oder: Mehr Mensen! Mehr Bildung für die Kaumuskeln!
Kap. 16
Von Erdbeben ist in unserer Gegend noch nichts ruchbar geworden. Dennoch bahnte sich ausgerechnet in meiner Vertretungsstunde eines an. „Darf ich kurz zum Klo?“, fragte mich der Siebtklässler. Ich ließ ihn arglos gehen. Wenige Augenblicke später kehrte er atemlos zurück und sagte: „Da ist in einem Klo ganz viel Durchfall und Blut!“ Das EHEC-Bakterium, verbündet mit dem HUS-Virus, hatte sich seit einigen Wochen hartnäckig in den Köpfen der Boulevard-Zeitungs-Leser festgesetzt. „Muss unsere Schule nun geschlossen werden?“ Beifall brandete auf, bevor die Frage beantwortet werden konnte. Die Mitglieder der Schulleitung waren im Unterricht, der Hausmeister war unterwegs, angeblich zur Stadtverwaltung. Die Schüler mussten ja nicht wissen, dass er im Heizungsraum sein Rauchereckchen hatte. In der Pause bat ich ihn nachzusehen, ich fühlte mich an diesem Tage dazu nicht in der Lage, mir war selbst übel. Der Ärmste ging und kehrte belustigt zurück. „Da hat mal wieder jemand seinen Haufen abgelegt und nicht gezogen. Keine Spur von Blut, so ein Quatsch!“ Doch hartnäckig hielt sich das Gerücht länger als eine Woche. „Dem Jungen würde ich sowieso nicht das kleinste Fitzelchen abnehmen, der ist ein notorischer Lügner“, informierte mich ein Kollege. Ich war nicht die Schulleitung. Also verließ ich mich darauf, dass geeignete Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung ergriffen wurden, musste aber am nächsten Tag feststellen, dass die Schulleiterin gar nicht informiert worden war. Ich bat darum, es schleunigst nachzuholen. Aus den Fehlern im Umgang mit dem Gasalarm, was die öffentliche Kommunikation angeht, sollten wir gelernt haben.
Ich setzte mich an meinen Computer und googlete die Geschichte der Hygiene mit speziellem Blick auf die Toilettenhygiene. EHEC ist ein Bakterium, das Darmentzündungen auslöst. Den Keim kann man meiner laienhaften Ansicht nach nur weiterverbreiten, wenn man auf die Klobrille kackt, die braune Masse mit den Fingern verstreicht und die Finger dann einem Mitschüler in den Mund steckt. Wie schon bei den diversen Grippekatastrophen, ausgehend von Schweinen, Rindern oder Federvieh, wurde auch dieses Mal in der Öffentlichkeit ein Versuch unternommen, eine Epi- oder sogar Pandemie heraufzubeschwören. Die handelsüblichen, haushaltsüblichen Desinfektionsmittel, von denen wir eigentlich unsere Finger lassen sollten, wandelten sich in unseren Breiten zur Hamsterware.
Ich verfasste an meinem Computer für unsere Homepage eine kleine Klokunde (KKK):
Kleine Klokunde
Was oben hineinkommt, muss unten wieder hinaus. Das ist logisch und natürlich und nicht vollständig steuerbar. „Wat mutt, dat mutt!“, sagen die Norddeutschen. Unsere Vorfahren, die Neandertaler, nutzten Baum, Busch oder ein Loch in der Erde, um ihre unverdauten Nahrungsreste zu entsorgen. Sie deckten diese mit Laub und Erde ab, um keine Spuren für mögliche Feinde zu hinterlassen. Nur wenn der Boden gefroren und es draußen zu kalt war, suchten sie sich eine abgelegene Ecke in ihrer Höhle. Zum Abputzen dienten große Pflanzenblätter wie Sauerampfer oder Kastanienblätter. Brennnesseln nahmen sie nach Möglichkeit nicht … , glaube ich. (BILD vom Neandertaler in Hockstellung).
Als die Menschen sesshaft wurden und Tiere zu Haustieren gezähmt hatten, wurde der Mist- oder Dunghaufen zur gemeinsamen Toilette. Die Gülle- oder Jauchegrube nahm die flüssigen Teile auf. Papier oder Tuch zum Reinigen waren weitgehend unbekannt. In Mesopotamien und Kreta erfanden die schon kultivierteren Bürger einen Abort, der die Ausscheidungen mit Wasser aus der Regenrinne ins Meer spülte. Im antiken Ostia, dem Hafen von Rom, gab es eine öffentliche Toilette, ein Latrium. Die Römer verfügten über eine „cloaka maxima“, einen großen Abwasserkanal. (BILD von der öffentlichen Reihentoilette)
Die Germanen lernten viel von den Römern, aber nicht das Waschen. Auch die „Hygiene“ der Griechen war ihnen unbekannt. Wer ein richtiger Naturbursche war, lehnte es ab, Wasser, ein Blatt oder ein Tuch zu benutzen. Da alle gleich rochen, fiel niemand auf. Im Mittelalter ließ man seine Exkremente da ab, wo der Bauch drückte. An der gleichen Stelle, manchmal mitten auf der Straße, legte auch manches Schwein seinen Kot ab. Immerhin erfanden nordeuropäische Genies die Springsteine, die sie auf der Straße verteilten, damit man über den Schmutz und Kot hinweg springen konnte. Aufpassen mussten Spaziergänger, wenn über ihnen ein Fenster geöffnet wurde. Dann folgte oft der stinkende Inhalt eines Toiletteneimers. In diesem Milieu fühlten sich die Viren und Bakterien pudelwohl, Pest und Cholera aber auch! Ein genialer Engländer entwarf ungefähr 1600 eine WC-Spülung, aber zu seiner Zeit wollte kein Mensch solch eine Erfindung. Gegen den Geruch gab es doch längst Parfüme und Duftöle. Als gegen Ende des Mittelalters bei uns öffentliche Schulen eingerichtet wurden, wurde eine Schülertoilette notwendig, ein Plumpsklo. (BILD eines Klohäuschens um 1900)
Gab es dort von Anfang an Toilettenpapier? Oder zerteilte man gelesene Zeitschriften in handliche Stücke, durchbohrte sie, zog einen Faden hindurch und hängte sie neben dem Plumpsklo an einem Nagel auf? Solches fand man in Deutschland noch 1980. In Asien gab es schon lange ein System der Hygiene. Mit der linken Hand reinigte man seinen Körper, die rechte Hand benutzte man zum Essen, teils auch zum Händedruck. Alte zerrissene Kleider, also Lumpen, wurden nach dem Toilettengang benutzt, manchmal auch Schwämme, Holz, Seetang oder Federn. Die Chinesen produzierten als erstes Volk der Erde einzelne Papierblätter zum Abwischen. In England wurde 1890 die erste Papierrolle mit Perforationen hergestellt. Die Deutschen bekamen 1928 raues Krepppapier, 1958 brachten uns die Amerikaner weiche Tissues, die die Haut schonen. (BILD des Charmin-Bären)
Die Germanen könnten von den Japanern lernen, wenn sie wollten. Seit 1980 entwickelten diese immer modernere Toilettensysteme. Sie gelten als das reinlichste Volk der Erde. Es gibt in Japan einen Toilettentag und einen Abwassertag. Moderne japanische Toiletten („Neorest“) erlauben die Reinigung mit warmem Wasser aus einer Spritzdüse, sie enthalten ein Warmluftgebläse, eine Sitzheizung, eine Massagefunktion, einen Duftzerstäuber und viele weitere Funktionen. Papier wird vor und nach der Wasserreinigung eingesetzt. Da Japaner es peinlich finden, wenn jemand ihre Toilettengeräusche hört, ertönt Musik, sobald die Klobrille belastet wird. Um reine und unreine Bereiche zu trennen, ziehen Japaner spezielle Toilettenschuhe an. Japanische Schüler kommen nicht auf die Idee, Toiletten zu zerstören. Sie nehmen von zu Hause meistens Einmaltücher in die Schule mit und sogar eigene Seifenblättchen für das Händewaschen danach. Es wäre einem japanischen Schüler sehr peinlich, wenn er in der Toilette Spuren seiner Ausscheidungen hinterlassen und der nächste Nutzer diese sehen würde. Nun ja, man hat in japanischen Schultoiletten zwar sehr selten, aber auch schon einmal Graffiti gesehen. (BILD einer Japanerin und einer Toilette mit Bedienkonsole)
In Deutschland – wo sonst? – gibt es einen Weltmeister im Powerbruchtest. Er ist in der Lage, in 60 Sekunden 50 Toilettendeckel zu zerstören – immerhin nicht mit dem Hintern, sondern mit dem Kopf. Herzlichen Glückwunsch! (BILD von Thomas Teige)
Übrigens waschen sich einer Studie zufolge 32 Prozent der männlichen und 64 Prozent der weiblichen Toilettenbesucher danach die Hände. (KARIKATUR von einem Rotlichtalarm über einem Mann nach dem Toilettenbesuch: „Didn’t wash hands“)
Den Abschluss bilden eine Aufzählung aller Synonyme für das Klo und ein Link zum Pasteur-Institut. Ich hatte selbst nicht das Gefühl, dass die Internet-Seite Begeisterung unter meinen Schülern und Kollegen hervorrufen würde, tatsächlich vergingen einige Tage, bis mich eine Kollegin auf die Homepage ansprach. Ich googlete die Maßnahmen an verschiedenen Schulen und Schulformen, gab jedoch resigniert die Suche nach der zündenden Idee auf, wie man deutsche Kinder dazu erziehen kann, die Regeln der Hygiene zu beachten. Ich war ja auch nicht die Schulleitung und die Stadtverwaltung und das Gesundheitsamt und das Robert-Koch-Institut. Allerdings gab es überhaupt keine Klarheit über die Ansteckungswege, die zum Beispiel im Zusammenhang mit der temporären Schließung der Grundschule im Nachbarort vermutet werden. Eine Fleischerei mit Partyservice, landläufig Cateringunternehmen genannt, sollte durch infizierte Mitarbeiter die Keime verbreitet haben. Jedoch war auch von befallenen Sprossen eines kleinen Betriebes in der Nähe von Celle die Rede, und ganz am Anfang sollten spanische Gurken und ägyptisches Saatgut die Missetäter gewesen sein. Die Spanier waren zu Recht empört. Den Menschen, die schwer erkrankt oder sogar gestorben waren, half dieses Gezeter nicht.
