„Weit entfernt ist der Realist Weber von schwärmerischer Heimattümelei.“ (W. Freund)

Im Jahrbuch der Weber-Gesellschaft von 1987 schrieb Johannes Heinemann: „Webers literarisches Werk ist von der Fachwelt sehr unterschiedlich beurteilt worden. Neben hohem Lob steht die völlige Ablehnung.“ (S. 16) Leider nennt Heinemann keine Quellen für das zweite.

Im gleichen Band fragt Winfried Freund, „ob nicht gerade das intime Geschehen des ‚Goliath‘ in unserer Zeit wieder größere Anteilnahme hervorrufen könnte“, und setzt das Werk von „Dreizehnlinden“ ab (S. 31). „Intim“ würde man heute im Jahre 2021 anders verstehen, als Freund es verstand. Der „Goliath“ ist persönlicher, realistischer, ohne Mystik, ohne ideologische oder religiöse Überhöhung. Er enthält eine tragische Liebesgeschichte, bei der moderne Leser heute ruhig den Kopf schütteln können. Aber wer regelmäßig im Ersten die „Tatort“-Folgen genießt, wird auch den „Goliath“ nicht mit rein objektiven Maßstäben messen.

Freund urteilt 1987 auch, dass es der „Goliath“ verdiene, „über die regionalen Grenzen hinaus bekannt zu werden“ (32). Sein Urteil scheint in Bad Driburg nicht wahrgenommen worden zu sein. Als Hermann Sömer † mich bat, eine Lesung im Weberhaus in Alhausen zu gestalten, gefiel es ihm gar nicht, als ich ihm statt „Dreizehnlinden“ den „Goliath“ anbot. Sömer hatte gerade stolz den neuesten Film über Weber der Öffentlichkeit vorgestellt und auch darin die Geschichte von Elmar und Hildegunde in den Mittelpunkt gerückt. Damit war die Möglichkeit vertan, die modernere, zeitgemäßere Seite des Lokaldichters zu zeigen. Das nationale Pathos des 19. Jahrhunderts, das im Nationalismus des 20. Jahrhunderts mündete, ist im 21. Jahrhundert endgültig aus der Zeit gefallen. Die weiter abnehmende Frömmigkeit, die von Weber erkannte und beklagte zunehmende Säkularisierung, gegenwärtig verbunden mit Kirchenaustritten bei den beiden führenden Konfessionen, lässt die literarische Auseinandersetzung mit der längst vergangenen Epoche der Anfänge des Christentums überflüssig erscheinen.

Die Themen des „Goliath“ sind, wie Winfried Freund erläutert, allgemeinmenschliche, zeitlose, und daher – leider – immer noch aktuell. Der Leser erlebt die heile Welt einer heilen Familie mit idealen, liebenden Eltern und einem liebenden Kind, in die plötzlich der Tod in Form eines Erdbebens einbricht. Die Idylle wird zerstört. Der Leser erfährt die Kehrseite des Ideals: Ein tyrannischer, reicher Bauer herrscht über seine Familie und seine Arbeiter und verharrt in autoritären Strukturen. Auch in seine Familie dringen Katastrophen, die er nicht verhindern kann. Er betäubt seinen Ärger und seine Hilflosigkeit mit Alkohol. Das ist ein Thema, das auch für heutige Familien durchaus Bedeutung haben kann.

Moderne Eltern nehmen auf die Partnerwahl ihrer Kinder in der Regel nur wenig Einfluss. Insofern ist der Gehorsam der Tochter, die auf den geliebten Mann und daraufhin jede andere Partnerwahl verzichtet, heute nicht mehr nachzuvollziehen. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Jedenfalls gilt dies in verfassungsmäßiger, rechtlicher Hinsicht. Die Realität kann davon abweichen.

„Geld macht nicht glücklich.“ Dieser Spruch wird in einer Gesellschaft gern ironisiert, die im Vergleich zu früheren Jahrhunderten über großen allgemeinen Wohlstand verfügt. „Kein Geld macht auch nicht glücklich“, heißt der Gegenspruch, oder „Geld allein macht nicht glücklich, aber es kann beruhigen“. Ein Ideal wäre auch heute, reich und gleichzeitig glücklich, also den gewünschten Partner zu heiraten. In den meisten Fällen möchten Eltern ihre Kinder glücklich sehen.

Von unserer Gleichberechtigung war Webers Zeit weit entfernt, aber dass er einen Begriff von partnerschaftlicher Liebe hat, ist zu seiner Zeit beachtlich. Mag sein, dass die Eltern und besonders die Mutter hier Einfluss genommen haben, und Weber hat es im hohen Alter noch verinnerlicht.

