– oder: Mehr Mensen! Mehr Bildung für die Kaumuskeln!

Kap. 12

Es gibt weibliche und männliche Objektivität. Bestes Beispiel für männliche Objektivität war die Beurteilung einer Lehramtsanwärterin, die ich im Fach Musik betreuen sollte. Ich war zu der Zeit, etwa Ende der achtziger Jahre, einzige und dabei nicht qualifizierte, im Neigungsfach unterrichtende Musiklehrerin. Ich berief mich auf neun Jahre Klavierunterricht und ein dreiviertel Jahr Orgelunterricht. Eine musikpädagogische Ausbildung hatte ich nicht, aber ich bin der festen Ansicht, dass ein guter Lehrer sich in jedes Fach einarbeiten kann, das seinen Neigungen entspricht. Er braucht nur den festen Willen und Zeit. Meine Lehramtsanwärterin war eine überaus schlanke, grazile Person, sehr jugendlich, sehr forsch, kreativ, selbstständig, aber nicht überaus eifrig. Sie unterrichtete selten mehr, als sie musste. Das ist keine Kritik, denn ich fragte sie nicht, was sie in ihrer Freizeit bewerkstelligte oder ob sie Verpflichtungen außerhalb der Schule hatte. Zu ihren Anforderungen gehörten Stundenentwürfe, Stundenskizzen, mit denen ich ihre Unterrichtsplanung und die Durchführung vergleichen und mir Protokolle ersparen konnte. Ich erhielt sie nur unregelmäßig. Sie würde schon einen triftigen Grund für ihr Verhalten haben, sie war erwachsen. Ich besprach mit ihr jede Unterrichtsstunde und setzte mich mit ihr zusammen, wenn für sie ein Unterrichtsbesuch anstand. Wenn sie Hilfe benötigte, gewährte ich sie ganz selbstverständlich, soweit ich helfen konnte. Sie war auf dem Weg, eine selbstständige, gute Lehrerin zu werden. Was noch fehlte, würde die Erfahrung mit sich bringen. Vor der Examensstunde probierte sie auf meinen Rat hin ihren Unterrichtsentwurf in einer Parallelklasse aus. Dann stellte sie für die Herren, also den Hauptseminarleiter, Fachleiter, Schulleiter und den Konrektor, sowie für mich als einzige Frau zusätzliche Stühle in den Klassenraum. Es ergab sich, dass ich den Herren gegenüber sitzen musste. Denn der Klassenraum wurde zum Tanzsaal umfunktioniert. Es ging in der Lehrprobe um Rhythmik.

Die junge Frau bewältigte ein wenig verkrampft die Einführungsphase, artig folgten die im Stuhlkreis am Rand der Tanzfläche sitzenden Schüler. Nun zeigte sie, wie sie sich die folgenden Tanzschritte und Figuren vorstellte. Sie hockte sich in ihrer engen Jeans in die Mitte der Klasse, mit dem Rücken zu mir, die Knie jeweils zur äußeren Seite gezogen. Ich sah sie nicht von vorn, aber ich sah die Blicke der mir gegenüber sitzenden Männer. Alle schauten in eine Richtung, auf ein Areal: ihren Schoß. Mich wunderte es nicht, dass ihre Note eine Eins vor dem Komma enthielt. Ich hätte die mittelalterliche Stadt anhand der Volkstänze erarbeiten sollen! Leider wären enge Jeans dabei unvorteilhaft erschienen. Das Leben ist ungerecht.

Drei Kollegen mit dem Studienfach Musik lösten mich ab. Ich war nicht mehr verantwortlich für die Schulmusik. Als der Schulleiter meiner zukünftigen Schule den Direktor meiner Ausbildungsschule anrief und fragte, ob er einen Lehramtsanwärter habe, der auch Musik unterrichten könne, bot man mir die Teilzeitstelle für die Fächer Deutsch und Geschichte und im Neigungsfach auch Musik an. Ich traute es mir zu, die fünften und sechsten Klassen musikalisch zu erziehen, ein großer Teil des Unterrichts wurde mit dem Singen bestritten. Immerhin wollte ich einmal Musik studieren. Solange niemand an meine Stelle treten konnte, fühlte ich mich in diesem Fach auch halbwegs überlegen. An Lehrerwandertagen nahm ich bisweilen eine Gitarre mit, damit wir nach dem gemeinsamen Essen in einem Landgasthof auch noch gemeinsam singen konnten. Das Gitarrespielen hatte ich mir selbst beigebracht, um das laute Klimpern zu unterdrücken. Denn in den ersten Jahren unterrichtete ich Musik mit Hilfe eines Flügels in einem Teil der provisorischen Aula. Sie war in vier Räume unterteilt, die sich mittels Falttüren in vier Klassenräume umwandeln ließen. Die Flügeltöne drangen in den Mathematik-, Englisch- oder Französischunterricht der Nachbarklassen ein und sorgten dort für Unmut. Da ich für den unerwünschten Lärm anscheinend verantwortlich gemacht wurde und weder Elly Ney noch Clara Haskil hieß, wurde eines Tages ohne Rücksprache mit mir der Flügel von städtischen Mitarbeitern abgeholt und durch ein seelenloses japanisches Klavier ersetzt.

Wir unternahmen eine Lehrerfahrt nach Beckstein, der Lieblings-Weingegend einer frommen Kollegin, die katholische Religion unterrichtete und mit mir in der hiesigen Kantorei sang. Auch der Kollege, den es von Tauberbischofsheim ins dröge Ostwestfalen verschlagen hatte, freute sich auf die Fahrt. Wir dinierten auf der Terrasse eines Weinlokals. Hier nahm vor uns auch ein Kollegium aus Norddeutschland Platz, einer der Lehrer hatte ein Akkordeon mitgebracht, und wir sangen bis etwa zwei Stunden nach Mitternacht. Die Nachbarn müssen sich gestört gefühlt haben, doch niemand beschwerte sich offen. Meine Gitarre hatte ich zu Hause gelassen. Allmählich widerstrebte es mir, den Animateur für meine Kollegen zu spielen. Ich dichtete, schrieb eigene Lieder oder zur Pensionierung meines ersten Chefs Mozarts Duett von Papagena und Papageno um. Aus „Pa-pa, Pa-pa-pa“ machte ich „Ha-ha, Ha-ha-ha, Ha-Heinemann, seht euch mal an, was er nun kann. Wir alle müssen weiter schuften, und er kann einfach verduften!“ Dieses intellektuell anspruchsvolle Stück übte ich mit einem Lehrerchor ein, einstimmig, weil ich das Risiko der Mehrstimmigkeit mit ungeübten Stimmen nicht eingehen wollte. Es machte Spaß, uns und den Zuhörern, die ein klassisches Stück erwartet hatten und angenehm enttäuscht wurden. Nachdem der zweite Chef mir durch die Blume zu verstehen gegeben hatte, dass ich keine musikalische Koryphäe war, aber immerhin die Orgel allmählich beherrschte, sagte ich mir in einem Anfall kindischen Trotzes, dass er sich seine Musik sonst wohin stecken konnte. Bei einem der nächsten Lehrerausflüge kehrten wir in einem gemütlichen Landgasthof ein. Die Zeiten, in denen in solch einem Gasthof immer ein Klavier steht, waren offensichtlich vorbei. Ich sah kein Klavier und lehnte mich entspannt zurück. Nach dem Essen unterhielten wir uns angeregt. „Fehlt hier nicht noch etwas?“, fragte der Kollege, der nach dem ersten Glas Bier nach musikalischer Betätigung lechzte. „Haben wir heute eigentlich keine Musik?“, fragte nun auch der Chef. Ich zuckte unschuldig die Schultern. Klavier, Gitarre, Akkordeon, Blockflöte und Altflöte hatte ich zu Hause gelassen, die Orgel war in der Kirche. Die Mundorgeln, die ich für meine Schüler angeschafft und auch zu Lehrerwandertagen mitgeschleppt hatte, lagen im Musikschrank. Sollte er doch Solo und auswendig singen. Er stand auf und schritt auf eine Tür zu, über der deutlich auf die Toilette aufmerksam gemacht wurde. Die Unterhaltung floss entspannt weiter. Nach relativ langer Zeit öffnete sich die Tür langsam und in Intervallen, und mit einem verschmitzten Grinsen schob der Chef ein altes, dunkelbraun gebeiztes Klavier in den Gastraum. „Jetzt können wir doch singen!“, jubilierte er und schaute mich auffordernd an. Ich tat ihm den Gefallen. Auch auswendig und ohne Noten konnte ich einen Großteil der vorgeschlagenen Lieder begleiten. Als ich im folgenden Schuljahr von drei Kollegen mit dem Studienfach Musik abgelöst wurde, wartete mein zweiter Chef vergebens auf einen Animateur. Nach wie vor musste ich für das Geburtstagsständchen im Lehrerzimmer den Ton angeben.

