„Wissen heißt die Welt verstehen, / Wissen lehrt verrauschter Zeiten / Und der Stunde, die da flattert, / Wunderliche Zeichen deuten.“

Als ich mich an der WWU Münster auf mein erstes Staatsexamen vorbereitete, wollte ich mein Spezialgebiet während des Geschichtsstudiums mit dem Dichter verbinden, den ich für den interessantesten hielt, mit dem ich mich in der Germanistik beschäftigt hatte, und wählte als Thema der Examensarbeit „Gottfried Benn und seine Rezeption im Nationalsozialismus“. Ich hatte nie Zweifel, dass ich das Thema nicht selbst bestimmen konnte, und stellte eine Literaturliste und einige Schwerpunkte zusammen. Dann lernte ich den Prüfer kennen: Er war Schulleiter am Grabbe-Gymnasium in Detmold.

Wer war Grabbe? Ich hatte nie von ihm gehört. Christian Dietrich Grabbe. Ich schlug im Lexikon nach und hakte ihn ab. Er war wohl nur eine lokale Größe. Aber der Prüfer sah dies anders, er war auch in der Grabbe-Gesellschaft aktiv und änderte mein Thema in „Christian Dietrich Grabbe und seine Rezeption im ‚Dritten Reich‘“. Grabbe (1801-1836) war eine völlig andere Figur als Gottfried Benn (1886-1956). Immerhin passte er thematisch in meine Vorlesungsliste. Meine Spezialgebiete waren die Aufklärung, die Literatur des Sturm und Drang, der Vormärz, die Revolution 1848/49, die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus. Als ich las, dass Grabbe Alkoholiker war, erlosch mein Interesse bereits. Der Antisemitismus-Vorwurf traf viele Dichter des 19. Jahrhunderts, antijüdische Ressentiments waren vor allem bei den national gesinnten verbreitet. Dass Grabbe wegen der antijüdischen Passagen in seinem Werk in der NS-Zeit verehrt wurde, konnte ich von vornherein annehmen. Das Drama war nicht mein Steckenpferd, also sank meine Motivation für mein Examensthema auf den Nullpunkt. Mag sein, dass dies eine gute Voraussetzung für meine Arbeit war. Nennenswerte moderne Sekundärliteratur gab es 1974 nicht, mein Prüfer verfasste sein Buch „Grabbe im Dritten Reich“ erst 1986. Ich las und litt. Ich erforschte dennoch brav, inwieweit Grabbe von den Nazis vereinnahmt werden konnte, und versuchte mein Desinteresse an diesem Lokaldichter zu verbergen. Das Ergebnis meiner Arbeit war zufriedenstellend. Ich hakte Grabbe ab.

Meine Lehramtsanwärterzeit verbrachte ich in Steinheim. Dort gab es keinen Lokaldichter. Danach trat ich eine halbe Stunde von Detmold entfernt meine erste Stelle an der Friedrich-Wilhelm-Weber-Realschule in Bad Driburg an. Ich hatte noch nie von einem Dichter namens Friedrich Wilhelm Weber (1813-1894) gehört. Für mich war es selbstverständlich, dass ich mich über ihn schlaumachte. Die Driburger kannten ihn, fast alle hatten Strophen auswendig gelernt, fast immer aus „Dreizehnlinden“, seinem Versepos über die Auseinandersetzung der Franken mit den Sachsen. Ich las und litt. Schlimmer war Grabbe auch nicht. Webers Sprache fand ich verschwurbelt und aufgesetzt. Der Aphorismus oben ist Beweis genug. Ich legte das Buch zur Seite, das doch so einen schönen Einband hatte! Aber wenn man an einer Schule arbeitet, die den Namen eines Lokaldichters trägt, entgeht man nicht gewissen Feierlichkeiten, in denen man ihn wie auf einem silbernen Tablett in die Öffentlichkeit tragen muss. 1990 war solch eine Gelegenheit. Bad Driburg feierte ein Jubiläum: 700 Jahre Stadtrecht. Der 60-jährige Geburtstag meines ersten Schulleiters, Tage der offenen Tür, die Verabschiedung des Schulleiters und das 40-jährige Bestehen der Realschule 2010 waren Gelegenheiten, bei denen man sich dieser Lokalgröße besann. Wandertage führten – anfangs bestand Wanderpflicht – entweder zur Iburg oder nach Alhausen zum Weberhaus.

Inzwischen ergriff mich in den 80er-Jahren leichtes Schamgefühl, weil ich „Dreizehnlinden“ immer noch nicht zu Ende gelesen hatte, und verregnete Sommerferien nutzte ich erfolgreich. Nun verstand ich die Namen der Plätze und Straßen besser. Vor dem Rathaus war ein Brunnen errichtet worden, dessen Bronzetafeln die Geschichte des Elmar vom Habichtshofe visualisierten. Er war an Wandertagen ein Etappenziel. Im Deutschunterricht erhielten alle Klassen von mir wenigstens einen kleinen Einblick, auch wenn im Geschichtsunterricht die fränkischen Eroberungen vorkamen mit den Zwangstaufen. Die Externsteine kamen aber zuverlässig vor. „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“ Ich bin evangelisch und hatte Neuere Geschichte studiert, also hielt sich meine Begeisterung für die Christianisierung der Sachsen im Ostwestfälischen in Grenzen. Anfang des neuen Jahrtausends nahm ich mir Zeit für eine gründliche Lektüre des Weberschen Werkes. Die Gedichte gefielen mir von Anfang an am besten, Webers Frömmigkeit störte mich nicht. Ein drittes Mal las ich „Dreizehnlinden“ und freundete mich mit Webers Stil an, zu dem das Versmaß ihn oft zwang. Den „Goliath“ las ich in einem Rutsch und dachte: Wow, das kann man ja sogar genießen, auch wenn das Thema immer noch aus der Zeit fiel. Eine Tochter, die sich von einem tyrannischen Vater das Leben verderben ließ, war indes eher mein Erlebnishorizont. Ich hakte Weber nicht ab.

Irgendwann stieß ich auf den Lokaldichter aus Nieheim, Peter Hille. Er reizte mich nicht zur intensiven Auseinandersetzung mit seinem Werk, aber den Charakter fand ich interessant. Peter Hille (1854-1904) war als Schüler in einem „Geheimbund“, der sich Satrebil Libertas rückwärts – nannte und Marx, Bebel, Büchner u.a. las. Mich wunderte nicht, dass das Gymnasium ihn nicht förderte, sondern ohne Abschluss entließ. Ein Bohemien war er, der oft kurz vor dem Verhungern stand, ein angeblicher Sozialdemokrat, vielleicht sogar Sozialist! Aber er kannte Detlev von Liliencron, Gottfried Keller, Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Richard Dehmel und Lovis Corinth! Die Nieheimer waren mutig oder sagten sich, besser dieser Lokaldichter als gar keiner, als sie ihre Realschule nach Peter Hille benannten. Zum 50-Jährigen gab es Hille-Projekttage und ein WDR-Zeitzeichen.

Die Friedrich-Wilhelm-Weber-Realschule gibt es nicht mehr, 2018 war sie zugunsten der neugegründeten Gesamtschule abgeschmolzen. Was machen die Driburger nun mit Friedrich Wilhelm Weber? Abhaken? Der Stadtarchivar jedenfalls sieht keine touristische Verwendung und wirtschaftlich lohnende Vermarktung der „Gebrauchsliteratur“ des Alhausener und Driburger Lokaldichters. Die Kapitalisierung der Kultur ist anscheinend unaufhaltsam. Die Weber-Gesellschaft äußert sich schon lange nicht mehr. R.I.P.