Welcher Weg der Information war nun der richtige? Sollte man das Problem aussitzen und hoffen, dass sich die Hektik von selbst wieder legte und der Vorfall in Vergessenheit geriet, oder sollte man die Schüler gezielt mit der Problematik konfrontieren? Zum Glück war ich nicht die Schulleitung … Was sollte ich als Laie zur Qualitätssicherung der schulischen Arbeit im Falle der EHEC-Infektionswelle beitragen? Es gab besser bezahlte Spezialisten.
Kap. 17
Manchmal gibt es Anekdoten, die zu schön sind, als dass man sie im Staub des Schulalltags zerbröseln lassen sollte. Andi war ein Siebtklässler, der zu lange unter der Höhensonne Ostwestfalens gelegen zu haben schien. Angeblich wurde er in Mexiko geboren und wuchs in einem rumänischen Waisenhaus auf, bevor er von seiner jetzigen Mutter adoptiert wurde. Diese bestätigte nur das Geburtsland. Von Montag bis Donnerstag hatte er wegen eines fiebrigen Infektes gefehlt. Am Freitag war er wieder präsent. Wenn er sich meldete, beschlich mich ständig der Wunsch, ihn nicht aufzurufen. Zu oft endete die Aktion in einer konfusen Diskussion mit der Klasse oder mit mir, die Zeit kostete und keine positiven Erkenntnisse hervorbrachte. Andi meldete sich. „Warum war die Polizei heute in der Schule?“, fragte er. „Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist wieder eine Verkehrserziehungs-Aktion geplant. Du hast doch selbst am Bustraining teilgenommen.“ Er nickte. Er kannte die beiden Kommissare. „Ich dachte, sie sind wegen dem Bürgermeister und Herrn Kämmer gekommen. In der Zeitung stand, sie hätten Geld geklaut oder so.“ Ich schaute ihn an und konnte einen Lachanfall nicht unterdrücken. Die Klasse lachte mit. Der Bürgermeister und einer meiner Kollegen und ihrer Lehrer wollten nun gar nicht in eine kriminelle Ecke passen. „In welcher Zeitung soll das denn gestanden haben?“, fragte ich, nach Luft ringend. Er sah mich beleidigt an. „In der roten.“ „Andi, die habe ich heute Morgen schon gelesen, aber das stand nicht darin. Bringe mir morgen doch bitte einmal die Zeitung mit.“ Er nickte. In der Pause, auf dem Weg zum Lehrerzimmer, erschien mir das entstehende Gerücht doch nicht mehr so harmlos, und ich sprach die Konrektorin an. Ich hatte auch das Gefühl, dass wieder einmal ein fettes Meerschweinchen unterwegs war. „Wahrscheinlich meint der Junge die Affäre mit dem Bürgermeister und dem Kämmerer in Bad Oeynhausen. Darüber hat die Zeitung heute Morgen berichtet.“
Ich suchte meine Klasse. Sie war gerade im jeweiligen Religionsunterricht, aufgeteilt in gutgläubige Katholiken und Protestanten. Die Nicht- oder Andersgläubigen, die im Foyer saßen, nahm ich gleich mit. Ich erteilte beiden Gruppen eine verkürzte Politikstunde, in der ich sie über die Funktion des Kämmerers in einer Stadtverwaltung aufklärte. Andi fand eben jedes Fettnäpfchen.
Meine Lebensarbeitszeit war gefühlte 120 Jahre lang. Wieder hatte in einem dieser denkwürdigen Jahre die Schulleitung mein Engagement im Rahmen einer SchiLF ‒ schulinternen Lehrerfortbildung ‒ angefordert. Nach der 99. Folge der Qualitätsarbeit an unseren SchLP ‒ schulinternen Lehrplänen ‒ beschlossen wir Geschichtslehrer, den Kartenraum aufzuräumen. Es staubte, die jüngste, frischgebackene Kollegin nieste nachdrücklich. Wir sortierten die Geschichtskarten im Hängeregister links und ordneten die falsch eingehängten Erdkundekarten ins Register rechts ein. Einigen Karten fehlte ein Etikett mit der Angabe, was die Wandkarte zeigte, anderen war keine Nummer zugeordnet. Ich schrieb sämtliche Karten nach Diktat auf einen Zettel. Die Kolleginnen sagten an.
„Nr. 15: Palästina ‒ Land der Bibel“. Ich schrieb. – „Nr. 16: Bonifatius vor der Donnereiche.“ – „Wo!?“ – „Ach nee, vor der Donar-Eiche.“ – Wir lachten, bis uns die Tränen kamen. Ich schrieb. „Nr. 21: Erguss in der Bronzezeit.“ – „Was!?“ – „Oh Entschuldigung, Erzguss in der Bronzezeit.“ – Nach gefühlten fünf Minuten hatte ich mich wieder beruhigt. Der Tag war gerettet, und ich denke gern an ihn zurück, weil ich ihn mit dem guten alten Bonifatius und seinem Erguss an der Donner-Eiche verbinde.
Auf dem Schulhof ging es munter zu, die Sonne schien, es gab keine Anzeichen von Aggressivität, die Raucher waren nicht zu sehen. Ich schlenderte auf das Schultor zu, da schritt ein schwarzhaariger, leicht fülliger Mann energisch auf mich zu. „Kann ich mal mit Ihnen reden?“, raunzte er mich an. Erstaunt sagte ich: „Sie können immer mit mir reden, aber wer sind Sie denn?“ Er stellte sich mit dem türkischen Nachnamen einer meiner Siebtklässlerinnen vor und schaute mich an, als müsste ich ihn kennen. „Welches Problem haben Sie denn mit Ihrer Tochter?“, fragte ich zuvorkommend. „Sie gehen nicht sachlich mit meiner Emine um, sie fühlt sich von Ihnen ständig beleidigt!“ Verdutzt fragte ich ihn, auf welche Situation er sich denn beziehe. Er berichtete in recht gutem Deutsch über eine Auseinandersetzung zwischen dem Mädchen und mir, an die ich mich nicht im Geringsten erinnern konnte. „Sind Sie sicher, dass Ihre Tochter Ihnen eine wahre Geschichte erzählt hat?“, wollte ich wissen und fühle Ärger in mir hochsteigen. War da wieder ein fettes Meehrschweinchen unterwegs? Wer wusste, welches Drama sich bei der Schülerin zu Hause wieder einmal abgespielt hatte. Er wurde lauter: „Meine Tochter lügt nicht, und was sie mir erzählt hat, ist ja typisch für Sie Rassistin!“ Nun platzte mir der Kragen. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, ich habe niemals mit Ihrer Tochter ein Problem gehabt, und ich bitte Sie, mich in die Schule zu begleiten und mit der Schulleitung zu sprechen.“ – „Das können Sie haben, dann kann die gleich erfahren, was für eine Lehrerin Frau R. ist!“, wetterte er und bezeichnete mich mit dem Nachnamen einer Kollegin.
Ich klärte ihn über meinen Namen auf, er war nur kurz verwirrt, dann verabschiedete er sich rasch und verließ mit großen Schritten den Schulhof. Er hatte mich verwechselt. In solchen Fällen wäre eine Entschuldigung die fällige Reaktion gewesen. Trotz meines Ärgers über diesen unfairen Angriff auf meine Person war ich nach wie vor weit davon entfernt, eine Rassistin zu sein. Ich beschloss, das Mädchen nicht unter dem Verhalten ihres Vaters leiden zu lassen.
Einmal Lehrer ‒ immer Lehrer? Ich gehörte zu der Sorte Pädagogen, von denen manche behaupten, sie wüssten alles und könnten nichts. Ich hatte kein Prädikatsexamen wie der Kollege an einer gar nicht so weit entfernten Schule, der im Chemieunterricht eine Explosion erlebte, nach der fünf Schüler verletzt im Krankenhaus landeten. Der zuständige Dezernent beeilte sich, den Chemiker in Schutz zu nehmen. Im Deutschunterricht kommt es selten zu Explosionen, außer bei mir. Ich explodierte, wieder einmal. Im Lehrbuch der siebten Klasse – einem Produkt des Cornelsen-Verlags – gab es glücklicherweise ein Kapitel über die Analyse lyrischer Texte. Sogar die Metrik durfte analysiert werden. Der Jambus wurde mit dem Wechsel einer betonten und einer unbetonten Silbe, der Trochäus mit dem Wechsel einer unbetonten und einer betonten Silbe beschrieben. Ich schrieb dem Cornelsen-Verlag eine weitere Klage-Mail und stellte mir die Reaktion der Kollegen vor: „Meine Güte, die ist ja wieder einmal pingelig! Hat die nichts Besseres zu tun?“ Die erste Mail wurde fällig, als ich, ebenfalls im Lehrbuch der siebten Klasse, die Abkürzung HS für den Hauptsatz und NS für den Nebensatz fand. Ich hielt mich nicht für eine fanatische Geschichtslehrerin und hatte viel Verständnis für Schüler, die nicht für jeden Geschichtsstoff begeistert in die Weser springen würden. Aber es gab Grenzen, vor allem im Umgang mit dem Wörterbuch des Unmenschen.