Wenn man jung ist, hat man eine unvorstellbare Energie. Je mehr man davon verwendet, um so mehr hat man. Dass rostet, wer rastet, ist nicht nur eine banale Redewendung. Zeitweise unterrichtete ich in meinem Zweidritteldienst fünf Fächer, und als eine fünfte Klasse ohne Sportlehrer dastand, traute ich mir sogar den Sportunterricht zu. Nach drei Wochen pädagogischer Versuche empfand ich den Sportunterricht als Körperverletzung und schaffte mir eine Trillerpfeife an. Ich lernte, die Stunden mit einer militärischen Ordnung erträglich zu machen. Für ähnlich belastend hielt ich nur noch den Kunstunterricht. Gewöhnlich jedoch benutzten Kunstlehrer keine Trillerpfeife.

Mein friesischer Kollege schaffte es, drei seiner Kolleginnen in die Geheimnisse der Informatik einzuführen. Eine nahm Fortbildungen auf sich, um sich mit ihm Basic-Programmierkenntnisse anzueignen. Der OWL-Friese organisierte die EDV-Umstellung der Verwaltung und war maßgeblich verantwortlich für die Ausstattung des Computerraumes, den wir gemeinsam mit der Hauptschule nutzten, sowie in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Einrichtung eines eigenen Computerraumes mit sechzehn Arbeitsplätzen. Wir waren stolz auf die Modernisierung, doch vor allem die jüngeren Kollegen, die nach uns an die Schule kamen, nutzten den Raum gern, wollten jedoch mit dem Informatikunterricht oder der Administration nichts zu tun haben. Wenn der Drucker kein Papier mehr hatte, schrieben sie einen Zettel an den Friesen, der das Papierfach neu befüllte. Wenn ein PC nicht hochfuhr, Tasten vertauscht waren, Druckertoner zu Ende ging, ein Programm nicht lief– der Friese richtete es. Er wollte die Fäden in der Hand behalten. Das war nicht ein übermäßig großer Vertrauensbeweis dem Kollegium gegenüber, aber wohl begründet.

Wenn Lehrer über das Burnout-Syndrom reden, sollten sie nicht vergessen, dass sie am Burnout ihrer Kollegen zu einem Teil mitverantwortlich sind.

Der Friese lief ständig mit einem Stift und einem Notizheft in der Brusttasche herum, um neben seinem Vollzeitberuf als Klassen-, Mathematik- und Chemielehrer die Anfragen seiner Kollegen und der Schulverwaltung bewältigen zu können. Es wunderte mich nicht, dass er nach dreißig Jahren nicht nur vor den Trümmern seiner Ehe stand, sondern auch selbst das Gleichgewicht verlor. Jahrelang beantragte der Friese in Konferenzen mehr Entlastungsstunden und rechtfertigte seine Anträge mit der außergewöhnlichen Belastung durch seine Zusatzfunktionen, aber manches Mal schmetterten seine Kollegen den Antrag ab, weil sie selbst nicht auf Ermäßigungsstunden verzichten wollten oder konnten. Sie schätzten ihre eigene Belastung hoch ein, selbst bei der Betreuung der Biologie-Vitrinen. Die Endlosdiskussion über Belastungen im Lehreralltag führte lediglich dazu, dass schlaue Bücher – Klippert und andere – empfohlen wurden, die uns belehrten, wie man den Alltag besser organisierte. Wir Lehrer kauften diese Bücher und sorgten dafür, dass der Autor seinen Alltag zumindest finanziell leichter organisieren konnte. Weder wurden die Klassen kleiner noch die Aufgaben der Lehrer weniger.

Kap. 13

Als ich beschloss, Lehrerin zu werden, war für die Fächer Deutsch und Geschichte an Realschulen in NRW noch das Große Latinum die Voraussetzung. Außerdem bestand die Maßgabe, ein Haupt- und ein Nebenfach wählen zu müssen. Diese Vorgaben wurden aufgeweicht, als die Planstellen nicht mehr adäquat besetzt werden konnten. Nun kamen auch Lehrer mit der Fächerkombination Chemie und Sport an die Schule. Klassenlehrer war man mit einem Hauptfach immer. Da neuerdings jedoch Steuergruppen eingerichtet wurden, konnte man diesen Kollegen dort wiederfinden, er ließ sich auch zu einer Fortbildungsreihe überreden, die ihn als einzigen qualifizierte, das Ersatzfach für Religion, die Praktische Philosophie zu unterrichten. Wie viel Belastung vertrug der Kollege wohl noch? Wer in meinen Anfangsjahren, also vor 1977, den Lehrerdienst übernahm, wurde mit großer Wahrscheinlichkeit noch in eine Beamtenstelle nach A 13 übernommen. Heute ist solch eine Planstelle Mangelware und an eine Funktionsstelle gebunden. Im Lehrerzimmer saßen A13-Beamte neben A12-Kollegen, Fachlehrer mit A10-Gehalt und Angestellte, die über die hohen Sozialabgaben klagten und sich unterbewertet fühlten, weil sie so viel weniger als ihre beamteten Kollegen verdienten. Der römische Herrscher-Wahlspruch „Divide et impera!“ war immer noch in den Köpfen unserer Verwaltungsoberen präsent. Denn der Zorn der Unterprivilegierten richtete sich gegen die privilegierten Kollegen, nicht gegen die Regierenden, die die Privilegien verteilten. Im Mittelalter nannte man sie Lehen.

„Ihr wisst ja gar nicht, wie schwierig das Überleben in der freien Wirtschaft ist!“, verlautbarte eine junge Kollegin, deren Ehemann wie sie Angestellter war. Möglicherweise hatte sie es sich einfacher vorgestellt, zu heiraten, Kinder zu kriegen und mit dem Gehalt des Ehemannes auszukommen. Aber war es meine Schuld, dass sie gezwungen war oder sich gezwungen fühlte, berufstätig zu sein, wenn auch in Teilzeit? Sollte man Kinder nicht erst dann planen, wenn deren Existenz gesichert war? Die Klassenlehrerin meines Sohnes setzte vier Kinder in die Welt und gab dennoch ihre Stelle als Grundschullehrerin nicht auf. Meinem Sohn hat sie nicht geschadet. Eine Lehramtsanwärterin für Mathematik und Geschichte durfte ihre Ausbildung an meiner Schule absolvieren. Ich übernahm die Mentorenfunktion in Geschichte, wie üblich ohne Entlastungsstunde. Sie machte ihr Examen und befand sich auf Stellensuche. Inzwischen hatte sie meinen Kollegen aus Friesland geheiratet. Er nahm kommunikativ Kontakt zu mir auf. „Meine Frau sucht immer noch vergebens eine Stelle an einer Schule.“ – „Oh, das tut mir leid! Im Augenblick werden wegen des Pillenknicks wohl weniger Lehrer gebraucht.“ – „Ja, aber wenn ich sehe, dass du doch einen gut verdienenden Mann hast, dann finde ich es ein bisschen ungerecht. Wir können so keine Familienplanung machen.“ Also sollte ich meine Teilzeit-Stelle abgeben an seine Frau? Dann müsste sie auch Deutsch unterrichten und Musikunterricht geben und die Schülerzeitung betreuen und einen Chor leiten und Orgel spielen. Wenn sie dann Kinder bekommen würde, wäre er ja der gut verdienende Lehrer mit einer Vollzeitstelle. Dann müsste seine Frau ihre Stelle abgeben. Die Logik sollte er mir erklären! Friesen waren wohl eine besondere Sorte Menschen, falls der Kollege denn ein typischer Friese war. Er hatte einen sehr trockenen Humor, der ihm im Laufe der Jahre immer mehr abhandenkam. Ein herzliches Lachen aus vollem Hals, das ich leider nicht oft unterdrücken kann, würde man von ihm nicht hören. Vielleicht sollten Friesen nicht nach Ostwestfalen umsiedeln.

Ich reservierte den Computerraum auf dem Plan, auf der dafür vorgesehenen Folie, die an der Tür des Lehrerzimmers hing. Cosi fan tutte, Kolleginnen und Kollegen, mit einem Folienstift. Er wollte sich, so vermute ich im Nachhinein, den Raum ebenfalls sichern, kam aber zu spät. Statt mich anzusprechen und mich zu fragen, ob ich ihm bitte den Vortritt ließ, stürmte er in den Computerraum, in dem sich meine Klasse gerade niederlassen wollte, und forderte mich auf, den Raum zu verlassen. Über seinen impertinenten Ton ärgerte ich mich und blieb stur. In den nächsten Tagen begegneten wir uns wie zwei Tiger, die sich eine Beute streitig machen wollten. Der Chef konnte sich das Elend nicht mehr mit ansehen und bat uns um ein Gespräch. Er wollte vermitteln. „Warum kann ich nicht in den Computerraum, wenn ich ihn reserviert habe?“, wollte ich wissen. „Weil ich den Computerraum an dem Tag brauchte. Immerhin bist du ja quasi meine Angestellte.“ Peng! Das war die falsche Ansage. Ich stand auf. „Ich bin alles andere als deine Angestellte, aber wenn ich könnte, würde ich dir wieder das Sie anbieten.“ Damit rauschte ich aus dem Chefzimmer. Ein ganzes Jahr lang redeten wir kein einziges Wort miteinander, weder dienstlich noch privat. Erstaunlicherweise schien niemand darunter zu leiden außer dem Chef, der aber jeden Vermittlungsversuch aufgab. Der Kollege war auch als Lehrer umstritten. Man sagte ihm nach, dass er früher seiner Wut über mangelhafte Schülerleistungen Ausdruck verlieh, indem er mit den Fingernägeln an der Wand oder der Tafel kratzte und dabei kreischte: „Warum versteht ihr das nicht?“ Er soll auch schon in seiner Rage auf das Lehrerpult gehüpft sein. Das nötigte mir nun doch einigen Respekt ab, denn so viel sportliche Tüchtigkeit war mir nicht gegeben, ich legte in den Wechseljahren ordentlich an Gewicht zu. Die letzte Schilderung der Schüler meiner zehnten Klasse bezog sich auf eine filmreife Vorstellung des Friesen. Er sollte vor den Schülern auf die Knie gefallen sein und mit den Fäusten vor sich auf den Boden gehämmert haben, wiederum ausrufend: „Warum kapiert ihr das bloß nicht?“ Anschließend machte das Gerücht die Runde, er habe sich strampelnd über den Boden gewälzt. Ein muslimischer Schüler deutete das Geschehen endlich objektiv: Der Kollege hatte einen betenden Muslim imitiert. Erwähnenswert ist, dass er, aus welchen Gründen auch immer, schließlich doch zusammenbrach und sich für ein halbes Jahr in eine psychosomatische Maßnahme begab.

