entsprechend zurück.

Ein behindert geborenes Kind ist auch heute noch für die Eltern und die Familie problematisch, während der Lebenszeit Webers und bis ins 20. Jahrhundert hinein war es ein tragisches Schicksal. An die Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten kann in diesem Fall ebenso erinnert werden. Im „Goliath“ verstärkt die Geburt des „schwachsinnigen“ Erik die Verzweiflung und den Alkoholismus des Vaters, der gern einen gesunden männlichen Erben hätte. Aus unserer heutigen Sicht mit unserem Bemühen um Inklusion und Teilhabe ist sein Verhalten inakzeptabel, aber eine solche Reaktion ist auch heute noch möglich. Weber verurteilt den Vater nicht, aber er führt dem Leser vor Augen, wie jemand verbittert, der sich mit seinem Schicksal nicht abfindet und seine Umgebung darunter leiden lässt. Als behandelndem Arzt ist Weber dieses Thema in den Familien sicher häufiger begegnet.

 

Liebesgeschichten kann man unter der Rubrik Romantik und Kitsch abtun, aber sie sind nach wie vor Standard in unserer Belletristik. Auch ein Blick auf die Fernsehprogramme zeigt, dass weiterhin reges Interesse an ihnen besteht. Daher ist auch die Liebesgeschichte zwischen Olaf, dem armen Goliath, und Margit, der reichen Bauerntochter, in all ihrer Klischeehaftigkeit noch längst nicht aus der Zeit gefallen. „Unter seinem Stand“ zu heiraten ist allerdings kein Thema mehr, die meisten dieser Geschichten haben in der entsprechenden Literatur einen glücklichen Ausgang, ein Happyend. Bei Weber fehlen allerdings die inzwischen gelockerten Normen, im „Goliath“ geht es hochmoralisch zu. Olaf erlaubt sich nicht mehr, als Margits Hand zu ergreifen. Was an dem einzigen Tag in all den späteren Jahren geschieht, wenn Margit Olaf in seiner Klause in der norwegischen Bergeinsamkeit besucht, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. „Ihr Mund hat niemals meinen Mund berührt“, betont Olaf, der „Goliath“.

Margit und Olaf reagieren auf die gleiche Art, sie verzichten auf die Ehe und Familie und versuchen mit dem Alltag, der vor allem aus Arbeit besteht, zurechtzukommen. Die jungen Menschen heute können dafür Verständnis entwickeln, auch wenn ihre Zukunftspläne und -aussichten sich davon grundlegend unterscheiden. Aussteiger kommen auch in unserer leistungsorientierten, materialistischen und kapitalistischen Gesellschaft noch vor.

Der Traum vom ewigen Bestand der Liebe zweier Menschen zueinander ist altmodisch, aber dauerhaft. Winfried Freund überhöht bei seiner Erklärung der dichterischen Rührseligkeit den moralischen, didaktischen Aspekt. Ausdrücke wie die Versagung, der heroische, sittliche Willen, der sittlich wollende Mensch, die Brandung widriger Umstände und sieghafte Selbstbehauptung der Persönlichkeit (S. 40) kann man vor allem der jungen Generation der Gegenwart nicht mehr vermitteln, auch nicht den Bezug zum biblischen Sündenfall. Entscheidend für die Verurteilung und Versenkung oder die erfolgreiche Entstaubung des Dichters und seines Werkes wird sein, wie wir sprachlich mit ihm umgehen.

Der bis zum Überdruss wiederkehrende Hinweis auf Weber als Dichter des Dreizehnlinden-Epos verdeckt auch eine Würdigung seiner Balladen. Winfried Freund ordnet ihre „Blüte“ der Phase des Realismus zu, „weil es in situativ konkreter Zuspitzung die Darbietung elementarer Konflikte und exemplarischen Verhaltens aus objektiver Distanz ermöglichte“ (S. 47). Ein „populärer“ Dichter darf dem Populus auf diese Weise nicht angeboten werden. Literatur- und sprachwissenschaftliche Analysen und Interpretationen kommen in der Regel beim „Volk“ nicht an, weil sie – zu Recht – in eben diesen speziellen Regalen abgelegt werden.

Das ist schade. Die Erzählung vom Handschuh, die Weber dem Pömbser Pfarrer Gerhard Lödige zuschreibt, könnte im positivsten Sinn nicht volkstümlicher sein. Schillers „Handschuh“-Ballade mit dem Tiger, der den Leu scheu umgeht, ist sprachlich nicht moderner und inhaltlich nicht aktueller.  Nichts spricht dagegen, einige Balladen Webers in Bad Driburger Schulen „exemplarisch“ zum Unterrichtsstoff zu machen. Die Pömbser würden sich freuen, vor allem die in der Gerhard-Lödige-Straße wohnenden.