Mein elektronischer Brief lautete: In Deutschbuch – Neue Grundausgabe 7 S. 212 finde ich das „alte“, bewährte Satzmodell, Hauptsatz und Nebensatz als Satzgefüge. Ich verwende an der Tafel traditionell noch die gerade Linie für den Hauptsatz und die geschlängelte für den Nebensatz.
Aber völlig vor den Kopf geschlagen bin ich durch die Abkürzungen HS – NS. Der NS ist als Abkürzung belegt durch den Nationalsozialismus. Auch wenn man kein Geschichtslehrer ist, muss jeder Akademiker dies wissen. Auf Nummernschildern sind die Abkürzungen NS, KZ, SS, SA usw. aus gutem Grund verboten. Bitte, bitte erhalten Sie uns die Sensibilität für unsere Geschichte!
Ich zucke auch jedesmal zusammen, wenn Lehramtsanwärter für die Schüler in der Mehrzahl die Abkürzung SS nehmen. Sensible Fachleiter lehren SuS, das lasse ich mir gefallen.
Für diese Ausgabe des Deutschbuches ist es zu spät, aber in den nächsten Ausgaben denken Sie bitte an eine Änderung. Ich möchte mit dem Buch nämlich noch weiter unterrichten.
Mit freundlichem Gruß
Eine Kopie der Mail heftete ich ans weiße Brett im Lehrerzimmer. Die Reaktion meiner vierzig Kolleginnen und Kollegen war natürlich gleich Null. Ebenso erhielt ich keine Dankes-Mail vom Schulbuchverlag, weder in Bezug auf den Jambus noch den Nebensatz.
Mich ritt der Teufel. Ich war im Netz auf eine Seite über Deppen-Apostrophe gestolpert und verfasste eine Notiz für das weiße Brett, in der ich außer auf falsch angewandte Apostrophe, z. B. bei der Schreibung CD’s, gleich auch noch die Bindestrich-Abstinenz anprangerte. Unsere Schule müsste drei Bindestriche präsentieren: Friedrich-Wilhelm-Weber-Realschule. Aber auf unserem Schullogo und dem gesponsorten Schild an der Außenwand fehlte der letzte, entscheidende Bindestrich. Unsere Schule war ungebunden, Halleluja. Es lebe die Bindestrich-Freiheit! Eine unmittelbare Reaktion im Kollegium blieb auch dieses Mal aus. – „Wenn du so streng mit uns bist, dann traut sich ja keiner mehr, einen Artikel für die Zeitung zu schreiben!“, warf mir eine wie ich über 60-jährige Kollegin vor, die noch nie einen eigenen Artikel verfasst hatte. Ich schrieb die Artikel über ihre jährliche Aktion „ Weihnachten im Schuhkarton“, und sogar für ein Pressefoto forderte sie meinen fachlichen Rat und meine Digitalkamera an.
Ich hatte kein Prädikatsexamen gemacht, weder im ersten noch im zweiten Staatsexamen. Warum konnte ich nicht einfach die Klappe halten und ein guter Mensch sein? Am 9. November fand in unserem Städtchen eine Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht des Jahres 1938 statt. Sie wurde auf den frühen Vormittag gelegt, an dem ich meinen Unterrichtsverpflichtungen nachkommen und in meiner Freistunde Vertretungsunterricht übernehmen musste. Neidisch stellte ich später fest, dass ein katholischer Religionslehrerkollege mit seiner Klasse an der Gedenkstunde teilnahm. Ich hätte die Teilnahme beantragen sollen. Am nächsten Tag stand in der Zeitung ein Bericht darüber. In jedem Jahr übernahm eine der lokalen weiterführenden Schulen die Organisation. Die mit der Gestaltung beauftragte evangelische Religionslehrerin des Gymnasiums wurde im Lokalblatt zitiert. Sie betonte, wie wichtig es sei, gegen das Vergessen zu arbeiten und Toleranz zu üben, also „unabhängig von der Hautfarbe und Rasse“ Menschen zu beurteilen. Was hatte der 9. November damit zu tun? Das erklärte der Artikel leider nicht. Ich explodierte und schrieb einen Leserbrief.
Wie wichtig Aktionen gegen das Vergessen sind, beweisen die Vorkommnisse in Greifswald, wo Menschen, die aus der Geschichte ihre eigenen, verqueren Lehren ziehen, alle Stolpersteine entfernten. Ohne daher das Verdienst der an der Gedenkveranstaltung Beteiligten schmälern zu wollen, fällt mir an dem Bericht besonders auf, wie unbefangen mit den Begriffen der Hautfarbe und der Rasse umgegangen wird. Nicht immer ist gut, was gut gemeint ist. Es kann nicht im Interesse einer Aktion gegen jegliche Diskriminierung liegen, dass diese mit der historisch belasteten und diskriminierenden Sprache des Rassismus dargestellt wird. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass einige Schulbuchverlage, in denen hoffentlich immer noch Sprachwissenschaftler tätig sind, im grammatischen Teil ihrer Deutschbücher den Hauptsatz mit HS und den Nebensatz mit NS abkürzen. Bin ich die Einzige, die sich darüber aufregt? Im schlimmsten Fall gerät mit der Sprache des Unmenschen auch Matthäus in Vergessenheit: „Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich.“ Wie Petrus darauf reagierte, kann man nachlesen. Am Ende jedenfalls weint er bitterlich.
Es erfolgte aus dem Kollegium genau eine Reaktion, und zwar die einer Pastorin, die stundenweise Religionsunterricht erteilte. Sie diskutierte ausführlich und engagiert mit mir die Frage, ob jemand schon Rassist ist, der sich der Sprache der Rassisten bedient. Ich blieb bei meiner Ansicht, dass ich gar nicht erwähnen müsse, welche Hautfarbe jemand habe. „Aber man muss doch sagen dürfen, dass in den USA endlich einmal ein Farbiger Präsident geworden ist.“ Ich entgegnete: „Wozu ist das wichtig? Es ist entscheidend, ob der Mann ein guter Präsident ist oder ein guter Ehemann, ein guter Vater, ein guter Sohn, ein guter Nachbar oder einfach ein guter Mensch. Die Hautfarbe entscheidet doch darüber nicht.“ Sie blieb skeptisch. Doch wenigstens kam es zu einem Gespräch. Nichts ist schwieriger im Zeitalter der Kommunikationstechnologien als die Kommunikation. Eine pensionierte Kollegin, die an meiner Schule einige Jahre lang katholische Religion unterrichtete, sprach mich nachmittags vor der Buchhandlung an. Sie hatte meinen Leserbrief gelesen. „Du hast ja tatsächlich öffentlich bewiesen, dass du bibelfest bist!“ Sie meinte es gut.
Kap. 18
Wenn ein Schüler Geburtstag hatte, gab es selbstverständlich ein musikalisches Ständchen. Dreißig Jahre lang stimmte ich auch im Lehrerzimmer für meine Kollegen ein Lied an, das ich in meinem Kirchenchor gelernt hatte: „Fröhlichkeit und leichtes Leben“. Meine Kollegin und Mitsängerin, die bibelfeste katholische Religionslehrerin, hatte es mit in die Schule gebracht. Wenn ich den Geburtstag übersehen hatte, wies mich zuverlässig ein Kollege darauf hin: „Wir müssen noch singen!“ Dann begann ich formlos und mit dem für alle Stimmen geeigneten Ton. In den letzten Jahren stellte ich fest, dass manche Kollegen, die aus irgendeinem Grund in Ungnade gefallen waren, ausgespart wurden. Abgesehen davon erhielt ich selbst das erste Ständchen, nachdem ich Jahrzehnte den Lehrerzimmer-Kantor gegeben hatte. Zur Entlassung meines ersten Schulleiters arbeitete ich für unseren Lehrerchor Mozarts Pa-Pa-Lied aus der „Zauberflöte“ um. Ich begleitete meine Kollegen am Klavier. Zur Einführung des Nachfolgers wählten meine lieben Kollegen mich ausnahmsweise in den Lehrerrat. Die Einführungsrede sollte vom Lehrerrat gehalten werden. Einen Tag lang dauerte es, bis ich die ungewohnte Ansprache fertiggestellt hatte, eine Nacht lang, bis ich sie auswendig vortragen konnte. An Teamplay dachte ich schon damals nicht und sorgte in meiner Familie für einige Stressmomente. Ich brauchte wohlwollende Kritiker. Zur Entlassung eines älteren Kollegen, dem ich nach fast fünfunddreißig Jahren gemeinsamer Zeit im Lehrerzimmer anlässlich einer Klassenfahrt das Du anbot, dichtete ich Reinhard Meys „Über den Wolken“ zu „Richard will gehen“ um. Meine Chefin bekam zum Sechzigsten ein Powerpoint-Rätsel, man nennt solche Aktionen gemeinhin „launig“. Wenn jemand meine Hilfe bei der musikalischen oder dichterischen Gestaltung irgendeiner Feier benötigte, war ich motiviert und hatte Spaß. Ich erwartete keine große Resonanz, schon gar nicht Dankbarkeitsbezeugungen. Aber dass mir jemand in die Hacken trat, erwartete ich nie.