Natürlich wurde der Verdacht unter uns Kollegen, dass die Belastungen in der Schule zu hoch geworden waren, von der Schulleitung als Hirngespinst abgetan.

Interludium

Im Jahr 2002 befand ich mich auf dem Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Mitte der neunziger Jahre angebahnt hatte. Psychologen wurde es gestattet, am allgemeinen Hausarzttopf teilzunehmen. Während es bis dahin eine einzige niedergelassene Psychologin in einem Ortsteil meiner Stadt gab, kamen weitere Psychologen hinzu, darunter auch einer, der lange auf der psychiatrischen Station des hiesigen Krankenhauses tätig war. Der Bedarf schien da zu sein. Oder wurde er geschaffen? Plötzlich gab es Krankheitsbilder, die es noch nie gab. Irgendwann schwappte die Phase „Wenn dir schon organisch nichts fehlt, finden wir sicher eine psychische Macke“ in die Schulen. Wenn ein Schüler nicht lernte, wenn er nicht lernen konnte, wenn er faul war, musste das ja einen psychologischen Grund haben. Wenn der möglicherweise unfähige Lehrer dafür nicht haftbar gemacht werden konnte, jedenfalls nicht gleich und zensurenwirksam für das nächste Zeugnis, konnte man die Eltern wenigstens dazu bewegen, einen seriösen Grund für die Schwächen ihres Sprosses zu suchen. Ihn zu finden war Aufgabe der Psychologen und Diplompädagogen, die sich nun einer dankbaren Klientel zuwendeten und für ihre Diagnostik 120 Euro berechneten. Immerhin gab es hierfür keinen Hausarzttopf.

„Ihr Sohn befindet sich mit seiner Rechtschreibkompetenz am unteren Rand der Legasthenie“, las ich in einem Gutachten, das mir am Elternsprechtag eine Mutter triumphierend auf den Tisch legte. Den Begriff Legasthenie habe ich nie benutzt, aber dass der Sohn eine ausgeprägte Rechtschreibschwäche hatte, stand unter mehreren Diktaten, Aufsätzen und Tests. Für die Diagnostik hatte ich keinen Cent berechnet. „Welche Therapie schlägt Ihr Diplompädagoge denn vor?“, fragte ich neugierig. Die Mutter schaute mich empört an. Ich griff zu meinem Notfallkoffer und entnahm ihm ein Merkblatt.

Wie helfe ich meinem Kind bei Rechtschreibschwierigkeiten?

Tipps für Eltern

Leider reichen die Übungen in der Schule für manche Kinder nicht aus, um ihre Probleme zu beheben. Die meisten Eltern würden sich gern die Zeit nehmen und ihren Kindern helfen, die Rechtschreibung zu verbessern. Aber sie wissen nicht, welche Methoden geeignet sind. Oft trüben gut gemeinte Versuche der Eltern und die darauf folgende Ablehnungshaltung der Kinder ein harmonisches Familienleben. Die folgende Übersicht soll Eltern und ihren Kindern helfen, nach geeigneten Methoden und Mitteln zu suchen, die ihre Kinder zum richtigen Schreiben und sichereren Umgang mit der deutschen Sprache und Schrift motivieren. Die bestimmenden Faktoren sind das Bildgedächtnis, das Gefühl, Regeln und zusätzliche Maßnahmen der Überprüfung. „Von der Hand zum Kopf ist es manchmal ein langer Weg.“ Das Kind liest ein schwieriges Wort mit den Augen richtig, spricht es laut, soll es aufschreiben – und schreibt es falsch. Es kommt darauf an, das richtig geschriebene Wort mit der Hand nachzuschreiben, um das Wortbild danach richtig im Gehirn „speichern“ zu können. Diktate zu Hause sind für viele Kinder wenig motivierend, weil sie wissen: Ich schreibe viele Wörter falsch und muss sie dann auch noch verbessern. Entwickeln Sie mit Ihrem Kind zusammen eine Strategie gegen Rechtschreibfehler.

1.Lassen Sie Ihr Kind regelmäßig ein Buch lesen!

2. Lassen Sie sich von Ihrem Kind regelmäßig aus diesem Buch (oder dem Schulbuch/der Tageszeitung) vorlesen, ohne es ständig zu verbessern!

3. Lassen Sie Ihr Kind regelmäßig kleine selbst gewählte Abschnitte aus diesem Buch (oder aus dem Schulbuch) abschreiben!

4. Lassen Sie Ihr Kind selbst nach falsch abgeschriebenen Wörtern suchen und es richtig aufschreiben! Dabei darf es immer wieder ins Buch schauen.

5. Lassen Sie Ihr Kind den Einkaufszettel oder andere Notizen schreiben!

6. Motivieren Sie Ihr Kind, an Verwandte, Freunde oder Bekannte zu schreiben (Postkarten oder kleinere Briefe)! Korrigieren Sie die Entwürfe vorsichtig!

7. Rechtschreibschwierigkeiten sind keine Krankheit und auch nicht unbedingt ein Zeichen mangelnder Intelligenz. Üben Sie mit dem Kind mäßig, aber regelmäßig anhand der Hausaufgaben im Fach Deutsch!

8. Kontrollieren Sie regelmäßig alle Haushefte und Mappen Ihres Kindes und halten Sie es zu einer ordentlichen Schreibweise mit Tintenstift an! Richtiges Schreiben und Schönschreiben gehören zusammen.

Gute Rechtschreiber speichern Worte als Wortbilder, rufen diese Bilder gezielt ab und sehen innerlich das Wort als Kette von Buchstaben. Sie reagieren auf Rechtschreibfehler mit einem unguten Gefühl und korrigieren sofort den Fehler, bis das gute Gefühl wieder hergestellt ist. Der LÜK-Übungskasten greift dieses Prinzip auf. Ihr Kind kann selbstständig Fehler verbessern und sein Lerntempo selbst bestimmen. LÜK-Kästen und die entsprechenden Übungshefte sind über den Buchhandel erhältlich, sie liegen auch als CD-ROM vor. Gute Rechtschreiber entwickeln eine Strategie, wie sie Fehler vermeiden. Helfen Sie Ihrem Kind, indem Sie ihm ein eigenes Rechtschreib-Wörterbuch zur Verfügung stellen! Veranstalten Sie Wettbewerbe: Wer findet ein Wort schneller (Stoppuhr)? Beruhigen Sie sich und Ihr Kind: Es schreibt in der Regel 80% der gehörten Wörter richtig. Für die restlichen 20 % muss es eine Strategie entwickeln. Es gibt eine Fülle von abwechslungsreichen Rätselheften (z.B. Ravensburger). Auch Kreuzwort- oder Silbenrätsel schulen die Rechtschreibfähigkeiten. Denken Sie daran: Von nichts kommt nichts! Ohne Fleiß kein Preis! Richtig schreiben lernen kann man nur durch richtiges Schreiben.