Dazu müssten die Lehrerinnen und Lehrer die Balladen aber kennen. Wenn sie schon beim Dreizehnlinden-Epos die Achseln zucken, weil man ihnen nur damit kommt, werden sie auch die anderen Dichtungen kaum anschauen. Winfried Freund schreibt 1987 über den „Handschuh“: „Keine großen Worte fallen, kein spektakulärer Fall wird hier mit balladischem Pomp inszeniert.“ (S. 48). Das ist geradezu eine Einladung zu einem neuen Bild von Weber, dem diese Schlichtheit auch gerecht wird.

Absolutistische Härte kann man an der Ballade „Der Wildschütz“ nachvollziehen. Webers „König Jerôme“ und Heinrich Heines „Romanzero“ eignen sich zum Vergleich.

Über einen „Zwischen Halde und Heerweg“ erfrorenen Obdachlosen dürften auch heutige Jugendliche in den Schulen nicht achtlos hinwegsehen.

Im Jahr 2019 erschien von Christian Neef das Buch „Der Trompeter von Sankt Petersburg: Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“, in dem er u.a. den Tod des Trompeters Oskar Böhme dokumentiert. Webers Ballade „Zwei Trompeter“ könnte in diesen Zusammenhang gestellt werden und einen Beitrag zur Friedenserziehung leisten.

Joseph Victor von Scheffel und sein „Trompeter von Säckingen“ sind in die Stadtgeschichte eingebunden, der Dichter wird in einer eigenen Website dargestellt und vermarktet. Säckingen hat 4000 Einwohner weniger als Bad Driburg. Die Liebesgeschichte des Trompeters erinnert an die von Olaf und Margit. Von Scheffel wurde nach Weber geboren und starb vor ihm. Auch von ihm gibt es Prachtausgaben.

Natürlich ist beim Einsatz im Unterricht der Einsatz der Lehrkräfte gefragt, denn fertige Interpretationen gibt es nicht.

„Webers Balladendichtung kann den Zugang zu seinem Gesamtwerk neu eröffnen“, schreibt Freund (S. 61). Ohne die Deutschlehrerinnen und -lehrer wird dies kaum gelingen. Da hilft kein Kräutergarten hinter Webers Geburtshaus in Alhausen.

Das nationale und religiöse Pathos von „Dreizehnlinden“ kann man mitsamt dem Stempel und der altertümlichen Sprache getrost in die Schublade mit dem Schild „Ablage“ geben. Dort gehört auch der Stempel „Heimatdichtung“ hin. Dann wird auch ein Nachdenken über die Anteile an diesem Dichter in Bad Driburg, Thienhausen und Nieheim beendet werden können. Winfried Freund betont zu Recht, dass Weber von Heimattümelei weit entfernt sei (S. 50).

Er gibt den Bad Driburgern für den Umgang mit ihrem Lokaldichter – vielleicht unbewusst – Arbeitsanweisungen: „Illusion ist es zu glauben, sich vor den Geschichtsabläufen in der heimatlichen Enge abkapseln zu können“ (S. 53). Immer wieder den Beginn von Dreizehnlinden („Wonnig ist’s in Frühlingstagen“) zu zitieren stellt diese Enge dar. Aus einem Tal kommt man leicht wieder heraus, es ist nicht eingemauert.

Sachlich korrekt müssen die Angaben in jedem Fall sein. Wenn die jetzigen Besitzer des Schlosses Thienhausen auf ihrer Webseite behaupten, dass Weber, „Leibarzt“ von August von Haxthausen, bis zu seinem Tod in Thienhausen gewohnt hat, hätte ein Blick in das einschlägige Online-Lexikon sie eines Besseren belehrt. „Dieser verbrachte auf Thienhausen die letzten Jahre seines Lebens (gestorben 1894) und verfasste dort sein Versepos Dreizehnlinden, das von der Christianisierung unserer Region handelt. Das epische Werk erlebte hohe Auflagen und zählte in manchen Gegenden Deutschlands als obligatorische Schullektüre.“

Wer wie die „Schloss Thienhausen Event e.K.“ Weber auf diese nachlässige Weise mit Staub bedeckt, kann seine Erwähnung auch sein lassen.

Aber Bad Driburg hat nur diesen einen Dichter. Wir sollten ihn nicht wie ein altes Stück Seife in den Kulturbeutel stecken. Machen wir etwas Modernes daraus!

Friedrich Wilhelm Weber – ein genialer Dilettant?

Als ich 1977 nach Bad Driburg kam, hörte ich zum ersten Mal von einem Arzt, Politiker und Dichter namens Friedrich Wilhelm Weber. Ebenso unvorbereitet hatte mich die Änderung des Themas meiner Examensarbeit an der WWU Münster durch einen Prüfer aus Detmold getroffen. Ich wollte über die Rezeption von Gottfried Benn im Nationalsozialismus schreiben, der Prüfer ersetzte Benn durch Christian Dietrich Grabbe, den ich so wenig kannte wie Weber. Ich rümpfte über den Provinzialismus und Lokalpatriotismus ein wenig die Nase. Aus meinem Heimatkreis Diepholz war kein Lokaldichter hervorgegangen, nur Hermann Löns war mir von Zeit zu Zeit begegnet, vor allem seine Lieddichtung. Niemals hätte ich ihn in die Reihe künstlerisch wertvoller Literaten eingeordnet. Der Ruch des Nationalismus hing an ihm.