Manchmal erreichen Eltern, wenn sie die Partnerwahl ihrer Tochter oder ihres Sohnes ablehnen, gerade das Gegenteil des Gewünschten. Kluge Eltern unserer Zeit wissen das und halten sich entsprechend zurück.

Ein behindert geborenes Kind ist auch heute noch für die Eltern und die Familie problematisch, während der Lebenszeit Webers und bis ins 20. Jahrhundert hinein war es ein tragisches Schicksal. An die Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten kann in diesem Fall ebenso erinnert werden. Im „Goliath“ verstärkt die Geburt des „schwachsinnigen“ Erik die Verzweiflung und den Alkoholismus des Vaters, der gern einen gesunden männlichen Erben hätte. Aus unserer heutigen Sicht mit unserem Bemühen um Inklusion und Teilhabe ist sein Verhalten inakzeptabel, aber eine solche Reaktion ist auch heute noch möglich. Weber verurteilt den Vater nicht, aber er führt dem Leser vor Augen, wie jemand verbittert, der sich mit seinem Schicksal nicht abfindet und seine Umgebung darunter leiden lässt. Als behandelndem Arzt ist Weber dieses Thema in den Familien sicher häufiger begegnet.

 

Liebesgeschichten kann man unter der Rubrik Romantik und Kitsch abtun, aber sie sind nach wie vor Standard in unserer Belletristik. Auch ein Blick auf die Fernsehprogramme zeigt, dass weiterhin reges Interesse an ihnen besteht. Daher ist auch die Liebesgeschichte zwischen Olaf, dem armen Goliath, und Margit, der reichen Bauerntochter, in all ihrer Klischeehaftigkeit noch längst nicht aus der Zeit gefallen. „Unter seinem Stand“ zu heiraten ist allerdings kein Thema mehr, die meisten dieser Geschichten haben in der entsprechenden Literatur einen glücklichen Ausgang, ein Happyend. Bei Weber fehlen allerdings die inzwischen gelockerten Normen, im „Goliath“ geht es hochmoralisch zu. Olaf erlaubt sich nicht mehr, als Margits Hand zu ergreifen. Was an dem einzigen Tag in all den späteren Jahren geschieht, wenn Margit Olaf in seiner Klause in der norwegischen Bergeinsamkeit besucht, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. „Ihr Mund hat niemals meinen Mund berührt“, betont Olaf, der „Goliath“.

Margit und Olaf reagieren auf die gleiche Art, sie verzichten auf die Ehe und Familie und versuchen mit dem Alltag, der vor allem aus Arbeit besteht, zurechtzukommen. Die jungen Menschen heute können dafür Verständnis entwickeln, auch wenn ihre Zukunftspläne und -aussichten sich davon grundlegend unterscheiden. Aussteiger kommen auch in unserer leistungsorientierten, materialistischen und kapitalistischen Gesellschaft noch vor.

Der Traum vom ewigen Bestand der Liebe zweier Menschen zueinander ist altmodisch, aber dauerhaft. Winfried Freund überhöht bei seiner Erklärung der dichterischen Rührseligkeit den moralischen, didaktischen Aspekt. Ausdrücke wie die Versagung, der heroische, sittliche Willen, der sittlich wollende Mensch, die Brandung widriger Umstände und sieghafte Selbstbehauptung der Persönlichkeit (S. 40) kann man vor allem der jungen Generation der Gegenwart nicht mehr vermitteln, auch nicht den Bezug zum biblischen Sündenfall. Entscheidend für die Verurteilung und Versenkung oder die erfolgreiche Entstaubung des Dichters und seines Werkes wird sein, wie wir sprachlich mit ihm umgehen.

Der bis zum Überdruss wiederkehrende Hinweis auf Weber als Dichter des Dreizehnlinden-Epos verdeckt auch eine Würdigung seiner Balladen. Winfried Freund ordnet ihre „Blüte“ der Phase des Realismus zu, „weil es in situativ konkreter Zuspitzung die Darbietung elementarer Konflikte und exemplarischen Verhaltens aus objektiver Distanz ermöglichte“ (S. 47). Ein „populärer“ Dichter darf dem Populus auf diese Weise nicht angeboten werden. Literatur- und sprachwissenschaftliche Analysen und Interpretationen kommen in der Regel beim „Volk“ nicht an, weil sie – zu Recht – in eben diesen speziellen Regalen abgelegt werden.

Das ist schade. Die Erzählung vom Handschuh, die Weber dem Pömbser Pfarrer Gerhard Lödige zuschreibt, könnte im positivsten Sinn nicht volkstümlicher sein. Schillers „Handschuh“-Ballade mit dem Tiger, der den Leu scheu umgeht, ist sprachlich nicht moderner und inhaltlich nicht aktueller.  Nichts spricht dagegen, einige Balladen Webers in Bad Driburger Schulen „exemplarisch“ zum Unterrichtsstoff zu machen. Die Pömbser würden sich freuen, vor allem die in der Gerhard-Lödige-Straße wohnenden.