Ich wusste durch meinen Medizin-Mann: Eine gute Diagnose ist nur die halbe Weisheit. Eine gute Therapie ist erst der Weisheit letzter Schluss. Was nun folgte, wusste ich aus Erfahrung. Die Mutter steckte das Merkblatt unsicher ein. Dann raffte sie sich auf. Es steckte noch ein Trumpf im Ärmel. „Aber der Herr A. meinte, die Deutschnote würde nun ausgesetzt werden!“, meinte sie. Ich blickte sie freundlich an. „Die Deutschnote besteht nur zu einem kleinen Teil aus der Rechtschreibnote. Deswegen könnte ich die Note gar nicht aussetzen. Außerdem gibt mir das Schulgesetz keine Möglichkeit, wegen einer Rechtschreibschwäche die Note auszusetzen.“ Sie steckte das Gutachten mit beleidigter Miene in ihre Tasche. Ich riet ihr, ihrem Kind keinen Stempel mit dem Aufdruck „Unfähig, richtig schreiben zu lernen“ zu verpassen, sondern ihm Bücher zu kaufen und es schreiben zu lassen. Richtig hartnäckige Eltern versuchten es mit ärztlichen Attesten. Als ich von einer hessischen Kinderärztin hörte, die an einer Grundschule Hochglanzbroschüren verteilte, in denen sie für die Verordnung eines Betäubungsmittels mit harmlosem Namen bei dem neuentdeckten „Zappelphilipp-Syndrom“ warb, stellten sich mir sämtliche Haare aufrecht. Eine Grundschullehrerin in meiner Stadt, mit der ich ebenfalls im Kirchenchor sang, war mit einem Kinder- und Jugendpsychiater vermählt, der die neue Einnahmequelle ebenfalls entdeckt hatte. Millionen von Pillen wurden innerhalb kurzer Zeit von euphorischen Ärzten, sogar von Frauen- und Zahnärzten, hilflosen Eltern für ihre hilfloseren Kinder verschrieben, Pillen, die jeder Arzt nur auf Betäubungsmittelrezepten verordnen durfte, die er beim Bundesgesundheitsamt bestellen und im Safe aufbewahren musste. Pillen, mit denen in den USA traumatisierte Rückkehrer aus Kriegsgebieten behandelt wurden! Ich war wütend. Ich debattierte mit den Eltern auf Elternversammlungen, bat sie, ihr Kind nur dann mit solchen Medikamenten ruhigzustellen, wenn die Diagnose eines Kinderfacharztes wirklich eine Erkrankung sicherstellte. Ich fing sogar vor Wut wieder an zu dichten und zu komponieren. Meinen ADHS-Song findet der Leser weiter unten.

Es dauerte noch mehrere Jahre, bis die Kritiker endlich die Oberhand gewannen, bis den meisten Eltern klar wurde, dass auch das angeblich harmlosere Folgemedikament süchtig machen und dafür sorgen konnte, dass die Kinder auch als Erwachsene auf die Dauereinnahme von Psychopharmaka angewiesen sein könnten. Wer will so etwas seinem eigenen Kind antun? Und es dauerte mehrere Jahre, mit vielen Konferenzen, bis die verunsicherten Kollegen sich nicht mehr von Gutachten und Attesten beeindrucken ließen, für die die Eltern viel Geld bezahlt hatten, als erhielten sie mit ihnen per Rezept die Absolution, dass sie als Eltern keinerlei Erziehungs- und Bildungsarbeit zu leisten hätten. Ich erinnere mich an den Jungen, der oft den Unterricht gestört hatte und ermahnt werden musste, dann plötzlich teilnahmslos auf seinem Stuhl saß und mich fortwährend anstierte, kaum blinzelte, sich aber auch nicht beteiligte und auf meine Fragen nur mit einem langen, hohlen Blick reagierte. Die Mutter, von mir besorgt kontaktiert, hatte schon länger Bedenken gegen das Medikament, war aber der Therapie des Hausarztes gefolgt. Nun wollte sie sich langsam aus der Medikation ihres Jungen ausschleichen – auf eigene Verantwortung. Sie hatte zu Hause die gleiche Erfahrung gemacht. „Das ist nicht mehr mein Sohn!“ Meine Besorgnis war keinesfalls geringer geworden.

Der ADHS-Song

1.Ich bin aktiv, bin so aktiv,
ich brauche Luft und keinen Mief,
was abzudreh'n ist, dreh' ich ab,
ich halte meine Welt in Trab.
Auf meinen Muskeln liegt kein Staub,
bei Mahnungen stell ich mich taub,
ja, stillzusitzen fällt mir schwer,
ich flitze hin, ich flitze her.
Refrain:
Ich brauche jetzt mein Vitamin,
ach bitte gebt mir R...,
denn es macht mich so sanft und cool,
R..., R... ist mein Ruhepool.

2. Ich bin aktiv, bin so aktiv,
der Segen hängt zu Hause schief,
wenn alle schlafen, bin ich wach,
wenn Ruhe sein soll, mach ich Krach.
Wenn in der Klasse alle lachen,
muss ich weiter Faxen machen.
Die Lehrernerven liegen blank,
doch gibt's ein Mittel, Gott sei Dank!
(R)
3. Ich bin aktiv, bin so aktiv,
die Geister kamen, die man rief,
die Seelenklempner, Therapeuten,
die endlich über mich sich freuten.
Nun sitz' ich still, es ist nicht schwer,
ich flitze nicht mehr hin und her,
und in der Schule bin ich stille,
denn endlich nehme ich die Pille!
(R)
Gesprochen: Wo ich bin, herrscht Chaos,
aber ich kann ja nicht überall sein.
Sitz still! Hör auf zu zappeln! Pass auf!
Konzentriere dich! Du störst die anderen!
Kannst du nicht etwas Sinnvolles tun?
Aus dir wird nie etwas!

Kap. 14

Deules, also Deutschlehrer, brauchen weniger Technik als Geles, Geschichtslehrer, oder Poles, Politiklehrer. Die Technik, die mir in meiner Realschule geboten wurde, war mir vertraut. Den Kopierer, den modernen Umdrucker, durfte ich nun ohne Einschränkungen nutzen, in Lehrerkonferenzen wurden wir regelmäßig zu Sparsamkeit angehalten, und ich nahm dieses Anliegen ernst. Das Buch war für mich nach wie vor erstes Lehrmittel, Kopien teilte ich nur aus, wenn es keine Alternative gab, etwa bei Lernerfolgskontrollen oder fehlendem Übungsmaterial.

Es stieß mir sauer auf, dass seit einigen Jahren in den zehnten Klassen auf ein Lehrbuch verzichtet wurde. Die angeblich unanfechtbare Begründung lautete, dass man die Abschlussklassen auf die Zentralen Prüfungen vorbereiten müsse. Es gab einen speziellen Projekttag. Manche Kollegen rieten den Schülern, spezielles Trainingsmaterial zu kaufen. Wir wurden mit Werbematerial überschüttet. Sinnvoller fand ich es, den Schülern den Zugang zu amtlichen Internetseiten, etwa im Rahmen der Bildungsserver, zu verschaffen. Wer wirklich an seinem Fortkommen interessiert war, würde selbst Mittel und Wege finden, um auf die ZP besser vorbereitet zu sein als die meisten indifferenten Mitschüler.

In meinem Lehrerraum – Klassenräume wurden abgeschafft – befanden sich im Jahr 2013 ein schuleigener Tageslichtprojektor, ein vom Hausmeister überlassenes altes, aber noch funktionstüchtiges Radio, mein eigener Flachbildfernseher, mein DVD-Spieler, ein von der Schule ausgemusterter und vom Seniorpartner konfigurierter PC, mein Beamer, meine digitale Videokamera von 1998 und – meine Gitarre. Ich war es leid, immer wieder Geräte im Medienraum zu organisieren, über den Flur zu schieben und im Klassenraum festzustellen, dass das Scartkabel wackelte oder mit Isolierband notdürftig befestigt war, die Batterien in der Fernbedienung ausgelaufen waren oder die Bedienung nicht dort war, wo sie sein sollte. Ich beschaffte mir meinen eigenen Medienraum, in dem es möglich war, auch einmal eine Filmsequenz von wenigen Minuten ohne großen Aufwand zu zeigen. Lehrerräume waren nach dem Unterricht stets abzuschließen. Nicht die Lehrer wanderten von einer zur anderen Klasse, sondern die Schüler von einem zum anderen Lehrerraum. Auf den Fluren herrschte Gedränge, aber mein Lehrerraum war ordentlich. Nachdem die Mensa gebaut war und die Schule eine neue Außenisolierung sowie einen frischen Anstrich erhalten hatte, würde die Stadt als Träger nur die allernotwendigsten Anschaffungen tätigen können. Ich wollte in den letzten Jahren meines Lehrerdaseins nicht mehr wie in den vergangenen dreißig Jahren improvisieren müssen, sondern halbwegs professionell arbeiten. Also investierte ich mein eigenes Geld in die technische Ausstattung meines Raumes. Der Kollege, der in etwa 60 Arbeitsstunden ein Konzept für MINT per Whiteboard und mit moderner Präsentationssoftware erarbeitet und vorgeführt hatte, musste zur Kenntnis nehmen, dass Whiteboards für alle Klassen sein Wunschtraum blieben, weil die finanzielle Situation der Stadt die Anschaffung nicht zuließ. Andere Schulen schafften bereits die zweite Generation an Whiteboards an. Wir diskutierten die Einrichtung einer Laptopklasse. Andere Schulen schafften sie nach jahrelangem Einsatz wieder ab. Die Erfolgsmeldungen hatten sie nicht vom Hocker gerissen.