Im Lehrerzimmer war es gewöhnlich so laut, dass es unmöglich war, dort eine Gitarre zu stimmen. Die einzige Schulgitarre, die übrig geblieben war, konnte ich wegen einer gerissenen Saite nicht nehmen. Sie stand jahrelang in einer Ecke des Musikraumes und setzte eine Staubschicht an. Zu Hause fand ich die passende Saite, nahm sie mit in die Schule und setzte mich in den Raum der Schulverwaltungsangestellten direkt neben dem Lehrerzimmer, um die alte Saite zu entfernen und die neue einzufädeln. Zwei Schüler saßen in der Pause auch in diesem Raum und sollten eine Klassenarbeit nachschreiben, üblicherweise beaufsichtigte die Schulverwaltungsassistentin solche Schüler. Das Telefon klingelte ständig, der Lehrercomputer stand im gleichen Raum, daher war er für konzentriertes Arbeiten denkbar ungeeignet. Ich ging mit der Gitarre dennoch ins Schulbüro, entschuldige mich bei der Sekretärin für die kurze Störung und begann die Gitarre zu stimmen. Die beiden Schüler, an ganz anderen Lärm gewöhnt, schauten kurz hoch und arbeiteten weiter. Die Tür zum Nebenraum, in dem die beiden Konrektorinnen saßen, wurde demonstrativ geschlossen, dann wieder geöffnet, die zweite Konrektorin schaute schmunzelnd durch den Spalt: „Nimm es nicht persönlich!“ Das Stimmen dauerte etwa drei Minuten, dann schlug ich einen Akkord an, sagte leise: „Geht wieder!“ Die zweite Konrektorin schritt nun in den Raum und sagte mahnend: „Denkst du daran, dass hier zwei Schüler eine Arbeit schreiben?“ Sie folgte mir nicht ins Lehrerzimmer und sang auch für den betroffenen Kollegen das Ständchen nicht mit. Ich beherrschte übrigens das Instrument Gitarre nicht perfekt. Die Kinder freuten sich auf das Ständchen und erinnerten mich an jeden Geburtstag. Einmal riefen sie zu Beginn der Stunde: „Matthias hat Geburtstag!“ Erst als ich die Gitarre schon ausgepackt hatte, gestand Matthias, dass sein Geburtstag schon vor einigen Wochen gewesen sei. Wir sangen trotzdem und hatten Spaß. Eines Tages war meine Gitarre aus meinem Lehrerraum verschwunden. Stehlen gehörte immer zu den Verhaltensweisen, die ich nicht ausstehen konnte. Als Täter kam nur jemand in Frage, der einen Schlüssel besaß. Tagelang fragte ich alle Kollegen, die ich zwischen den Stunden erreichte, niemand hatte die Gitarre gesehen. Dann betrat in einer Freistunde die Pastorin das Lehrerzimmer und hielt meine Gitarre in der Hand. Als ich freudig ausrief, dass ich die Gitarre schon vermisst hätte, war sie geknickt und entschuldigte sich. Sie hatte angenommen, dass es sich um Schuleigentum handelte.
In einer achten Klasse bahnte ich gemäß dem aktuellen Kernlehrplan modernen Deutschunterricht an. Ich machte die Schüler mit den Grundprinzipien eines Portfolios vertraut. Zunächst bestand Diskussionsbedarf darüber, ob die Schüler ein Thema selbst wählen oder ein vorgegebenes bearbeiteten. Ihnen behagte nicht, dass ich ihnen geraten hatte, zunächst alle dasselbe Thema zu wählen, damit wir Vergleichbarkeit herstellen konnten. Ich erwartete dadurch einen größeren Lernerfolg und eine objektivere Leistungsmessung. Ich blieb hart. Thema der Unterrichtsreihe war „Ideale, Idole, Vorbilder“. Die Schüler beantworteten individuell und schriftlich die Frage, welche Persönlichkeit sie bewunderten und für vorbildlich hielten, und sie begründeten ausführlich ihre Wahl. Nun, zumindest die Hälfte der vierunddreißig Schüler, genau genommen die zwölf Mädchen und einige lernbereite Jungen konnten etwas Schriftliches vorlegen. Ich ließ alle wesentlichen Kriterien einer Materialsammlung im Hausheft notieren. Wir wiederholten die Aspekte der Personenbeschreibung. Wir übten Begründungssätze mit den obligaten Kommas und vertieften argumentierendes Schreiben. Wir machten einen Leserundgang und merkten uns besonders gelungene Texte. Die Hälfte der Klasse hatte brauchbare Textgrundlagen geschaffen. Als Beispiel konnte ich nach drei Tagen die Arbeit eines Mädchens vorlesen, das sich den behinderten Läufer Oskar Pistorius ausgesucht hatte. Neben der Wikipedia-Biografie fand ich drei Sätze, die eine Eigenleistung ausdrückten: Ich bewundere Oskar. Er hat beide Beine verloren und trotzdem nicht aufgegeben. Er ist ein berühmter Sportler geworden.Wir sammelten weitere Aspekte, unter denen man diese Persönlichkeit untersuchen konnte. Was war daran bewundernswert? Warum hatte er die Beine verloren? Wie konnte er weiter laufen und sogar Leistungssport treiben? Lief er mit behinderten oder nichtbehinderten Sportlern im Wettbewerb? Aus welchen familiären Verhältnissen stammte er? Wer hatte ihn finanziell unterstützt?
Wir stellten fest, dass ohne objektive Kriterien eine Person eben nur subjektiv beschrieben werden kann. Also war eine Recherche notwendig. Die wichtigste Regel, die ich nun wie ein Prediger in der Wüste immer wieder präsentierte, war das Verbot des Kopierens aus Wikipedia oder ähnlichen Internet-Portalen. Die Affäre um Theodor zu Guttenberg und andere Politiker war noch kaum verklungen. Ich riet den Schülern, nur Stichworte aus Internetseiten zu notieren, dann war die Gefahr des Kopierens nicht so groß, und die Schüler lernten das Formulieren. Diese Methode setzte jedoch den Willen zum eigenständigen Arbeiten voraus. Ich übte mit den Schülern das richtige Zitieren und die Angabe von Quellen.
Die gewählten Personen waren weniger Politiker oder historische Persönlichkeiten als, wie ich es erwartet habe, Sportler oder Pop-Größen. Nur eine Schülerin entschied sich für ihre Schwester, eine für ihre Großmutter. Ich wies vorsorglich auf mögliche Probleme bei der Informationsbeschaffung hin. Ich verlangte von den Schülern, dass am Ende der Materialsammlung eine eigene Auseinandersetzung mit der Person stattfinden musste, in der die Wahl ausführlich begründet wurde. Ich gab zwei Wochen Zeit für die Recherche. Nach einer Woche hatte die Hälfte der Klasse bereits eine kleine Blattsammlung zusammengestellt. Texte, Zeichnungen, Grafiken, Zeitschriftentitel – die Ordner füllten sich allmählich, einige waren auch außen künstlerisch kreativ aufgewertet worden. Ich gab die Schriftart und -größe für Texte vor: Times New Roman 12. Überschriften durften fett und größer sein. In der zweiten Woche fragten einige Jungen, ob sie statt des Portfolios auch eine Powerpoint-Präsentation machen dürften. PPT-Präsentationen waren bereits gründlich erarbeitet und vor allem im Geschichts- und Politikunterricht gern genutzt worden. Ich lehnte es ab, doch die Mehrheit in der Klasse argumentierte, eine PPT sei doch auch so etwas wie ein Portfolio. Ich gab schließlich nach, verlangte aber dann, dass für die Benotung nicht nur die Folien, sondern auch der Vortrag herangezogen wurde. Die Klasse signalisierte Zustimmung.