Die aufgelöste Realschule in Bad Driburg trug von 1970 bis 2018 den Namen des in Alhausen, dem heutigen Ortsteil von Bad Driburg geborenen Weber. Die Reihenfolge Arzt, Politiker und Dichter stammt von Johannes Heinemann und der Weber-Vereinigung – Vereinigung der Freunde des Dichters Friedrich Wilhelm Weber –, die 1995 in Friedrich-Wilhelm-Weber-Gesellschaft e.V. umbenannt wurde.

Bei Jubiläen dienten Teile des Werkes als Grundlage für Vorträge und Spielszenen auch mit Schülern. Die Weber-Gesellschaft blieb erstaunlich verborgen. Die Stadt unterstützte die Bemühungen, aus Webers Geburtshaus in Alhausen eine sehenswerte Gedenkstätte zu machen. Der Garten stand zuletzt im Mittelpunkt des Interesses. Zur 200-Jahr-Feier des Geburtstages 2013 konnte das Weber-Museum fein herausgeputzt präsentiert werden.

Die Stadt hatte den Lokaldichter abonniert. Es gab keinen anderen, wenn man von Hermann Fromme und einigen Gelegenheitsdichtungen absieht, die im Mitteilungsblatt abgedruckt waren.

Nach dem Tod des letzten Vorsitzenden Hermann Sömer 2018 und durch die Corona-Pandemie ist es sehr still um die Gedenkstätte und die Weber-Gesellschaft geworden.

Unter den Kolleginnen und Kollegen Germanisten gab es keine Diskussion über den Wert der Weberschen literarischen Erzeugnisse. Er galt in Bezug auf Inhalte und Sprache als verstaubt, provinziell, altbacken, nationalistisch und von daher indiskutabel. „Den kann man heute nicht mehr lesen!“ war die einhellige Meinung. Die Produktion von temporärem Lokalkolorit nahm man hin.

Propagiert wurde Weber als Dichter des Epos „Dreizehnlinden“, der die Überwindung des sächsischen Heidentums durch das fränkische Christentum besingt. Unermüdlich, aber nicht übermäßig überzeugend stellten Stadt und Weber-Gesellschaft ihn als Heimatdichter auf einen Sockel. Damit weckten  sie bei manchem literarisch Gebildeten unliebsame Assoziationen mit den Nationalisten und Nationalsozialisten. Das Bestreben, die ostwestfälische als westfälische Region darzustellen und Weber als westfälisch geprägte Persönlichkeit mit Vorbildcharakter, stieß bei jüngeren Menschen eher auf Abneigung. „Glaube, Sitte, Heimat“ als Motto auf den Balken der Schützenhäuser mochte man noch hinnehmen. Aber der strenggläubige Katholizismus, den man Weber unterstellte, war ebenso verdächtig wie der kitschige Heimatbegriff. Schriftsteller wollte man international, kosmopolitisch und allgemeingültig, also zeitlos wahrnehmen.

Die Schüler zwingt man heute nicht mehr zum Lesen, man motiviert sie. Schülerredakteure stellten ihre Sicht 1988 in einer Karikatur auf dem Titelblatt der Schulzeitung dar. „Hör auf zu dichten, Friedrich! Aus dir wird nie was!!!“, sagt ein unsympathisch gezeichneter Lehrer und schlägt dem schreibenden Jungen mit dem Lineal auf den Kopf. „Ist ja gut, ich bin doch schon lange tot!“ lautet die Bildunterschrift.

Die Büste Friedrich Wilhelm Webers wurde nicht zufällig 1934 im Kurpark aufgestellt. Nach der Verbrennung und Verbannung unliebsamer Bücher arbeiteten überall im „Dritten Reich“ Heimatbünde mit den Machthabern zusammen. Der Westfälische Heimatbund war bereits 1933 auf deren Linie geschwenkt.

„Bei den ‚Klassikern‘ der westfälischen Literatur (Droste, Weber, Freiligrath, Grabbe) wurde dagegen das ,Westfälische‘ krampfhaft herausdestilliert und verabsolutiert“, schreibt Walter Gödden (S. 6). Die Heimatbewegung lieferte die Schubladen mit genehmen Autoren, westfälischen vor allem. Der Westfälische Provinzialverband stiftete 1935 den Westfälischen Literaturpreis. Gödden beschreibt, wie die Beziehung zu Westfalen, die geforderte Heimattreue, dominant wurde. Gefördert wurden provinzielle Kulturpolitiker und Heimatdichtung, durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe auch noch nach 1945.

Hatten vor 1933 noch Religion und Moral die größere Rolle gespielt, war es danach die Kompatibilität mit nationalistischen Zielen.