ICQ, SchülerVZ und Facebook hatten unsere Schüler erobert und sorgten dafür, dass für häusliche Bildung, und sei es nur in Form von Schul- bzw. Hausaufgaben, immer weniger Zeit und Energie aufgebracht wurde. Stattdessen mussten auch wir uns – verspätet – einer Amoklaufdrohung widmen. Ein Hauptschüler setzte angeblich die Warnung über ICQ ab, Realschüler nahmen den Ball auf und gaben ihn weiter, ängstliche Mütter und Väter informierten die Schule. Unsere Rektorin, die gerade alle Energie für die Bearbeitung des Schulprogramms aufbringen musste, da die Qualitätsanalyse in Form einer Schulinspektion anstand, musste sich der Amokdrohung zuwenden. Sie stellte den Eltern frei, ihr Kind am nächsten Tag in die Schule zu schicken oder nicht. Wir Lehrer waren selbstverständlich im Unterrichtsraum und stellten fest, dass in erster Linie diejenigen Schülerinnen und vor allem Schüler fehlten, die nicht zu den eifrigsten gehörten und auch bei Schneeglätte oder Eisregenwarnung gern einmal durch Abwesenheit glänzten. Die Kriminalpolizei ermittelte, die Quelle wurde gefunden, zum Glück konnte Entwarnung gegeben werden. Es war ein schlechter Scherz, der viele Schüler und einige Lehrer in Panik versetzte. Es folgte für das Kollegium eine Fortbildung durch die Kriminalpolizei über das Verhalten bei Amoklaufdrohungen.

Es gab nur eine kurze Zeit der Ruhe. Ich kam aus dem Unterricht und öffnete die Tür zum Verwaltungstrakt, als meine Chefin rief: „Kannst du einmal in den Sanitätsraum gehen und nach der Schülerin schauen, die auf der Pritsche liegt? Angeblich wurde im oberen Flur Pfefferspray versprüht.“ Ich schaute nach dem Mädchen, einer Fünftklässlerin, die ein wenig blass, ein bisschen kurzatmig und zitternd dalag und mich mit leicht tränenden Augen anschaute. Als ich sie ruhig ansprechen wollte, hörte ich klackernde Absätze auf den Sanitätsraum zueilen, schon schob eine jüngere Kollegin, die Klassenlehrerin, mich barsch zur Seite, beugte sich hektisch über das Mädchen und rannte Sekunden später ins Büro. Wie ich kurz darauf erfuhr, rief sie den Rettungsdienst. Während ich mir in meiner neunten Klasse die Story vom Pfefferspray anhörte, fuhr ein Rettungswagen nach dem anderen auf den Schulhof. Die Schüler wollten jeden sehen und mit den passenden Bemerkungen darauf reagieren. An ein geordnetes Unterrichten war nicht zu denken, ständig schaute ein Schüler aus dem Fenster und schrie: „Da kommt schon wieder ein Krankenwagen!“ Die meisten Schüler wurden im Krankenhaus kurz behandelt und wieder nach Hause geschickt, zwei blieben über Nacht zur Beobachtung dort. Die Schlagzeilen in den Zeitungen folgten am nächsten Morgen: „Pfefferspray-Angriff an der Realschule!“ Die Online-Meldungen konnte ich bereits wenige Stunden später lesen. Sie geisterten jahrelang im Netz herum. Sobald man den Namen unseres Kleinstädtchens und beschaulichen Kurortes in Google eingibt, spuckt die Suchmaschine immer noch den Pfefferspray-Angriff aus.

Was war geschehen? Die Märchenstunde brachte es nicht vollständig ans Tageslicht. Ein Zehntklässler fand die Dose an der Bushaltestelle auf dem Bürgersteig und gab sie an einen zweiten Schüler seiner Klasse weiter. Ein dritter, Schüler meiner Klasse, ein Wiederholer, nahm sie an sich und steckte sie in die Jackentasche. In der Pause holte er sie hervor und drückte mehrmals auf den Sprühknopf, während eine fünfte Klasse vor einem Lehrerraum die Schultaschen abstellte. Einige der Kleinen litten unter dem versprühten Gas, einige meldeten erst, nachdem sie auf den Pausenhof gegangen waren, dass ihnen schwindlig und übel war, nach und nach breitete sich die Panik aus und führte zu den genannten Rettungseinsätzen. Der Schulleitung blieb nichts anderes übrig, als die vorgeschriebenen Maßnahmen zu ergreifen. Eine gute Reklame für unsere Schule waren diese Vorfälle nicht, aber im Internet konnte man zur gleichen Zeit eine Häufung feststellen. Pfefferspray ist für wenige Euro problemlos über verschiedene Internetseiten zu bestellen. Kürzlich musste ich eine neue Leselampe kaufen. Im Lampengeschäft stand im Kassenbereich eine Kiste mit Pfefferspray.

Es folgten die üblichen Konferenzen, Protokolle, Ordnungsmaßnahmen. Die drei Schüler fürchteten schlimme Strafen, rechneten mit dem Verweis von der Schule, doch da sie bis dahin keine großen Probleme bereitet hatten, wurden sie milde behandelt. Wir wollten keine weiteren Sprayer ermutigen, indem wir aus dem Vorfall einen Riesenzirkus machten. Ob unsere pädagogischen Bemühungen von Erfolg gekrönt sein würden, ließ sich nicht vorhersagen. Im Endeffekt konnte alles, was wir tun, falsch sein und hätte dann natürlich die Reaktionen aller Besserwisser zur Folge, die uns Versagen vorwerfen würden. Zum Glück provoziert der Vorfall keine Nachahmungstäter.

Die zehnte Klasse war ruhig und angenehm motiviert für meine Deutschstunde, Erich Frieds Gedicht „Was es ist“ wurde analysiert und interpretiert. Mitten in die schläfrige Stimmung quäkte aus dem Lautsprecher über der Tafel das Lied „Help“ von den Beatles. Ich stand starr, mein Gesicht fühlte sich für einen Moment eisig an. Die Klasse starrte mich an. Sie konnte nicht wissen, was in mich gefahren war. Das Lied war das mit den und für die Lehrpersonen vereinbarte Signal, das einen Amoklauf in unserer Schule verkündete. Ich nahm meinen an einem blauen Band befestigten Schlüssel, winkte den Klassensprecher zu mir und sage ruhig, er solle hinter mir den Raum abschließen und nur auf meine Bitte wieder öffnen, denn ich wolle nachsehen, was draußen los sei. Vorsichtig, aber entschlossen öffnete ich die Tür, der Junge schloss hinter mir ab. Aus dem Erdkunderaum ertönte ein recht munterer Lärm, die Sprechanlage dort war seit Jahren nicht funktionstüchtig. Kein Mensch war auf dem Flur zu sehen, und ich beschloss zum Lehrerzimmer im Erdgeschoss zu gehen. An der Treppe kam mir eine Kollegin leicht genervt, aber auch amüsiert lächelnd entgegen. „Es war Fehlalarm, da hat jemand auf den falschen Knopf gedrückt.“ Ich kehrte in meine Klasse zurück, immer noch schaute niemand nach dem Rechten. Warum war ich die einzige hysterische Zicke, die sich Sorgen gemacht hatte? Wo waren meine vierzig Kolleginnen und Kollegen? In der Pause saßen nur wenige im Lehrerzimmer. Diese waren ebenso gleichmütig wie ich. Niemand hatte ernsthaft an einen Amoklauf geglaubt.

Es war der Tag vor den Osterferien. Ich hatte bereits seit drei Wochen ein ausgeprägtes Feriengefühl, denn die neunten Klassen waren im Praktikum. Der Vertretungsunterricht hielt sich in Grenzen, die Stimmung war gut, das Wetter besser denn je, sommerliche Lüfte wehten durch und um die Schule. Ich räumte in der großen Pause meinen Raum auf und ging verspätet in die Pause. Auf dem oberen Flur trat mir eine Kollegin verschwörerisch entgegen und murmelte: „Wir sollen alle Fenster und Türen schließen, in der Südstadt ist Gasalarm gegeben worden, weil bei Bauarbeiten eine Gasleitung angekratzt wurde.“ Sie marschierte weiter. Folgsam kehrte ich in meinen Raum zurück und schloss alle Fenster, bevor ich die Tür erneut abschloss und zum Lehrerzimmer hinunterging. Ich war absolut ruhig, nur neugierig. Nach der zweiten Stunde hatte ich keinen weiteren Unterricht. Im Lehrerzimmer hielten sich nur wenige Kollegen auf. Die Schulleiterin war in der benachbarten Hauptschule, um sich mit deren Leiterin abzusprechen. Unser Schulzentrum gehörte zur Südstadt. Ich erfuhr, dass aus einer Gasleitung im Gewerbegebiet Gas austrat und Explosionsgefahr herrschte. Da klingelte es auch schon zur dritten Stunde. Die Schulverwaltungsassistentin war nervös und verkündete, dass eine Kollegin nicht pünktlich in der Schule sein könne, da die Zufahrtsstraße in unsere Stadt gesperrt sei, weiträumig hatte die Polizei Straßensperren errichtet. Ich erklärte mich bereit, in die verwaiste Klasse zu gehen und sie zu beschäftigen. Nach wenigen Minuten hörten wir ganz leise durch die Lautsprecheranlage die Stimme der Schulleiterin. Als endlich alle Schüler ruhig waren, konnten wir bruchstückhaft die Ansage über verschiedene Abfahrtszeiten von Bussen an verschiedenen Bushaltestellen der Innenstadt verfolgen. Die betroffenen Mädchen und Jungen packten ohne meine Aufforderung ihre Sachen und liefen zur Tür. Ich ließ sie laufen, wies die Zurückgebliebenen an, ruhig sitzen zu bleiben, vergewisserte mich, dass niemand panisch wirkte, und sah nach meiner Klasse, die im benachbarten Raum von einer Kollegin gerade sortiert wurde. Sie wollte von jedem Schüler wissen, zu welcher Bushaltestelle er ging, ob „Mama oder jemand anders zu Hause ist“ – es war ein Versuch, das Heft in der Hand zu behalten und Verantwortung für etwas zu übernehmen, das uns im Ernstfall überforderte.