Dazu müssten die Lehrerinnen und Lehrer die Balladen aber kennen. Wenn sie schon beim Dreizehnlinden-Epos die Achseln zucken, weil man ihnen nur damit kommt, werden sie auch die anderen Dichtungen kaum anschauen. Winfried Freund schreibt 1987 über den „Handschuh“: „Keine großen Worte fallen, kein spektakulärer Fall wird hier mit balladischem Pomp inszeniert.“ (S. 48). Das ist geradezu eine Einladung zu einem neuen Bild von Weber, dem diese Schlichtheit auch gerecht wird.

Absolutistische Härte kann man an der Ballade „Der Wildschütz“ nachvollziehen. Webers „König Jerôme“ und Heinrich Heines „Romanzero“ eignen sich zum Vergleich.

Über einen „Zwischen Halde und Heerweg“ erfrorenen Obdachlosen dürften auch heutige Jugendliche in den Schulen nicht achtlos hinwegsehen.

Im Jahr 2019 erschien von Christian Neef das Buch „Der Trompeter von Sankt Petersburg: Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“, in dem er u.a. den Tod des Trompeters Oskar Böhme dokumentiert. Webers Ballade „Zwei Trompeter“ könnte in diesen Zusammenhang gestellt werden und einen Beitrag zur Friedenserziehung leisten.

Joseph Victor von Scheffel und sein „Trompeter von Säckingen“ sind in die Stadtgeschichte eingebunden, der Dichter wird in einer eigenen Website dargestellt und vermarktet. Säckingen hat 4000 Einwohner weniger als Bad Driburg. Die Liebesgeschichte des Trompeters erinnert an die von Olaf und Margit. Von Scheffel wurde nach Weber geboren und starb vor ihm. Auch von ihm gibt es Prachtausgaben.

Natürlich ist beim Einsatz im Unterricht der Einsatz der Lehrkräfte gefragt, denn fertige Interpretationen gibt es nicht.

„Webers Balladendichtung kann den Zugang zu seinem Gesamtwerk neu eröffnen“, schreibt Freund (S. 61). Ohne die Deutschlehrerinnen und -lehrer wird dies kaum gelingen. Da hilft kein Kräutergarten hinter Webers Geburtshaus in Alhausen.

Das nationale und religiöse Pathos von „Dreizehnlinden“ kann man mitsamt dem Stempel und der altertümlichen Sprache getrost in die Schublade mit dem Schild „Ablage“ geben. Dort gehört auch der Stempel „Heimatdichtung“ hin. Dann wird auch ein Nachdenken über die Anteile an diesem Dichter in Bad Driburg, Thienhausen und Nieheim beendet werden können. Winfried Freund betont zu Recht, dass Weber von Heimattümelei weit entfernt sei (S. 50).

Er gibt den Bad Driburgern für den Umgang mit ihrem Lokaldichter – vielleicht unbewusst – Arbeitsanweisungen: „Illusion ist es zu glauben, sich vor den Geschichtsabläufen in der heimatlichen Enge abkapseln zu können“ (S. 53). Immer wieder den Beginn von Dreizehnlinden („Wonnig ist’s in Frühlingstagen“) zu zitieren stellt diese Enge dar. Aus einem Tal kommt man leicht wieder heraus, es ist nicht eingemauert.

Sachlich korrekt müssen die Angaben in jedem Fall sein. Wenn die jetzigen Besitzer des Schlosses Thienhausen auf ihrer Webseite behaupten, dass Weber, „Leibarzt“ von August von Haxthausen, bis zu seinem Tod in Thienhausen gewohnt hat, hätte ein Blick in das einschlägige Online-Lexikon sie eines Besseren belehrt. „Dieser verbrachte auf Thienhausen die letzten Jahre seines Lebens (gestorben 1894) und verfasste dort sein Versepos Dreizehnlinden, das von der Christianisierung unserer Region handelt. Das epische Werk erlebte hohe Auflagen und zählte in manchen Gegenden Deutschlands als obligatorische Schullektüre.“

Wer wie die „Schloss Thienhausen Event e.K.“ Weber auf diese nachlässige Weise mit Staub bedeckt, kann seine Erwähnung auch sein lassen.

Aber Bad Driburg hat nur diesen einen Dichter. Wir sollten ihn nicht wie ein altes Stück Seife in den Kulturbeutel stecken. Machen wir etwas Modernes daraus!