In den katholischen Regionen Ostwestfalens, im Hochstift vor allem, spielte die volkstümliche Dichtung des Katholiken Weber – den Protestantismus des Vaters ausblendend – eine traditionell größere Rolle. Allerdings unterschieden die Akteure nicht mehr zwischen volkstümlich und volkstümelnd. „Man klammerte sich fast ängstlich an den Begriff des Westfälischen“, erklärt Gödden (S. 8). Indem man die Grenzen Westfalens in der Literatur nachzog, grenzte man die Literatur ein.

Auch Weber, der sich der Enge seines „Dörfchens treu und gut“ während seines Lebens immer mehr entzog, wurde genau auf diese Grenzen reduziert.

Zum Volkstümelnden kam das Deutschtümelnde. Ob Webers Literatur ästhetisch anspruchsvoll oder innovativ war, wurde nicht gefragt. Dass er sich in die Tiefen der germanischen und nordischen Literatur zurückzog, wurde als besonders inniges Geschichtsbewusstsein gedeutet. Der Kampf der (heidnischen) Sachsen gegen die (christianisierten) Franken wurde überhöht, dass aus guten Germanen gute Christen, aber vor allem gute Deutsche und gute Westfalen werden konnten, das begeisterte das Volk. Weber konnte sich nicht mehr wehren.

„Literatur wurde in diesem Kreis hauptsächlich unter nationalem Aspekt gesehen“, konstatiert Gödden (S. 11).

Webers Biograf Julius Schwering (1863 – 1941) war Literaturprofessor in Münster, Experte für deutsche Sprache und Literatur. Er sah die Universität als „westfälische Hochschule“, die von dem „alten Kulturboden“ abhängig war (Gödden S. 11). Diese hatte „westfälisches Geistesleben, insbesondere der heimatlichen Dichtung“, die Dichtung der „Roten Erde“ zu erforschen, als deren „Sohn“ er sich empfand.

Die Literaturforschung war völkisch-nationalsozialistisch, es tümelte: Volkstum, Schrifttum, Westfalentum, Deutschtum, Germanentum. Der Volks- und Stammescharakter zählte.

„Provinzielle und nationalsozialistische Literaturauffassung bewegten sich immer mehr auf einander zu“, schreibt Gödden (S. 12).

Wolfgang Rinschen beschreibt den Buchschmuck des „durchaus beachtlichen“ „NS-Künstlers“ Albert Reich für die Prachtausgabe von 1928 und die „eindrucksvollen Stimmungsbilder“. Reich idealisiere das rassistische Menschenbild des Unrechtstaates und lasse Elmar als kraftstrotzenden Helden, Hildegunde als tugendsame nordisch-arische Frau mit blonden Zöpfen auftreten. (52/53)

„Wer geboren ist im Gaue der alten Sachsen“ – so zitiert Rinschen Heinrich Deiters –, der lehnt heute diese Klischees ebenso ab wie der Zugezogene. Der Zwang zur Identifikation kann sich ins Gegenteil verkehren.

Webers Tochter biederte sich den Nazis an und unterstützte sie in Nieheim. Rinschen bezeichnet sie als „Hitlers beste Wahlkämpferin“ (65). Auch das erzeugt bei heutigen Demokraten eher Abneigung, auch wenn Existenzangst bei Elisabeth Weber das Motiv war. Ebenso unangenehm erscheint heute das Bemühen des Schöningh-Verlags nach 1933, mit Etiketten wie „urgermanisch“ neue Auflagen zu promoten. Es ist gut für die Rezeption, dass „Dreizehnlinden“ in der NS-Zeit aus den meisten schulischen Lehrplänen gestrichen wurde. Rinschen begründet dies: „Webers Ideale der Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Konfliktüberwindung stehen den nationalsozialistischen Erziehungszielen konträr gegenüber.“ (68)  

Ich halte in diesem Zusammenhang auch die religiöse Komponente für wichtig. Die Kirchen unterstützten das menschenfeindliche Regime nur bedingt, der Widerstand wurde mit der Judenverfolgung stärker. Driburger Straßennamen belegen, dass Geistliche, auch Bürger der Stadt, zu Opfern der Terrorherrschaft wurden: Pater Riepe, Eduard Müller, Dechant Wilhelm Becker. Die Christianisierung war für die Nazis kein Thema, sie brauchten Weber nicht.

Nach 1945 musste sich die Literaturwissenschaft mühsam wieder aus diesen engen Fesseln lösen. Als Clemens Heselhaus über die Frage „Was ist das eigentlich Westfälische an der westfälischen Literatur?“ referierte und den Begriff „westfälisch“ als irrelevant zerlegte, löste er einen Sturm der Entrüstung aus. Er behauptete: „Die Dichter aus Westfalen hätten keinerlei