Die Schulleiterin hatte sich inzwischen einen besseren Überblick über die Gefahrenlage verschaffen können. Der Bürgermeister hatte einige Schulen angewiesen, die Schüler in der Schule zu behalten. Unsere Schule und die Hauptschule wurden ausgespart. Der Bürgermeister hielt sich medienwirksam in der Nähe der Einsatzkräfte auf und wurde entsprechend in den Printmedien und in Internetportalen der lokalen Presse und Sender erwähnt und abgebildet. Der Schulamtsleiter befand sich im Urlaub. Sein Vertreter war einer unser ehemaligen Schüler, er organisierte die Busse, deren Abfahrtzeiten wir in unserem Teil des Schulgebäudes nur undeutlich über die Lautsprecheranlage verfolgen konnten. Die Schulleiterin war inzwischen darüber informiert worden, dass die Anlage nicht optimal funktionierte, sie lief von Klasse zu Klasse, um über die eingesetzten Sonderbusse zu informieren. In Absprache mit der Leiterin der Hauptschule beschloss sie, auch die in der Schule verbliebenen einheimischen Schüler in Richtung Nordstadt zu schicken. Unsere beiden Schulen lagen von allen Schulen der Unglücksstelle am nächsten. Dazwischen liegen noch ein Fastfood-Restaurant, ein Autohaus jeweils rechts und links der Straße, zwei Tankstellen, ein Grillrestaurant, zwei weitere Autohäuser sowie ein Lebensmittelladen und eine Kirche mit angeschlossenem Pfarrhaus und Kindergarten. Der Kirchvorplatz wäre im Katastrophenfall Sammelstelle für unsere Schüler gewesen, was unter den gegebenen Umständen nicht in Frage kam. Wir waren nicht in unmittelbarer Nähe, doch wir konnten auch das Ausmaß der möglichen Katastrophe nicht abschätzen. Also hielt die Schulleiterin eine Evakuation Richtung Norden für die beste Lösung.

Als es dann gar nicht zur gefürchteten Gasexplosion kam, fehlten den meisten Bürgern, auch unseren Eltern, die Sensation und die Ruhe, zur Ausgangslage zurückzukehren. Hatte man nach dem Pfefferspray-Alarm noch gefragt, ob die Schulleitung einen Seelsorger eingesetzt habe, spekulierte man nun über mögliche Versäumnisse. Warum hatten Lehrer die Schüler nicht klassenweise von der Schule weggeführt? Wie sollten auswärtige Schüler, die sich im Schulort nicht auskennen, die angegebenen Bushaltestellen finden? Warum hatte die entnervte Schulverwaltungsangestellte am Telefon nach fünf Minuten einer der zahlreichen besorgten Mütter zu sagen gewagt, sie möge bitte das Gespräch beenden, andere Eltern hätten auch ein Recht auf Information? Warum hatten zwei Schüler sich in ein Café flüchten und dort in ihrer Angst das Vaterunser beten müssen? Diese Frage konnte ich zwei Tage später beantworten, nachdem ich in das Café gegangen war und gefragt hatte. Die Verkäuferin war statt der beiden Schüler durch deren Schilderung in Panik geraten und hatte in ihrer Not zum Gebet gegriffen. Immerhin.

Können Fünftklässler wirklich schon das ganze Vaterunser auswendig hersagen? Ich fragte mich, warum sie dann drei Vierzeiler im Deutschunterricht, die ich sie auswendig lernen lassen wollte, schon als Zumutung empfanden.

Am Ende der vierten Stunde hatten alle Schüler das Schulgelände verlassen. Im Lehrerzimmer diktierte mir die Schulleiterin einen Informationstext, den ich anschließend von zu Hause aus mit meinem guten alten Frontpage auf „meine“ Schulhomepage setzen sollte. Bevor ich in mein Auto steigen konnte, erlebte ich noch zwei kurze, aber bezeichnende Szenen auf dem Schulhof. Im Hallenbad war wohl eine Grundschulklasse mit ihren beiden Lehrerinnen nicht rechtzeitig fertig geworden, jedenfalls liefen vor meinen Augen die Kleinen zur Hauptschule hinüber, an deren Schulhof die Bushaltestelle stieß. Plötzlich sah ich zwei unserer Fünftklässler und rief ihnen zu: „Wo wollt ihr denn hin? Ihr lauft in die falsche Richtung!“ Sie kamen aus einem etwa acht Kilometer entfernten Dorf und hätten am Rathaus in ihren Sonderbus steigen müssen. Einer der Jungen drehte sich im Laufen um und rief zurück: „Der Grundschulbus nimmt uns mit!“ Beruhigt ließ ich die Kleinen weiterlaufen, sie schienen ja sicher zu sein. Warum der Grundschulbus nicht hinter dem Hallenbad wartete, weiter von der Gefahrenquelle entfernt, konnte ich nicht mehr herausfinden, die beiden Lehrerinnen trabten nicht sonderlich beunruhigt hinter ihren Schülern her, ich wagte sie nicht aufzuhalten.

Ich eilte nun rascher zum Schultor, als mir eine im Gesicht hochrote, junge, etwas dickliche Frau entgegenkam, ich dachte, sie wollte mich ansprechen, doch im letzten Moment kriegte sie schwer hechelnd die Kurve um mich herum, so dass ich nur kurz befürchten musste, dass sie mich zur Seite kicken wollte. „Guten Tag!“, sagte ich, wunderte mich nicht, dass keine Antwort erfolgte, sah mich um und die Frau auf den Haupteingang zurennen. Im gleichen Moment kam ein Mädchen auf Krücken aus dem Seiteneingang, rief „Mama!“, und die Frau schlug einen Haken und eilte auf das Mädchen zu. Ich fühlte aus einem unbestimmten Grund, dass ich hier eingreifen musste, ging auf die beiden zu, sah, dass die Mutter die Krücken und ihre Tochter ergriff und sie hinter sich her ziehen wollte. „Hallo!“, sagte ich. Sie japste zurück: „Hallo!“ Betont gefasst sage ich: „Es gibt keinen Grund zur Panik. Bitte bleiben Sie ruhig!“ Sie will an mir vorbei, besann sich dann, atmete tief durch und meinte: „Man macht sich doch Sorgen!“ Ich antwortete: „Daran ändern Sie doch nichts, wenn Sie panisch durch die Gegend laufen. Was sollen denn die Kinder denken? Wir Erwachsene müssen mit gutem Beispiel vorangehen.“ Als hätte sie eine Hektiklampe in ihrem Inneren ausgeknipst, atmete sie weniger schwer, sah mich deutlich entspannter an und sagte: „Sie haben recht.“ Wir wünschten uns allen gute Ferien und gingen zu unseren Autos. Ruhig half sie ihrem Kind in den Wagen und fuhr gesittet die Schulstraße hinaus.

Später wurde das Gerücht kolportiert, die Schulleiterin habe einen Lehrer auf dem Schulhof postiert, der alle Schüler vom Schulhof zurückweisen sollte, auch diejenigen, die vom Schulbüro aus ihre Eltern anrufen wollten. Ich sah weit und breit keinen Kollegen mehr. Ich fuhr nach Hause – die Luftlinie zur angekratzten Gasleitung war kürzer als die zwischen ihr und der Realschule. Mein Nachbar, ein Autolackierermeister, grüßte mich und rief: „Hörst du das Gas rauschen?“ Nun erst lauschte ich und vernahm wirklich ein mächtiges Zischen. „Wir sollen ins Haus gehen und die Fenster schließen, haben die mit ihrem Lautsprecherwagen durchgesagt. Was für ein Quatsch! Das Gas ist nur an der Austrittsstelle am Rohr so verdichtet, dass es explodieren kann, bis hierher kommt es gar nicht mehr, weil es sich schon verflüchtigt hat.“ Ich nickte ihm zu und entschuldigte mich, ich müsse schnell einen Text auf die Homepage setzen. Übrigens vermuteten Eltern auch hier später ein Versäumnis: Warum hatte die Schulleitung einen Text auf die Homepage setzen lassen, wenn doch die meisten besorgten Eltern während der Arbeit kein Internet hatten? Der Ordner mit den Maßnahmen im Katastrophenfall hat achtundzwanzig Seiten. Es fehlt die Angabe, wie mit Eltern umzugehen ist, die kein Internet haben.

Ich saß also bei geschlossenem Fenster – Ostseite, ich kann von meinem Arbeitszimmer aus das Zeichen des Fastfood-Restaurants in der Nähe des Lecks gut sehen – an meinem PC und tippte den Text in die Tastatur, loggte mich bei Filezilla ein und setzte den Text auf die Homepage. Abends um acht Uhr nahm ich sie wieder heraus, ohne Absprache mit der Schulleiterin, denn inzwischen berichteten sämtliche Online-Zeitungen und der lokale Radiosender über das Beinaheunglück mit der von einem Bagger beschädigten Gasleitung. Die Ferien begannen.