Am Ende der zweiten Woche gab Katharina mir einen Schnellhefter mit vier bedruckten Seiten als ihr Portfolio ab. Die erste Seite bildete das Titelblatt, auf dem ein Foto und in großen Fettdruckbuchstaben der Name der Sportlerin Magdalena Neuner erschienen. Auf der zweiten Seite stand tabellarisch und stichwortartig eine Biografie, die weitgehend an Wikipedia anlehnte. Auf der dritten Seite waren mit einem Farbdrucker sechzehn (!) Fotos mit der Sportlerin abgedruckt. Auf der letzten Seite stand Katharinas vollständiger Name. Der Clou des Ganzen aber war das Format: Es handelte sich bei den Seiten um Ausdrucke von Powerpoint-Folien. Verdutzt blätterte ich vor den Augen der Schülerin dieses „Portfolio“ von vorn nach hinten und zurück. Schließlich packte ich die wenigen fertigen Exemplare ein und korrigierte sie zu Hause. Bei einigen dauerte es keine zehn Sekunden, bis ich über Google den jeweiligen Ausgangstext gefunden hatte. Wenn ich nur kopierten Text erkannte, lautet die Note ohne Zögern „mangelhaft“. Bei Katharina zögerte ich, da sie nicht derartig plump vorgegangen war, erkannte an, dass sie die Arbeit pünktlich abgegeben hatte, obwohl sie an einem Tag gefehlt hatte, und setzte ein Ausreichend auf die letzte, fast freie Seite. Neben ein Foto setzte ich meinen Kommentar: „Hier könnte eine persönliche Auseinandersetzung mit der Sportlerin erfolgen. Eine Eigenleistung ist kaum erkennbar.“ Ich kam mir überaus fair und großzügig vor. Am Tag nach der Rückgabe rief mich gegen 13.45 Uhr Katharinas Mutter an. Sie sei überhaupt nicht einverstanden mit der Bewertung. Sie habe selbst recherchiert, was ein Portfolio sei, aber keine Informationen im Netz gefunden. Immerhin habe sie ja Grundschulpädagogik studiert. Auch ihr Vater, ein Kollege, der jahrelang Erkunde, Sport und Mathematik unterrichtete, habe sich hingesetzt und versucht, eine Erklärung zu finden, er habe auch nichts gefunden und wisse ebenso wenig, was ein Portfolio sei. Außerdem hätte ich doch gesagt, dass das Portfolio mit Powerpoint gemacht werden sollte, und das habe ihre Tochter doch getan. Sie selbst habe ihr dabei geholfen. Und die Bemerkung, dass eine Eigenleistung nicht erkennbar sei, halte sie für eine Unverschämtheit. Überhaupt befinde sich die Realschule in einem desolaten Zustand, eine Lehrerin habe eine Vertretungsstunde gegeben und sei mit 34 Arbeitsblättern in den Raum gekommen. Sie habe gesagt, wer wolle, könne sich ein Arbeitsblatt nehmen, die anderen sollten sich irgendwie beschäftigen. Nur vier Schülerinnen hätten gearbeitet, die anderen seien über Tische und Bänke gegangen. In diesem Stil geht es weiter, alle meine Einwände, sie solle bitte zum Thema zurückkehren, fruchten nicht. Das Gespräch dauerte fast fünfundvierzig Minuten und endete mit einer Entschuldigung der Mutter, die ich zu diesem Zeitpunkt anzunehmen nicht mehr gewillt war. Dazu hatte es mich zu viel Spucke und Geduld gekostet. Ich bot Katharina am nächsten Tag eine Überarbeitung nach den im Unterricht behandelten und gebetsmühlenartig wiederholten Kriterien an. Ihre nächste Ausgabe erfüllte einen großen Teil davon, und eine Seite lang war ihre persönliche Bewertung des Portfolios und der Wahl der Sportlerin. Ich gab der Mutter ein Befriedigend.
Kap. 19
Ich korrigierte immer gern Arbeitshefte, auch wenn vierunddreißig Hefte eine Zumutung waren. Es versteht sich von selbst, dass ich dann keine Arbeiten mit langen Texten mehr konzipierte. Multiple Choice war das Gebot der Stunde. Aber auch die Aufgabentechnik nach Art der Lernstandserhebungen erleichterte die Bewertung, vor allem wenn man mit Punkten bewertete. Dass diese Punkte ebenso willkürlich vergeben werden konnten wie früher die Zensuren, fiel wohl nur mir auf. Alle Welt hielt die Punktbewertung für absolut objektiv. Die Tasche mit den Heften wog fünf Kilogramm. Mit meinem steigenden Alter wurde das gefühlte Gewicht für meine Arme größer. Früher durften Lehrer in vorgezeichneten Parkflächen auf dem Schulhof ihre Autos abstellen. Mit dem zweiten Chef und den Aussiedlerwellen, die zu mehreren Umbauten und zusätzlichen Klassenräumen führten, wurden die Pkw vom Schulhof verbannt und in zwei Nebenstraßen verlagert. Die Anwohner konnten es nicht fassen. Die dritte Chefin sah einen Großteil der Lehrerparkplätze mitsamt einem als Parkplatz genutzten Wendehammer durch den Bau eines Geschäftshauses schwinden und bat die Stadt um Hilfe. Gut dreihundert Meter vom Schulgebäude entfernt mietete sie zwanzig Parkplätze an und wunderte sich, dass sie nicht sofort vollständig angenommen wurden. Ich erhielt von einer Kollegin die Empfehlung, mir einen Trolley, einen Hackenporsche zuzulegen, weil ich mich außerstande sah, mit dem Gewicht meiner Taschen den Weg vom Mietparkplatz zur Schule zu bewältigen. Wer wuchtete mir dann den Hackenporsche in meinen Smart?
Eines Tages hörte ich im Pausenhof, wo ich meiner Aufsichtspflicht nachkam, großen Lärm von der Mädchentoilette her. Sofort eilte ich zur gläsernen Außentür und wollte gerade nach dem Bügel fassen, um die Tür aufzuziehen, da stürzte eine Schülerin heraus und schlug die Tür gegen meinen linken Daumen. Ich sah Sterne am hellichten Tag. Nach der Pause meldete ich den Vorfall oder Unfall im Schulbüro und kündigte einen Arztbesuch am Nachmittag an. Im lokalen Krankenhaus ließ der Chefarzt der Chirurgie eine Röntgenaufnahme anfertigen. Er untersuchte das Daumengelenk gründlich, fand nichts Bedenkliches und schickte mich mit einem einfachen Verband und der Anordnung, das Gelenk zu schonen, nach Hause. Drei Tage später hatte ich keine Beschwerden mehr. Später legte mir unsere Sekretärin ein Formular auf den Tisch und sagte, der Chef bitte mich, es auszufüllen und zu unterschreiben. Es war die Versicherung gegenüber der Bezirksregierung, dass ich keine weiteren Ansprüche an die Unfallversicherung stellen würde. Ich unterschrieb arglos. Eineinhalb Jahre nach dem Unfall begannen die Schmerzen. Besuche in orthopädischen Praxen und einer Spezialklinik folgten, danach Versuche mit Daumenschienen und Spezialbandagen sowie krankengymnastischen Übungen, Salben und Medikamenten. Doch das Gelenk hatte den Stoß nicht verkraftet, die Beweglichkeit des Daumens nahm ab, die Sehne versteifte über das Handgelenk hinaus. Nein, der Mietparkplatz war für mich keine Option.
Die Korrekturen waren, seit meine Kinder groß wurden, kein großes Problem mehr. Eher belastete mich die Konzeption der Arbeiten. Jahrzehnte lang galt für uns Deutschlehrer die Regel, dass in jeder Klassenarbeit ein zusammenhängender Text produziert werden musste. Der Anteil und der Umfang dieser Texte waren bei mir immer noch zu hoch. Mein schlechtes Gewissen verhinderte stets, dass ich mir das Leben etwas leichter machte. Wenn ich mir allerdings vor Augen führte, wie das Niveau der Schülertexte von Jahr zu Jahr sank, zweifelte ich schon sehr am Nutzen dieser Regelung. Es ist kein Märchen, dass die Rechtschreibleistungen der Schüler im Durchschnitt erheblich schwächer wurden und wohl werden, nimmt man die Klagen in den Medien ernst . Die Ursachen sind so vielfältig und weit gestreut, auch individuell so unterschiedlich begründet, dass ich Schuldzuweisungen, in welche Richtung auch immer, vehement unterdrücke. Aber es muss gestattet sein, Beobachtungen wiederzugeben.
Wenn ein Komma davor steht, schreibt man „dass“ immer mit zwei „s“. Diese Regel hatte Martin angeblich in der Grundschule gelernt, ebenso äußerten sich viele seiner Mitschüler. Ich tröstete meine Schüler damit, dass vermutlich achtzig Prozent der deutschen Erwachsenen mit Relativ- und „dass“-Sätzen ein großes Problem haben, und verwendete für die Übung doppelt so viele Stunden wie bisher. Der Erfolg ließ auf sich warten. Oft fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Rechtschreibreform konsequenter und radikaler zu gestalten. Einer Lehramtsanwärterin verdankte ich die Bezeichnung „Mülltonnendeutsch“ für umgangssprachliche Ausdrücke. Ich schrieb nicht mehr „Umg.“ an den Rand der Deutscharbeit, sondern malte eine stilisierte, sehr vereinfachte Mülltonne, ähnlich der auf meinem Desktop. Nur ganz allmählich setzte sich in den meisten Köpfen meiner Zöglinge fest, dass die Ausdrücke kaputt, total, toll, geil, cool, g(k)ucken und andere nicht verschriftlicht werden sollten. Auf eine detaillierte Begründung verzichtete ich nach einiger Zeit. Die Grenzen zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache verschwammen zusehends. Mundartlich nach Ostwestfalen gehörte lange Jahre die Aussage, man habe keine Lusten. Und denn geh ich anne Bache und werfe mitte Stöcker, und denn geh ich nache Omma Kierschen essen. Bei solch einem Deutsch stehen einem anständigen Deule die Haare zu Berge, er könnte sich zumindest beömmeln, wenn er einen Funken Humor besaß. Ich bereitete für die Korrektur Papierstreifen mit dem passenden Spruch vor. Manche Schüler hier in der Provinz folgten ‒ hallo erstmal ‒ gern dem Paderborner Komiker Rüdiger Hoffmann, den sie lustig fanden und dessen Deutsch sie keinesfalls als ironisch verfremdet aufnahmen. Und so waren denn meine ostwestfälischen Lieblinge pausenlos am essen, am arbeiten, am chillen, am pennen, am telefonieren, am fernsehen und am falsch deutsch reden. Schau einmal an, was mein PC-Korrekturprogramm hier ankreidet: am chillen und am fernsehen. Ich soll am Fernsehen schreiben? Am Arsch! Das akzeptiert mein Programm! Den Ausdruck chillen kennt mein Word nicht. Es gibt noch Hoffnung. Meine Papierstreifen enthielten folgenden Text, der leider nicht meiner Feder entsprungen ist:
Da war mal ein Bauer am Stall an ner Kuh am Euter dranne am ziehen.