Gemeinsamkeit, es gäbe [gebe] keine innerregionale Traditionsbildung, vielmehr hätten die Autoren jeder für sich geschrieben, seien eher geniale Dilettanten gewesen als Repräsentanten ein und derselben westfälischen Literaturschule. Auch sei Literatur in Westfalen immer die Sache einer kleinen Minderheit gewesen; weder bei Grabbe, Freiligrath, Friedrich Wilhelm Weber oder der Droste sei etwas spezifisch Westfälisches auszumachen, ja das Westfälische sei überhaupt eine Mystifikation; es stehe ein für falsches Pathos, und auch der Geist von Blut und Boden schwinge noch gehörig mit.“ (Gödden S. 15)

Gödden bemerkt über Heselhaus‘ Rückzug an die Uni Gießen: „Er war es offensichtlich leid, sich mit Berufswestfalen herumzuzanken.“ (S. 16)

Friedrich Wilhelm Weber als genialen Dilettanten zu sehen ist nicht besonders schwer. Sein Hauptberuf war der des Mediziners, damit ernährte er seine Familie. Der zweite Beruf, der des Abgeordneten im Preußischen Landtag, brachte ihm eine Abgeordneten-Entschädigung, Tagegelder (1876: 15 Mark) und Reisekosten-Erstattungen. Dass ihm zum Lesen, Dichten und Übersetzen überhaupt noch Zeit blieb, verdankt er zu einem großen Teil der Entfernung von seiner Familie, zum andern der Unterstützung dieser Familie, seiner Frau und vor allem seiner ledig gebliebenen Tochter Elisabeth.

Außerdem waren seine literarische Tätigkeit und seine Kenntnis verschiedener Sprachen auch das Tor zur Welt. Über sie hielt er Kontakt zu vielen literarisch Gebildeten, bis nach Skandinavien.

Nach 1945 distanzierten sich seriöse Literaturwissenschaftler von der Art der Rezeption, die die Nationalsozialisten gepflegt hatten. Gödden zufolge waren deren regionalen Bezüge Zeichen ihrer „restaurativen Ideologie“, sie hatten „zweit- und drittklassige Heimatautoren“ gefördert.

Im Jahre 2013 gab die Weber-Gesellschaft eine Festschrift heraus, in deren Titel der Dichter Weber zwischen dem Arzt und Politiker stand. Der Untertitel lautet: „Ein ungewöhnlich populärer Westfale“. Das Berufswestfalentum kam wieder zum Vorschein. Ihn 2013 noch oder wieder populär zu nennen war dem Bemühen zu verdanken, Weber zum Werbeträger zu machen. Der Landrat zitierte im Grußwort einen Zeitungsartikel: „Der große Dichter und Arzt imponiert durch die reiche Fülle vorbildlichen Menschseins.“ Weber habe einen „Auftrag in der Welt“ gehabt, immer hätten für ihn „die Mitmenschen“ im Mittelpunkt gestanden. Er habe „Ruhm weit über seine Heimat hinaus“ gehabt. „Sein menschliches, christliches und nachdenkliches Wesen“ sei immer noch vorbildhaft.

Der Bürgermeister von Bad Driburg erweiterte den Reklamecharakter von Webers „Kulturgut“ bis zum Antrag des Klosters Corvey auf Anerkennung als Weltkulturerbe. „Im Interesse unserer Bürgerschaft“ engagierten sich „Personen für die Erhaltung der Kultur und Literatur“.

Der Nieheimer Bürgermeister betonte, dass junge Leute der Ausbildung wegen wegzögen, dass es aber entscheidend sei, dass sie „wieder den Weg in die Heimat“ fänden. Er sieht Weber auch als Vorbild, sogar „völlig losgelöst von seinem dichterischen Wirken“, und empfiehlt einen Besuch im Nieheimer Weberhaus: „Nieheim ist und bleibt die ‚Weberstadt‘ – und wir sind stolz darauf!“.

Das Pathos überwältigt immer noch, aber es steckt ja auch viel Geld und Arbeit in den Erinnerungsstätten und die sollen sich möglichst auch bezahlt machen.

Der Kreisheimatpfleger erwähnte immerhin, dass Webers Dichtung „nicht mehr so leicht vermittelbar“ sei, weil sie „einem bestimmten historischen Sprachstil verpflichtet ist“. Webers „Gesänge und Verse“ bezeichnet er als virtuos, ihre Inhalte als gefällig und ernsthaft. Er regt schließlich eine weitere Auseinandersetzung mit Webers Zeit an. Webers Persönlichkeit sei ein „wichtiges Bindeglied und Identifikationsmerkmal unserer Region“.

Wenn ein Westfale dichtet, dürfen sich alle Westfalen geschmeichelt und alle Nichtwestfalen ausgeschlossen fühlen?

Das Weberhaus, in dem Weber die letzten sieben Jahre bis zu seinem Tod wohnte, ist inzwischen (2021) kein Weberhaus mehr, es war Kolpinghaus, „Heimvolkshochschule“ und Flüchtlingsunterkunft (ZUE). Es ist aktuell ein Bildungshaus im Besitz der Koptischen Kirche und damit vor dem Abriss bewahrt worden. Webers Wohnräume sind als Museum weiterhin erhalten.