Kap. 15

„Schaut mal, die Migranten sind wieder unterwegs!“, spottete ich vor meiner Klasse über die an meinem Lehrerraum vorbeiziehenden Schülermassen. Empörte Blicke richteten sich auf mich, ich erklärte zum hundertsten Mal, dass der Begriff Migranten aus dem Lateinischen stammt, dass migrare nichts anderes als wandern bedeutet und Migranten eben Wanderer seien. Die empörten Blicke wandelten sich in erstaunte und dann in verstehende. Mein Schüler „mit Migrationshintergrund“, Ahmad, erlebte einen neuen Pubertätsschub, erkennbar an seinem deutlich aggressiveren Verhalten. Meine Geduld war wieder gefordert. Ich wollte nicht mit Sarrazin in einen Topf geworfen werden. Das musste man doch wohl einmal sagen dürfen! Meine Klasse konnte ich tatsächlich zu bescheidenem politischen Denken bewegen. Manchmal übernahm ich eine Extremposition und sie versuchten mit allen sachlichen und teils auch unsachlichen Argumenten meine Position zu widerlegen. Dann ging es manchmal so hoch her, dass jeder Lauscher an der Tür sich nicht hereingewagt hätte, um nach dem Grund der Aufregungen zu fragen. Mit sanfter Gewalt in Form von informellen Tests fragte ich aber auch regelmäßig das aktuelle politische Wissen und die moralische Haltung der Zehntklässler ab: Warum ist es schlimm, wenn in Deutschland jemand eine Doktorarbeit zu großen Teilen kopiert, die Kopie aber nicht kennzeichnet? Was ist illegal an Plagiaten? Warum ist es unerträglich, wenn jemand den Juden ein besonderes Gen zuschreibt? Warum ist es eine dumme Behauptung, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe deswegen so schnell laufen könnten, weil ihr Bauchnabel fünf Zentimeter tiefer sitze als bei Menschen mit heller Haut? Ich wollte nie glauben, dass gegen Dummheit selbst Götter vergebens kämpften.

Ahmad trug wenig zum jeweiligen Unterrichtsthema bei, aber er ließ keine Gelegenheit aus, wenn es darum ging, mir eine irgendwie geartete politische Unkorrektheit vorzuwerfen. Er hatte wohl nicht vertragen und vergessen, dass ich mich in Bezug auf das Schächten nicht auf seine Seite gestellt hatte. Das Unterrichtsgespräch begann unverfänglich, es ging um Determinismus und die Analyse komplexerer Texte. Ich wollte die Schüler auf alle möglichen Themen der ZP vorbereiten und wählte nicht leicht zugängliche Texte aus. Wir erreichten den Aspekt des religiösen Determinismus und waren uns einig, dass die Religion in unserer demokratischen Gesellschaft Privatsache ist. Das riss ihn zu der Bemerkung hin, jeder müsse doch an Gott glauben, Gott sei Allah, und alle Menschen müssten an ihn glauben. Die Schüler kannten ihn, seine Ausfälle, sie reagierten vorsichtig kritisch, ihre Zwischenbemerkungen gingen jedoch in einem allgemeinen Gemurmel unter. Freundlich korrigierte ich Ahmad: „Ach, weißt du, wenn du an Allah glauben willst, dann tue es doch. Aber du kannst mir nicht vorschreiben, ob ich und an welchen Gott ich glauben soll.“ Daraufhin brach er in heiligen Zorn aus: „Es ist doch ganz klar, dass Sie ein Rassist sind! Und kommen Sie mir nicht damit, dass Sie ja mit einem Moslem verheiratet sind und sich auskennen! Sie sind ein Rassist!“ Ich erinnerte mich an einen Passus der Richtlinien für das Fach Deutsch, in dem eine Gegenmeinung ausdrücklich erwünscht ist, um Schüler zu einer besseren Auseinandersetzung mit der Welt zu bringen, notfalls auch zu provozieren. Allerdings war ich nun schlicht wütend. „Mir ist klar, dass Islamisten eine Christin nicht akzeptieren, auch wenn sie mit einem Muslim verheiratet ist.“ Damit setzte ich den Unterricht fort und ignorierte den Jungen. Die entspannte Stimmung war nicht mehr zurückzuholen.

Nach der Stunde überlegte ich, ob ich eine Nacht über dem Vorfall schlafen sollte, informierte dann aber doch die Schulleiterin. Am nächsten Tag bot sie mir an, den Jungen sofort in die Parallelklasse zu versetzen, ich stimmte zu, die Eltern waren einverstanden, die betroffene Klassenlehrerin ebenfalls. Der Junge muss gezögert haben, er soll einem Mitschüler gegenüber geäußert haben: „Vielleicht sollte ich noch einmal mit ihr reden.“ Doch er musste die Klasse wechseln – zum zweiten Mal, denn bereits nach der fünften Klasse wechselte er die Lerngruppe. Die aufnehmende Klasse protestierte nicht, doch der Klassensprecher meinte: „Unser Abschluss-T-Shirt kriegt er aber nicht! Er kann ja die T-Shirts von allen drei Klassen anziehen.“ Ich zog in Erwägung, doch irgendwann einmal Sarrazins erstes Buch zu lesen. Bisher hatten meine natürliche Abneigung dagegen und die aggressive Vermarktung mich davon abgehalten. Sarrazin auf allen Kanälen förderte meine Fernsehabstinenz. Doch der Gedanke schmeckte mir auch nicht, dass der kleine Scheißer Ahmad mich dazu brachte, bei Sarrazin Argumente für meine Abneigung ihm gegenüber zu suchen. Ich las später auch das Werk von Buschkowsky nicht. Er war mir zu oft in Talkshows zu Gast. Ahmad und ich begegneten uns in den letzten Wochen vor dem Abschluss mit ausgesuchter Höflichkeit.

„Kann ich mal nachsehen, wo ich meine Jacke gelassen habe? Ich glaube, ich habe sie an den Haken vor dem Biologieraum gehangen.“ Einmal Pädagoge, immer Pädagoge. In der fünften Klasse liegt der Acker der Hochsprache noch relativ brach. „Moment mal! Bevor du gehst, lernen wir. Mitgefangen – mitgehangen! So heißt ein altes Sprichwort in einer alten Sprache. Wir sagen heute aber: Ich habe meine Jacke aufgehängt.“ Das Kind ging seine Jacke suchen. Ein anderes meldete sich. „Gucken Sie mal!“ Die sichtlich besorgte Schülerin nickte in die Richtung des Mädchens neben sich. Ich stellte fest, dass es weinte. „Was ist denn los?“, fragte ich mütterlich erschrocken und ahnungslos. „Sie wissen doch: Ihr Vater …!“ Oh Gott, ja, nun fiel es mir wieder ein. Der Vater des Mädchens hatte sich einige Monate vorher durch Erhängen das Leben genommen. „Es tut mir sehr leid! Gehst du mit ihr kurz auf den Schulhof? Wenn du dich beruhigt hast, kommst du wieder, ja?“ Es dauerte keine sieben Minuten, da kehrten beide in meinen Lehrerraum zurück, und weitere drei Minuten später lachten und schwätzten die beiden munter miteinander. Ich fasste es nicht. Aber ein Deule sollte eben auch die Anfänge der pädagogischen Psychologie oder der psychologischen Pädagogik beherrschen. Meine rudimentären Kenntnisse in Psychologie führten in einem anderen Fall dazu, dass ich alle meine schauspielerischen Fähigkeiten aufbieten musste, um meine wahren Gedanken zu verbergen und einen kleinen, unreifen Jungen nicht zu verletzen, der seinerseits keinerlei Hemmungen zu haben schien, seine Mitschüler zu verletzen, in erster Linie körperlich. Er wurde häufig beschuldigt, einen Mitschüler beleidigt, gewürgt, getreten oder bespuckt zu haben, stritt es aber so lange ab, bis genügend glaubwürdige Zeugen gegen ihn aufgeboten werden konnten. Vor einiger Zeit las ich in der Lokalzeitung von einer Familie, die streng veganisch lebte. Von Vegetariern hatte ich schon oft gehört, zum Glück nicht in meinem engeren Bekanntenkreis. Ich esse gerne Fleisch, vor allem, wenn es sich um butterzartes Filet handelt. Ich esse auch gern Schweinefleisch, das ich meinem muslimischen Ehemann zuliebe im eigenen Haushalt meide. Dass jemand nicht einmal Jogurt oder Milch zu sich nimmt, will mir nicht leicht in den Kopf, doch mit geübter demokratischer Toleranz schüttele ich in solchen Fällen den Kopf und sage: „Wenn die Veganer damit glücklich werden!“

Der Junge in der Fünften stammte aus solch einer Familie, die sich tierischen Erzeugnissen gegenüber absolut intolerant verhielt, aber nicht glücklich damit wurde. Als die Mutter feststellte, dass ihr achtzehn Monate altes Baby Fieber hatte und schließlich die Nahrung verweigerte, wendete sie zunächst alle ihr bekannten Hausmittel an, doch das Kind baute so stark ab, dass die Mutter den Notarzt rief. Dieser stellte Todesgefahr fest und überwies es sofort in die nächste Klinik, wo es trotz intensivster Rettungsmaßnahmen starb– die Diagnose lautete: Tod durch Verhungern und Verdursten. Die Mutter soll dem Baby warmes Olivenöl eingeflößt haben. Der Arzt zeigte die Eltern wegen unterlassener Hilfeleistung an, es kam zur Gerichtsverhandlung. Der Richter verurteilte die Eltern dazu, ihren Kindern regelmäßig auch tierische Eiweiße in Form von Eiern, Milch und Jogurt zu verabreichen, um zu verhindern, dass ein weiteres Kind im Krankheitsfall verhungerte. Ich fragte mich, wie die Kontrolle aussah, ob die Mutter sich an das Gebot des Richters hielt. Ich brachte von Zeit zu Zeit Süßigkeiten in die Fünfte mit, die Fette und Milchanteile enthalten, und der Junge aß alles, ohne die geringsten Abwehrzeichen. Aber bei jedem Gedanken an das tote Kind hatte ich das Gefühl, mir sträubten sich die Haare, und das Entsetzen darüber fühlte sich eiskalt an.