Der Bauer melkte also. Früher hieß es, er molk. Wie lange ich noch die Energie aufbringen würde, gegen den Sprachzerfall anzukämpfen, konnte ich nicht abschätzen.
Da wurden in OWL Jacken an Garderobenhaken gehangen statt gehängt. Komma hierhin! rief die Ostwestfalenomma ihrem Enkel zu, wenn er sich vielleicht anderweitig bilden wollte. Im Geiste rief ich ihr zu: Komm hierher oder gehe dorthin. Dass ich mich einmal sogar mit dem Mittelhochdeutschen oder der Lingua tertii imperii beschäftigte, ist gefühlte Millionen von Lichtjahren her. Eine Kunstkollegin fragte nach der Regel für Bindestriche. Ich machte ihr am Beispiel unseres Schulnamens klar, dass der Namensgeber, ein Dichter, zwei Vornamen und einen Nachnamen hat, die ohne Bindestriche geschrieben würden. Sobald man aber diesen Namen mit dem Wort Realschule verband, kam eben der Bindestrich zum Einsatz, und zwar zwischen allen Bindegliedern. Unser Schulname bestand aus vier Teilen, die mit drei Bindestrichen aneinander gebunden wurden. In meiner ungeheuren pädagogischen Zuversicht nahm ich an, dass meine Erklärung zweifelsfrei zur dauerhaft richtigen Anwendung führte. Kurz darauf erhielt der Hausmeister von der Kunstkollegin den Auftrag, ein künstlerisches Objekt, das ein Zitat unseres Dichters enthielt, an einer Wand im Foyer mit dem Namensschild des Dichters zu versehen. Er schrieb den dreiteiligen Namen mit zwei Bindestrichen. Meine vorsichtige mündliche Verbesserung nahm er zur Kenntnis, mehr nicht, und die nächsten zehn Jahre schaute ich beim Betreten des Foyers zur gegenüberliegenden Wand, um nicht ständig auf den Fehler schauen zu müssen.
Meine Schule erhielt zum Vierzigjährigen einen neuen Anstrich, ein Gönner spendierte ein großes Schild mit dem Logo und dem Namenszug unserer Schule. Der Bindestrich vor dem Wort Realschule fehlte. Er hätte angeblich das Gleichmaß, die Symmetrie gestört, darum habe man darauf verzichtet. Wenn ich in Facebook einen Account hätte, könnte ich ad hoc zwei Gruppen einrichten: eine zur Rettung des Wörtchens denn, eine zur Rettung des Bindestrichs. Selbst meine Deutschkollegen hörte ich hinter meinem Rücken raunen: Korinthenkacker. Vielleicht hätten sie gegendert: Korinthenkacker*in. In letzter Zeit häufen sich die veröffentlichten medialen Texte, in denen der Gedankenstrich als Bindestrich auftritt oder umgekehrt. Dabei dachte ich lange, dass das Sehen nur mit dem Alter an Schärfe verliert. Meinen Schülern zeigte ich über den Beamer, wie ich die Tastatur des PC so benutze, dass aus einem Bindestrich ein Gedankenstrich wird. Es gibt auch das Tastaturkürzel Strg + Minuszeichen der Nummerntasten. Ich weiß nicht, ob meine Pädagogik gefruchtet hat. Mit den Jahren wird ein Deule vermutlich kritischer, er selbst wird im Umgang mit der deutschen Sprache immer professioneller, seine Schüler nicht. Daher rührt wahrscheinlich zu einem großen Teil der Eindruck, dass das sprachliche Niveau der Schüler sinkt. Doch von allen Deutschlehrern erwartete ich, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten auf hohem Niveau lagen und dass sie selbstkritisch genug waren und selbstständig Lücken oder Mängel behoben, falls sie darauf gestoßen waren.
Das Bestreben mancher Kollegen zielte eher darauf ab, sich keine Blößen zu geben, sich bei Fehlern nicht erwischen zu lassen. In einer Vertretungsstunde lag auf dem Pult das Arbeitsheft einer Schülerin, die wegen Krankheit fehlte. Ich blätterte neugierig hindurch und stellte bei den meisten Texten fest, dass die Kollegin über die Hälfte der Rechtschreib-, Zeichensetzungs- und Grammatikfehler nicht rot markiert hatte. Dieselbe Kollegin sprach mich auf eine Schülerin an, der ich wegen ihrer sprachlichen Schwächen eine Drei auf dem Zeugnis gegeben hatte, die nun in der ersten Arbeit im neuen Schuljahr eine Eins geschrieben hatte. Ich freute mich für die Schülerin und las den Aufsatz mit großem Interesse, doch bereits auf der ersten Seite fand ich mehr Fehler, die die Kollegin nicht angestrichen hatte, als rot markierte. Nein, ich bin nicht vollkommen. Ich bin mir immer im Klaren darüber, dass man nicht nur die Fehler der anderen finden und an den Pranger stellen kann, ohne die eigenen Fehler gebührend zu dokumentieren.
Mein größter Fehler, wenn er denn einer ist, dürfte mein absoluter Drang nach Selbstständigkeit im Handeln und im Denken gewesen sein, meine Ablehnung, mit dem großen Haufen zu laufen, und meine Neigung, dies laut und öffentlich bekannt zu geben. Mein zweiter Chef dürfte über meine Renitenz vor Weißglut gekocht haben, als er ausschweifend das Konzept der CI, der Corporate Identity, vorgestellt hatte. Meine Skepsis wuchs parallel zur Dauer seiner Ausführungen, bis dann schließlich mein Lieblingssatz fiel: Wir müssen alle an einem Strang ziehen. Si tacuisses? Diplomatie ist in der Regel Heuchelei. Ich jedenfalls deutete eine abgeschwächte Variante des erhobenen rechten Armes an und rief dabei aus: CI! Wir sollten der Schule ein Profil geben. Wir sollten nach außen geschlossen auftreten. Dafür reichte mir das Schullogo. Uniformierung jeder Art war mir ein Gräuel. Ich war ein Fossil der geschmähten Spätachtundsechziger, das immer noch den Muff unter den Talaren, den Versuch der Indoktrinierung, der Instrumentalisierung, der Manipulation witterte. „Es würde mich auch wundern, wenn Sie sich einmal einen Kommentar verkneifen würden“, ätzte mein Chef. Danke für das Kompliment.
Die Konrektorin bereitete für die nächste Konferenz, an der ich leider wegen eines Zahnarzttermins nicht teilnehmen konnte, eine handlungsorientierte Aktion vor. Sie brachte ein dickes Tau mit, das irgendwo vorn, auf dem extra gestellten Foto unsichtbar, befestigt worden war, und ließ alle Kollegen sich an diesem Strang positionieren und gemeinsam daran ziehen. Ich weiß, was in meinem Kopf vorgegangen wäre: Woran oder an wem ziehe ich? In welche Richtung? Wer gibt diese vor? Was, wenn ich die Richtung wechseln will? Ich stellte mir vor, dass ich wegen meiner ablehnenden Sturheit den Strang um den Hals gelegt bekäme, und die Kollegen zögen freudig daran, bis mir die Luft wegbliebe. Der Tod durch den Strang war das eine Bild, das sich mir nur mit Widerwillen erschloss, und auch die Metapher von dem Boot, in dem wir alle saßen, erschien mir hohl und klischeehaft. Ich folgte nur ungern einem Klischee, auch wenn ich mir das Leben dadurch erschwerte. Wir bringen etwas in trockene Tücher, und dann sind wir auf der sicheren Seite. Die Kühe auf meinem elterlichen Bauernhof hätten manchen Weg abkürzen und mitten durch die Wiese gehen können, um an saftiges Gras zu gelangen. Aber sie trotteten ihre ausgetretenen Pfade am Zaun entlang.
Ich war keine Kuh.
Es sollte für alle Gäste ein erbaulicher Tag der offenen Tür werden. Seit ich mit meinem Ehegatten und seinen rotarischen Freunden den Pariser Kontaktclub besucht hatte, besaß ich ein großes weißes Namensschild mit einer großen roten Rose neben meinem Namen, der mit der Anrede Madame begann. Dieses Schild befestigte ich schon zu Hause an meiner sonntäglichen Oberbekleidung und schritt nun frisch motiviert ins Foyer. Die Konrektorin hielt mich auf, in der Hand einen einfachen Pappkarton mit ebenso schlichten kleinen Namensschildchen, den sie mir herausfordernd entgegenstreckte. „Nimmst du dir bitte dein Namensschild?“, sagte sie. Ich wies auf mein hübsches Schild und erwiderte: „Ich habe schon eines.“ – „Ich möchte dich bitten, deines hier aus dem Karton zu nehmen.“ Sie kramte darin herum, bis sie meinen Namen entdeckte, und stach mir mit dem einfach beschriftete Plastikteil fast in meine Nase. „Hier hört deine Individualität auf.“
Ich nahm das Schild kommentarlos entgegen und überlegte auf dem Weg ins Lehrerzimmer, wie ich es entsorgen konnte. Da fiel mir auf, dass mein Namenszug zwischen meinem Daumen und Zeigefinger auf dem Kopf stehen würde, wenn ich als Rechtshänderin es mir mit der Sicherheitsnadel an der linken Brustseite anstecken würde. Ich lege mein französisches Kunstprodukt seufzend ab und steckte mir das profane Schild an. Solch einen kommunikativen Vormittag hatte ich lange nicht mehr erlebt. Schüler, Eltern und Kollegen wiesen mich fast vier Stunden lang darauf hin, dass mein Schild falsch herum angesteckt sei. Ich antwortete in immer neuen Variationen etwa so: „Nein, das Schild ist nicht falsch herum, ich bin es. ‒ Die Welt steht Kopf, mein Schild ist richtig. ‒ Das ist Absicht, ich wollte nicht wie alle anderen aussehen.“
Meine Welt war wieder in Ordnung.