Die jetzigen Besitzer des Wasserschlosses Thienhausen behaupten auf ihrer Website, Weber habe bis zu seinem Tode dort gelebt. Die Website teutoburgerwald.de nennt Weber einen der bedeutendsten Nieheimer Dichter und Denker.

Die Betonung der Popularität ist noch kein Beweis für ihre Existenz. Sich mit fremden Federn zu schmücken war noch nie ein Qualitätsmerkmal.

Eine „stille Liebe“ zu Webers Dreizehnlinden-Epos wird sich bei mir nicht entwickeln, ich lasse sie Wolfgang Rinschen, der 2007 herauszufinden versuchte, warum das Werk „versunken und vergessen ist“. Ich teile seine Wertschätzung des Moralisten Weber: die Gedanken von Frieden und Versöhnung, ein tolerantes christliches Weltbild, Gottes Liebe, Nächstenliebe und die Toleranz als Kernaussage.

Rinschen erwähnt die Randnotizen eines Theologen, der Gedanken aus den „Lehrsprüchen des Priors“ interpretiert.

„An ein Buch zu erinnern, das unseren Eltern und Großeltern wertvoll war“ ist schon ein gewichtiges Motiv, Weber nicht zu vergessen. Aber gilt das auch noch für die Urgroßeltern? Rinschen selbst bezweifelt es. Es nütze weder Weber noch seinem Werk, dass Urgroßvater, Großvater und Vater sie gelesen und im Bücherschrank aufbewahrt hätten.

Frauenliteratur scheint es dann ja überhaupt nicht zu sein.

Weber hat das Ende des Kaiserreiches nicht erlebt, nicht die Erfolge und das Scheitern der Republik, die Diktatur der Nazis, den Zweiten Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten und den absolut unmoralischen, intoleranten, unchristlichen Massenmord an den Juden.

So unschuldig, wie Weber sich in das neunte Jahrhundert zurückzog, können wir uns nicht in sein Jahrhundert zurückziehen. Die Säkularisierung, der Materialismus, den Weber so abstoßend fand, die Industrialisierung, die er weitgehend ignorierte, die Demokratisierung und der relative Wohlstand auch der Kleinbürger, das Abwenden vom Christentum bzw. von den Kirchen sind mit dem Thema der Christianisierung der heidnischen Sachsen heute nicht mehr zu verbinden.

Ich zitiere gern Webers Rat, rückwärts blickend vorwärts zu schauen. Den Anfang des Epos, das vielzitierte, auswendig gelernte „Wonnig ist’s“, ertrage ich in seiner Abgegriffenheit nicht, so viel Flachheit wird dem Dichter Weber auch nicht gerecht. Goethes „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ ist ein ähnliches Klischee, aber das Zitat wird dann unerträglich, wenn man es mit falschem nationalen Pathos belegt.

Man kann je nach Herkunft und Interesse dem gesamten Werk Webers in Teilen etwas abgewinnen. Wer Naturlyrik liebt, wird Weber mögen. Wer in Alhausen geboren wurde, darf eine Sympathie für die dörfliche Idylle in Webers Gedichten entwickeln. Wer die zunehmende Abkehr vom christlichen Glauben beklagt, darf sich mit Weber verbunden fühlen. Wer noch betet, darf auch mit Webers Lyrik beten und sich von ihr trösten lassen. Wer den Artikel 3 unseres Grundgesetzes mag, darf Webers Aussagen zur Menschenwürde gern weiter nutzen.

Wer tragische Liebesgeschichten gern hat, kann sich auch mit dem „Goliath“ anfreunden.

Wer ihm im Garten des Weberhauses in Alhausen auf die Büste klopft, darf ruhig sagen: „Fritz, dein Bart ist altmodisch!“ Dennoch ist er für Weber charakteristisch.

Eine pathetische, lokalpatriotische, frömmelnde oder nationalistische Überhöhung trägt dazu bei, Weber in der historischen Versenkung verschwinden zu lassen. Dafür ist er einfach nicht mehr populär genug.

Seine Fraktionsfreunde vom Zentrum hätten ihn gern in Berlin begraben. Die Nieheimer fanden es erhebend, dass seine Beerdigung ein Spektakel wurde. Die Driburger packten ihre Verehrung mit großem finanziellen und ehrenamtlichen Engagement in sein Geburtshaus, weil Alhausen heute Ortsteil der Stadt ist.

Die Prachtausgabe von Karl Rickelt kostete 1904 vierzig Mark. Ich erhielt sie aus einem Göttinger Antiquariat für einen Euro.

Winfried Freund versuchte 1993 den Dichter als poetischen, christlichen, moralischen und didaktischen Realisten zu würdigen, ihn zu entstauben. Das Staubtuch liegt im Moment unbenutzt im Spind der Webergesellschaft, von der man seit dem Tod des letzten Vorsitzenden nichts mehr hört.

Ich stimme Rinschen zu: „Das Publikum ist interessanter als das Werk, der Verbraucher wichtiger als der Künstler.“ (82) Bei allen Jubelfeiern waren die Redner und Akteure als Selbstdarsteller wichtiger als der Dichter Friedrich Wilhelm Weber.