Meine ganze Sorge bestand darin, dass der Junge meine Gedanken nicht lesen konnte. Ich bewunderte Menschen, die sich eine Auswahl an Verhaltensmustern zulegen und sie bei bestimmten Gelegenheiten abrufen können, am besten stehen sie verschriftlicht in einem Ratgeber für Lehrer, man braucht sie nur abzuspulen. Ich hatte immer darauf bestanden, aus dem Bauch heraus mein Verhalten zu steuern, doch in solchen Extremfällen wie bei der Veganerfamilie wollte mir mein Bauch absolut nichts raten, er reagierte mit Magengrimmen. Die Familie löste mein Problem. Eines Tages erfuhr ich von der Sekretärin, dass die Eltern ihren Sohn abgemeldet hatten.

Meine zehnte Klasse war übermotiviert, als die Planung des letzten Schultages anstand. „Worauf hättet ihr denn Lust?“ – „Och, na jaa …!“ Ich wäre über konkrete Vorschläge überglücklich gewesen. Aber auch bis zum nächsten Tag hatte keiner der dreißig Jugendlichen eine Idee notiert. Ich bereitete mich spät abends vor und fand vier attraktive Programmvorschläge, jedenfalls hielt ich sie für attraktiv. Wir könnten Minigolf spielen. Wir könnten zur Wewelsburg fahren und die Ausstellung im Museum sowie den Keller mit dem von Himmler geplanten Mittelpunkt seiner Welt besichtigen, anschließend den sowjetischen Kriegsgefangenen-Friedhof. Wir könnten im Heinz-Nixdorf-Forum einen dreistündigen Workshop über radioaktive Strahlung mitmachen. Wir könnten eine Rallye durch unseren beschaulichen Kurort veranstalten, in Form einer Schatzsuche. Ich recherchierte alle Teile und stellte sie am nächsten Morgen meinen Schülern vor. Dann übergab ich die Vorschläge an den Klassensprecher und verließ für zehn Minuten den Raum. „Ich gehe einen Kaffee trinken, und wenn ich zurückkomme, möchte ich eure Entscheidung hören.“ Nach einem entspannten Gespräch mit den Freistundenkollegen im Lehrerzimmer schlenderte ich zu meinem Lehrerraum im ersten Stock zurück. Der Lärm der zweifelhaften Mittlere-Reife-Kandidaten schallte mir entgegen samt dem lauten Ruf nach Ruhe, der vom Klassensprecher ausging. Er war hörbar entnervt.

Ich betrat meinen Raum und sah verschiedene Vorschläge an der Tafel stehen, aber keinen von meinen. Das Grillen (Vorschlag 1) lehnte ich mit einem neckischen Hinweis auf meine Linie ab, grillen könnten sich nach der Entlassung die Schüler meinetwegen selbst. Grillen sei absolut langweilig. Ich erhielt viel zustimmendes Gelächter und staunte. Ins Schwimmbad (Vorschlag 2) wollte ich mit der Klasse auch nicht gehen. Selbst wenn ein Schwimmmeister dort Aufsicht führte, war ich voller Furcht, dass es zu einem Unfall kam. Ich verfügte nicht über einen DLRG-Rettungsschwimmerschein, ich konnte das Unternehmen nicht wagen. Bekräftigendes Nicken unter den einunddreißig Köpfen verriet meine temporären Fans. Kanufahren (Vorschlag 3) war prima, mein Lebenstraum war es seit über fünfzig Jahren, ein Ruderboot zu besitzen. Aber wo kann man Kanu fahren? Wer erkundigt sich? – Stille. – Welcher Fachmann fährt mit und rettet im Notfall meine Schüler aus dem umgekippten Boot? – Stille. – Wer rettet mich? – Absolute Stille.

Da entdeckte ich das Wort „Rallye“ (Vorschlag 4). Halleluja. Es hatte sich in kleinen Lettern an das große „Grillen“ gedrängt. Ich testete die Begeisterung. Das Ergebnis zeigte mir, dass einige der netten Mitglieder dieser engagierten Klasse Mitleid mit mir hatten und nun meinten, man könne doch zuerst grillen und dann eine Rallye veranstalten. Ich sagte nicht, dass der Schatz am Ende in einem Café liegen würde, in dem ich der ganzen Klasse ein Frühstück spendieren wollte. Ich spielte die Beleidigte. Seit zwei Jahren erlebte ich diesen Trick: Man ließ die Klale rotieren, sie sprang wie ein unbändiges Reh umher und suchte nach ausgefallenen Unternehmungen, während die Klasse zur Wahrheitsfindung leider nichts beitrug. Wenn sie aber die Vorschläge vor die Klasse trug, schlug ihr nichts als Ablehnung entgegen. Ich hatte den Schülern das Argumentieren beigebracht, nun verwendeten sie es gegen mich. Die Fahrt zur Wewelsburg würde doch nur wieder Geld kosten, dabei sei der Abschluss mit den T-Shirts, der Hallenmiete, dem Festessen und dem Friseur doch schon teuer genug. Da sage noch einer, in Deutschland werde nicht genug in die Bildung investiert. Das Passiv, so hatte ich es meinen Schülern beigebracht, verwendet man besonders gern dann, wenn man etwas Wahres verschleiern will.

Radioaktivität sei nun auch nicht so ein interessantes Thema, das hätten die Schüler im Physik- und Politikunterricht schon angeschnitten. Fukushima war für die Schüler ein halbes Jahr nach dem Tsunami schon Geschichte. Minigolfspielen sei öde, da wurden keine Argumente benötigt. Die Rallye dagegen klinge nach langweiligen Jugendherbergsrallyes, bei denen Schüler mit Zettel und Stift durch unseren Kurort schleichen und ältere Ureinwohner suchen sollten, die ihnen alle Fragen auf einmal beantworteten, vielleicht sogar bei einem Eis vom Italiener. Das war das Zauberwort! Der Italiener machte schließlich das Rennen. Der letzte Schultag nahte. Bis auf zwei Schüler („Die haben bestimmt wieder verpennt!“) waren alle neunundzwanzig pünktlich in der Eisdiele, wo sie nach zehn Minuten fragten, wie lange sie denn hier sitzen bleiben müssten. Ich führte die Klasse dann in den östlichen Stadtbezirk bis zum Bahnhof. Dort weihte ich die sechs Schüler, die interessiert zuhörten, weil sie aus einem Eisenbahndorf stammten, in die Geschichte des kleinen, 1863 erbauten Bahnhofs ein. Ich warnte die anderen. Wenn sie nicht endlich eine ernsthafte Haltung einnähmen – es sei schließlich noch Schule und Unterricht –, würde ich mit ihnen die Kläranlage besichtigen. Nur bei wenigen blitzte der Gedanke auf, dass ihre Klassenlehrerin und langjährige Fachlehrerin sie verladen wollte. Einige jedenfalls liefen mit einem entspannten Grinsen weiter. Die nächste Station war der Brunnen vor dem Rathaus, nach dem Lokaldichter Friedrich Wilhelm Weber benannt. Ich hielt mich nicht lange mit Erklärungen auf, sondern bat die Klasse, noch einmal auf der Homepage nach dem von mir verfassten Artikel über den Dreizehnlinden-Brunnen zu schauen. Es war bereits vor Jahren eine Hausaufgabe gewesen. Wir durchquerten die verkehrsberuhigte Innenstadt, und ich erläuterte das nächste Ziel. Vermutlich wagte niemand den Aufstand an diesem letzten Tag, alle trotteten hinter mir her, und als wir an unserem beliebten Café anlangten, fragten sie, ob sie sich ein Matschbrötchen holen dürften, ein Brötchen mit einem zusammengedrückten Schokokuss darin. Klar durften sie es, und sie konnten ihr Glück nicht fassen, als sie einen langen, gedeckten Tisch vorfanden, an den sie sich setzen und frühstücken durften.

Kap. 16 folgt in Teil 3