Beim nächsten Tag der offenen Tür erhielten wir ein Namensschild, das durch das bunte Logo unserer Schule etwas aufgehübscht war. Mir fiel ein, dass ich in der Vergangenheit in den zehnten Klassen lange in Deutsch oder auch Politik über Selbstbestimmung und Fremdbestimmung hatte nachdenken lassen. Auch das Spannungsverhältnis von Anpassung und Widerstand wurde thematisiert, vor allem, wenn ich in Geschichte die unvorstellbare Forderung nach Gleichschaltung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens während der Nazizeit erörtern ließ. Zumindest theoretisch propagierte ich das Recht, ja sogar die Pflicht zum Widerstand. Meine Sturheit hatte mich bisher noch nicht den Kopf gekostet.
Warum aber sollte die Gleichschaltung in einem demokratischen Staat unverfänglicher sein als in einer Diktatur? Meiner Pensionierung nach zweiundvierzig Dienstjahren, davon neununddreißig an derselben Schule, sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Beim obligatorischen Aufräumen fiel mir das Schild mit der französischen Rose und der Madame in die Hände. Versonnen drehte ich es um und entdeckte zu meiner allergrößten Freude den handschriftlichen Namenszug meiner Konrektorin. Mir fiel ein, dass sie am Anfang ihrer Dienstzeit als Konrektorin vergessen hatte, ein Namensschild für sich zu besorgen. Sie lieh sich meines, drehte es um und beschriftete die Rückseite. Dadurch hatte ich sie gleichsam zu einer Madame gemacht und kostenlos ein Autogramm erhalten.
Kap. 20
Ein weiteres Projekt meines zweiten Chefs, das mich Lebenszeit und Lebensqualität kostete, war die Teamarbeit. Lehrer sollten sich zu Teams zusammenfinden, wenn sie in einer Jahrgangsstufe oder bei der Schulprogrammarbeit oder in anderen schulischen Bereichen aufeinandertrafen. Wo es notwendig war, war es auch sinnvoll und geschah an meiner Schule seit Jahrzehnten. Ich sah sofort ein, dass ein Pädagoge, der noch nicht über viel Erfahrung verfügt und möglicherweise auch unsicher ist, sich gern Hilfe bei erfahrenen Kollegen holen darf. Dagegen war nichts einzuwenden, ich hatte meine Kollegen beobachtet und übernommen, was ich für sinnvoll hielt. EINE SEITE! Ein Kollege erwischte Schüler während der Pause im Gebäude und ließ sie aus einem selbstgewählten Buch eine Seite abschreiben. Wehe ihnen, wenn sie diese nicht spätestens am nächsten Tag in der großen Pause im Lehrerzimmer abgaben! Wenn Lehrer sich gut verstehen, was ja nicht zu erzwingen ist, arbeiten sie sicher hervorragend im Team zusammen. Aber wenn diese Teamarbeit dazu führte, dass ich meine Persönlichkeit, meine eigenen Bedürfnisse, Methoden und Materialien zurückstellen und dafür die meiner Kollegen übernehmen sollte, nur um den Tatbestand der Teamarbeit dokumentieren zu können, würde ich ebenso wenig wie bei der CI-Geschichte mitmachen können. „Wenn wir früher das Kartoffelfeld gehackt haben, waren wir ganz selbstverständlich ein Team. Wir hatten ein gemeinsames Ziel. Wenn wir Lehrer zusammenarbeiten müssen und wollen, tun wir es. Aber ohne Zwang.“ Auch diese, meine, Äußerung führte dazu, dass das immer etwas schmerzhaft verkniffene Gesicht meines Chefs noch verkniffener aussah. Immerhin verstand er etwas vom Kartoffelhacken. Wir verfügten neuerdings über eine Mensa für den Mittagstisch sowie über einen Kiosk, der uns Schüler und Lehrer in den beiden großen Pausen mit mehr oder weniger gesunden Nahrungsmitteln versorgte. Die Schüler standen draußen in einer langen Schlange, und vorn am Fenster wurde gedrängelt. In diese Schlange sollten laut aktuellem Konferenzbeschluss sich auch die Lehrer einreihen. Ich weigerte mich laut und öffentlich, aber ohne Resonanz, ich kaufte ein- bis zweimal in der Woche am Kiosk ein belegtes Brötchen, indem ich die Tür zum Kiosk vom Foyer aus öffnete, die nette Frau mich sah, sekundenschnell mein Brötchen in eine Papiertüte packte, sie mir nach wenigen Schritten überreichte, den Euro entgegennahm und weiter die drängelnde Schlange bediente. Ich hatte mit der Frau gesprochen. Sie sagte, sie habe kein Problem damit. Ich konnte jedenfalls die Pause zu etwas Sinnvollerem nutzen, als draußen in einer drängelnden Schülerschlange zu stehen. Wahrscheinlich gab es eine Alternative, etwa die Vorbestellung, das Brötchen könnte vor der Pause schon auf meinem Tisch liegen. Doch ich möchte keine Routine, ich möchte unabhängig bleiben.
Bevor ich die Außenaufsicht antrat, hatte ich Hunger. Ich öffnete die Kiosktür, die nette Frau griff nach der Tüte, da hörte ich hinter mir mit einer gewichtigen, etwas schrillen Stimme der Schulleiterin ein „Nein!“ und meinen Vornamen. „Das geht nicht!“ Die Frau drückte mir mit unbeweglicher Miene zügig das Brötchen in die Hand, ich bezahlte ungerührt, sagte „Tschüss“ und ging auf den Schulhof. Manchmal frotzelten die Kollegen, die mich zum Kiosk gehen sahen. „Das ist ja offene Revolution, was du hier machst! ‒ Das geht aber nicht, du stellst dich schön draußen an!“
Meine Individualität hörte auch beim Kauf meines Pausenbrötchens nicht auf.
Mit der Einrichtung der Gesamtschule und dem erforderlichen Umbau wurde der Kiosk verlegt. Die beiden Damen der Cateringfirma, die ihn betreuten, waren mir unbekannt, sie verschanzten sich in ihrem Bedienraum wie in einer Gefängniszelle. Sie blieben mir unbekannt. Ich wunderte mich nicht mehr über das vorzeitige Burnout bei Lehrern, die ihre Pause mit dem Warten am Brötchenkiosk vertun. Irgendwann schalten sie das Triebwerk ihrer Rakete ab und beginnen antriebslos zu fliegen.
Das Mädchen mit dem französisch klingenden Namen kam neu in meine Klasse, die mit vierundzwanzig Köpfen im Laufe der Jahre endlich eine erträgliche Größe aufwies. In ihrer Klasse wurde sie gemobbt, und sie und ihre Eltern hofften, dass sie sich in meiner Klasse wohler fühlte. Ich hoffte es auch. Am Anfang ging alles seinen geordneten Gang. Chantal schien sich wohl zu fühlen, es gab einige prekäre Fälle unter den Mitschülern, die mich weiter beschäftigten. Ein Problemfall war Andi. Andi hatte in der 5. Klasse einmal zur Toilette gehen wollen. Der Kollege meinte, er solle in den Pausen gehen. Die Folge waren eine nasse Hose und ein Bächlein unter dem Stuhl sowie dauerhaftes Lästern und Sticheln. „Wasserfall!“ murmelten einige charmante Kameraden ihm zu, wenn sie an ihm vorbeigingen. Andi rastete in der siebten Klasse immer noch schnell aus. Der Ablauf einer Aktion war immer gleich: Er wurde provoziert oder provozierte auch selbst, er reagierte oder die anderen reagierten, es kam zu Handgreiflichkeiten, er oder die anderen kamen zu mir und beklagten sich. Es dauerte lange, ihnen klarzumachen, dass sie den Konflikt am schnellsten klärten, wenn sie gleich zu mir kamen und nicht erst über Facebook und WhatsApp den Streit ausbreiteten oder zu Hause am Mittagstisch oder wenn Papa abends nach Hause kam. In immer gleicher Weise war jeweils Andi oder waren jeweils die anderen schuld, die Eltern standen meistens auf der Seite ihrer Sprösslinge. Ich wies Andi zurecht, weil er dieses Mal der Initiator des Streites gewesen zu sein schien. Er ging frustriert durch die Ermahnung in den Biologieunterricht, und da er selten und auch dieses Mal nicht sein Buch, sein Aufgabenheft oder Hausheft fand, eckte er bei der jungen Biologielehrerin an und brach in Tränen aus. Sie hatte auch endlich ein Kind und war ganz mitfühlende Mama. Nach ihrer Stunde dauerte es nur wenige Minuten, bis Andi sich auf dem Flur mit Fünftklässlern anlegte. Ihnen fühlte er sich überlegen, doch einer von ihnen nahm es rhetorisch mit ihm auf. Die Folge war, dass er mit der rechten Hand ausholte, um den Jungen zu schlagen, gegen einen Garderobenhaken prallte und sich das Handgelenk brach.