Aber Bad Driburg hat keinen anderen.

 

Walter Gödden: Westfälische Literaturforschung gestern und heute, lwl.org; in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Region – Literatur – Kultur. Regionalliteraturforschung heute. Bielefeld: Aisthesis 2001 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 2), S. 97-119

F.W. Weber-Gesellschaft (Hg.): 200 Jahre Friedrich Wilhelm Weber, Bad Driburg 2013

W. Rinschen / Weber-Gesellschaft: Friedrich Wilhelm Webers „Dreizehnlinden“. Spurensuche in der Geschichte des Versepos, Paderborn 2007

Winfried Freund / Weber-Gesellschaft: Friedrich Wilhelm Weber – ein Porträt des Dichters, in: Friedrich Wilhelm Weber – Arzt, Politiker, Dichter, Paderborn 1993 (2. Aufl. 1996), S. 129 ff.

Friedrich Wilhelm Weber und die Eisenbahn

Von Elisabeth Affani

Wie das Zugfahren die Gesellschaft und das Verhalten der Menschen veränderte, schildert Friedrich Gerstäcker in einer „humoristischen Erzählung“ von 1865 (Q 1 S. 107). Er stellt die Eisenbahn als Instrument des Fortschritts dar. Die Gemütlichkeit habe jedoch im Vergleich mit der guten alten Postkutsche abgenommen. Es gebe keine Reisegefährten mehr, man kenne die anderen Passagiere nicht mehr und schließe auch keine Freundschaften wie „unter früheren Verhältnissen“. Die beschauliche Ruhe sei vorbei, und auf säumige Reisende warte der Zug nicht. Der Dampfwagen bringe wunderliche Leute zusammen.

So idyllisch waren die Kutschfahrten keineswegs. Eine Fahrt in einer engen, holpernden, vollbepackten Kutsche mit Pferden, die scheuen und mit dem Fahrzeug durchgehen konnten, mit einer Achse, die brechen konnte, brachte durchaus etliche Male die Insassen in Lebensgefahr. Wenn Friedrich Wilhelm Weber in der Mitte des 19. Jahrhunderts  mit der Kutsche über den Stellberg nach Buke oder Lippspringe unterwegs war, musste der Kutscher mit seinem Gespann nicht nur eine erhebliche Steigung, sondern auch den einspurigen Hohlweg bewältigen, an dessen Anfang er mit der Peitsche knallte, um Entgegenkommenden anzuzeigen, dass er den Weg nun befuhr. Wie ging Weber mit der sich rasch ausbreitenden Eisenbahn um?

Johannes Mahr stellt fest, dass sich im 19. Jahrhundert die Bedeutung der Bahn „für die Industrialisierung, für die Veränderung im Charakter der Städte, für den Umbau der bisher fast unberührten Landschaft, für die Form des Zusammenlebens kaum überschätzen“ lasse (Q 2 S. 11). Für ihn ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Technik und der Literatur bedeutend. Er beschreibt die Polarisierung, die teilweise zu einem angenommenen Gegensatz von Kultur und Zivilisation führte. Von vielen Schriftstellern wurde demnach die Technisierung als Gefahr und Bedrohung für die menschliche Natur empfunden. Dennoch haben laut Mahr alle namhaften Dichter des 19. Jahrhunderts Eisenbahngedichte geschrieben, Heinrich Heine und Gottfried Keller inbegriffen.

Weber trat in den ersten Jahrzehnten seiner dichterischen Nebenbeschäftigung vor allem mit romantischer Naturlyrik hervor. Auf sie beruft man sich, wenn man seine Verbundenheit mit seinem Geburtsort Alhausen, dem „Dörfchen treu und gut“, herausstellt. Dass er dreißig Jahre lang dieser Idylle mittels der Eisenbahn entfliehen konnte, stand niemals zur Debatte. Interessierte ihn die technische Seite seines Reise- und Transportweges überhaupt? Fand er die richtigen Worte, um die Technik in sein lyrisches Werk einzubinden? Meinte er, sie im Dienste einer wahren Poesie ignorieren zu müssen? Seine lyrische Epik war zeitabgewandt, rückwärtsblickend. Mit der Eisenbahn hätte er vorwärts schauen können. Was hinderte ihn daran?

Es gibt tatsächlich einen Versuch von Weber, das Motiv aufzugreifen. Johannes Mahr zitiert die ersten zehn Zeilen von Webers Gedicht „Eisenbahnphantasie“, und zwar veröffentlichte Weber es 1857 unter dem Pseudonym B. Werder in einer Festschrift zum fünfundzwanzigsten Bestehen der Lippspringer Bäder an der Arminiusquelle. Mahr bezeichnet den „Versuch, durch mythologische Figuren die neuen Kräfte zu benennen“ (Q 2, S. 117), als erfolglos und drückt seine Freude darüber aus, dass Weber keine weiteren Versuche unternommen habe.

Der Renner stampft und braust dahin! Jetzt durch des Blachfelds Niederung, /Jetzt über des Berges schroffen Grat, über den Strom mit kühnem Schwung; /Jetzt aus des Tunnels schwarzem Schlund, der ihn verschlang, sein Brodem braut: – /Hermode auf dem Hela-Ritt! Es keucht das Roß, dem Reiter graut! /Jetzt über Wall und Viadukt weitaus im Sturm die Mähne weht! /Ha! Durch die Lüfte ras’t er hin, ein düstrer, qualmiger Komet. / Krieg bringt er, wie im Jahre Eilf, Krieg Allem, was bestand und galt: / Was früher groß, war gestern Nichts, was gestern jung, ist heute alt. / Ein Dämon ist’s, der ihn beseelt, den in geheimnißvoller Nacht /Am Flammenheerd Vulkans gezeugt das Wasser mit des Feuers Macht …

Weber ist nicht Adalbert von Chamisso, der schon 1830 die Eisenbahn lyrisch verwertete, auch nicht Theodor Fontane, der das Unglück von der Brücke am Tay zu einer Ballade über den Tand, der das Gebilde von Menschenhand ist, verarbeitete und zu einem Lesebuchtext verewigte. Weber ist nicht Peter Rosegger, der unvergesslich seine erste Eisenbahnfahrt schilderte und das Motiv der Eisenbahn in mehreren Werken aufgriff, und nicht Georg Herwegh, der Poesie auch im Qualm eines Dampfschiffs entdeckte.

Weber passt in die Reihe der Dichter, die den wachsenden Materialismus beklagten und innere Werte wie eine tiefe Gottgläubigkeit dagegen setzten. Hier scheiden sich die Romantiker von den Realisten.

Gibt es von Weber Reisebeschreibungen? Wie fühlte es sich an, als er das erste Mal die Fahrt nach Berlin antrat? Der Dichter Weber, der über jedes Schlüsselblümchen am Bachrande und jeden Postillon warme Verse komponierte, fand keine Worte über das Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts, das so viele Menschen emotional berührte.

Von Bad Driburg über Hannover kann man heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln, hier mit der Eisenbahn, in knapp fünf Stunden den Hauptbahnhof in Berlin erreichen. Der Abgeordnete des Preußischen Landtags Friedrich Wilhelm Weber benötigte 1862 vermutlich einen ganzen Tag, wenn er nicht sogar eine Übernachtung einplanen musste.

Für Freunde der Eisenbahn dürfte die Frage interessant sein, was Weber während der langen Zugfahrt nach Berlin am Gleisrand entdeckte und in seinen Aufzeichnungen festhielt.

Wolfgang Ewers vom Verein der Bad Driburger Eisenbahnfreunde stellte mit Hilfe eines Putzger Weltatlas, erschienen in der 85. Auflage 1963, die mögliche und wahrscheinliche Fahrtroute des Abgeordneten Weber im Jahre 1863 zusammen. Ewers nimmt an, dass Weber zunächst mit der Postkutsche von Bad Driburg, über den alten Postweg und den Stellberg, nach Buke fuhr, wo es an der Chaussee nach Paderborn eine Poststation gab, von der man ab 1853 in den Zug nach Warburg umsteigen konnte. Zu der Einweihung der Strecke Paderborn–Altenbeken–Warburg kam als Ehrengast der preußische König Friedrich Wilhelm IV. mit Gefolge. Stand auch Weber unter den Zuschauern und winkte?

Von Warburg ging es nach Kassel, danach folgten Bebra (seit 1849), Erfurt und Halle (1848/49), von dort konnte man weiter nach Köthen fahren, das damals bereits ein Knotenpunkt war, und schließlich nach Berlin (1841). Wolfgang Ewers nimmt an, dass um 1850 deutsche Lokomotiven mit einer Geschwindigkeit von unterhalb 50 km/h fuhren.

Im Jahre 1863 erhielt auch Bad Driburg einen Bahnhof. Doch erst 1872 konnte Weber über Altenbeken nach Hannover und von dort weiter nach Berlin fahren. Die Strecke war 200 km kürzer, inzwischen fuhren die Züge schneller, die besten Lokomotiven erreichten bis zu 70 km/h. Theoretisch konnte man Berlin nun in etwa sechs Stunden erreichen, also in der Hälfte der Zeit, die Weber noch 1863 benötigte.

Quellen:

(1) Friedrich Gerstäcker: Auf der Eisenbahn, in: Berthold Auerbach’s deutscher Volks-Kalender auf das Jahr 1865. S. 107–118, http://de.wikisource.org

(2) Johannes Mahr, Eisenbahnen in der deutschen Dichtung, München 1977; http://daten.digitale-sammlungen.de

(3) Arminia. Geschichtliches und Gedichtetes zur Feier des fünfundzwanzigsten Bestehens der Bäder an der Arminiusquelle zu Lippspringe. Paderborn 1857, S. 78-84, Zit. S. 78

© Elisabeth Affani 2013

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