Erst am nächsten Morgen erfuhr ich von dem Vorfall, und eine junge Kollegin war ganz Vorwurf, sie hatte den wahren Schuldigen ausgemacht: mich. Sie hatte mit dem armen Jungen gesprochen, er hatte sein Herz ausgeschüttet, und da ich ihn vor der Stunde ermahnt hatte, war ich schuld, dass er sich nach der Stunde das Handgelenk brach. Einige Tage später rief mich die Sekretärin ins Büro. Sie musste Andis Mutter anrufen, denn er hatte wiederum seine Hose nass gemacht. Die Mutter brachte ihm Sachen zum Wechseln in die Schule. Ich konnte kurz zwischen zwei Stunden mit ihr sprechen und riet ihr, mit ihrem Sohn einen Urologen aufzusuchen. Es sei nicht normal, dass ein Siebtklässler einnässt, sagte ich. Sie erklärte mir nervös, dass Andi nicht zur Schultoilette gehen wolle, weil es ihn ekele. Er könne zu Hause auch nur auf seine eigene Toilette gehen. Ich malte mir aus, wie in dieser Familie die Hygieneerziehung aussah. Mir leuchtete nicht ein, dass ein Junge im Jahr 2014 mit der Hygiene beim Pinkeln ein Problem hatte. Oder hatte der Junge ein Trauma zu verarbeiten? Ich spekulierte nicht, denn die Mutter hatte nichts dergleichen berichtet. Oft erzählte ich in meinen Klassen die Geschichte von Stefan, dem polnischen Zwangsarbeiter, der während des Zweiten Weltkriegs auf dem Hof meiner Großeltern nicht wusste, wie er die Toilette benutzen sollte. Er stellte sich auf das hölzerne Klo und versuchte das birnenförmige Loch zu treffen. Es war ein Plumpsklo, mit säuberlich zurechtgeschnittenem Toilettenpapier, verwertet wurde hier die Kreiszeitung. Meine Großmutter gab dem jungen Mann eine Stunde kostenlosen, praktischen Hygieneunterricht. So sahen moderne Toiletten aber nicht mehr aus.
Kurze Zeit später fehlte Andi, zunächst einen Tag, dann mehrere. Dann erschien er nach der zweiten Stunde mit der hingemurmelten Entschuldigung, er habe den Bus verpasst, oder auch, er habe den Wecker nicht gehört. In einem Telefongespräch mit der Mutter erfuhr ich, dass sie neuerdings wieder stundenweise berufstätig war und ihren Sohn zur Bushaltestelle brachte, bevor sie zur Arbeit fuhr. Sie hatte sich am Morgen regulär von ihm verabschiedet und war der festen Ansicht gewesen, dass er in den Bus einstieg und zur Schule fahren würde. Ich vermittelte nun doch ein Gespräch mit der Schulpsychologin, über das ich natürlich keine Details erfuhr, nur, dass Andi ein schwieriger Fall sei. Bevor es richtig schwierig werden konnte, meldete die Mutter ihn an meiner Schule ab. Andi erinnerte mich an die Lektüre in einer fünften Klasse: „Supergute Tage“ von Mark Haddon. Christopher, die Hauptfigur, ist Autist und kann ebenfalls nicht auf fremde Toiletten gehen. Er überwindet seine Angst vor fremden Räumen, als er in einen Zug nach London steigt, weil er nur so seine Mutter finden kann. Doch im Zug auf die Toilette zu gehen schafft er nicht und macht lieber seine Hose nass.
Nun also kam Chantal ins Spiel. Eines Tages ging ich nach der sechsten, also letzten Schulstunde ins Lehrerzimmer. Ich wollte rasch meine Sachen packen und nach Hause eilen, weil mein Ehegatte eine anständige Mahlzeit erwartete. Immerhin war sein Beruf als Hausarzt viel anstrengender als meiner. Aus dem Kochen wurde nichts. Chantals Vater wartete vor dem Büro auf mich und bat dringend um ein Gespräch. Natürlich schickte ich ihn nicht fort und bat ihn nicht, sich doch einfach vorher anzumelden. Ich erfuhr, dass Chantal von ihren Mitschülerinnen über Facebook gemobbt werde. Nun leistete ich wieder Detektivarbeit. Wer mobbte sie? Alle oder nur bestimmte Schülerinnen? Warum wurde sie gemobbt? Wie wurde sie gemobbt? Das ganze Programm spulte ich ab, machte mir Notizen und verabschiedete den aufgebrachten Vater nach etwa vierzig Minuten.
An diesem Tag gibt es in meiner Küche Fastfood. Man stirbt nicht daran.
Am nächsten Morgen rief ich in einer Springstunde alle, die namentlich genannt wurden und an dem Mobbing beteiligt gewesen sein sollten, im Besprechungszimmer zusammen und hörte mir jede einzelne Geschichte an. Und siehe da: Das Früchtchen Chantal hatte nachweislich ganz üble Gerüchte gestreut und daraufhin die nötige Kritik und auch unsachliche Angriffe in schönstem Mülltonnendeutsch einstecken müssen. Chantal heulte, als ich sie mit den Beweisen konfrontierte. Die anderen Mädchen allerdings wollten sich dann doch wieder mit ihr vertragen, sie versprachen alle Besserung und gaben sich zur Versöhnung die Hand. Zwei Tage später steckte mir eine Schülerin ein Pamphlet zu, das aus der Feder Chantals und ihrer neuesten Busenfreundin stammte. Schmutzige Fäkalsprache fand ich darauf, beleidigende Beschimpfungen. Das folgende Gespräch fand im Klassenraum statt. Chantal heulte. Jetzt wollte ihr keine die Hand zur Versöhnung reichen. Ich rief drei der nettesten Mädchen nach dem Unterricht zu mir und bat sie, für Chantal eine Art Patenschaft zu übernehmen, denn noch einmal die Klasse zu wechseln sei meiner Ansicht nach nicht sinnvoll, und Chantal brauche ihre Hilfe. Die drei kümmerten sich. Einige Tage blieb es ruhig. Dann rief mich der Vater nachmittags zu Hause an. Seine Tochter entwickle Magenkrämpfe, weine viel und wolle nicht mehr zur Schule gehen. In Facebook hätten sich die Mädchen aus meiner Klasse regelrecht gegen sie verschworen. Ich hatte kein Rezept parat, sondern empfahl dem Vater, seine Tochter aus Facebook abzumelden oder ihr das Smartphone wegzunehmen. „Oh nein, das kann ich ihr doch nicht antun!“, antwortete er entrüstet. „Dann kann ich Ihnen nicht helfen“, entgegnete ich gereizt, und er verabschiedete sich ebenso.
Chantal kam zur Schule, war aber im Unterricht unkonzentriert und fahrig, ihre Hände mussten sich unentwegt beschäftigen, sie malte, knetete ihren Stift, wischte sich beständig eine Strähne aus dem Gesicht. „Bitte versuche, deine Hände stillzuhalten, du machst mich ganz nervös“, flüsterte ich ihr zu. Wenige Minuten später drehte sie ununterbrochen an ihrer Haarsträhne. „Soll ich dir ein Gummiband besorgen? Dann kannst du deine Haare zusammenhalten“, schlug ich vor. Sie schüttelte erschrocken den Kopf. Nichts half gegen ihre Fahrigkeit. „Hat die Belästigung in Facebook nicht aufgehört?“, fragte ich sie in der Pause. „Doch, ich bin nicht mehr in Facebook“, sagte sie, aber ich spürte keine Erleichterung in ihrer Aussage. Ich hatte keine Zeit mehr, mich mit ihrem Problem zu befassen. Manchmal lösten sich Dinge auch von selbst in Luft auf, tröstete ich mich. Man musste nicht beständig in Wunden herumbohren. Fast hatte ich mich in Sicherheit gewiegt, da erfolgte wiederum ein Anruf, dieses Mal durch die Mutter. Sie berichtete von erneuten Angriffen. Ich fragte, wie das gehe, wenn Chantal doch gar nicht mehr in Facebook sei. Ich erfuhr von der neuen Einrichtung WhatsApp und ließ mich über die Möglichkeit des Mobbings mithilfe dieses Mediums informieren. Ich sagte der Mutter, dass ich leider keinerlei Einfluss auf das Freizeitverhalten ihrer Tochter hätte und daher auch keine Möglichkeit sähe, hier einzugreifen.
Am nächsten Tag stand der Vater nach der letzten Unterrichtsstunde wiederum unangemeldet vor dem Lehrerzimmer und bat um ein Gespräch. Ich war ungehalten und erklärte ihm, was ich schon mit seiner Frau besprochen hatte. „Sie müssen hier aber unbedingt etwas tun. Immerhin geht es um die Ruhe in Ihrer Klasse!“ – „In meiner Klasse ist Ruhe, der Unterricht verläuft ungestört, außerdem hat gerade ein Elternabend mit einem Fachvortrag über das Mobbing stattgefunden. Im letzten Monat hatten wir einen Kriminalkommissar zu Besuch, der der Klasse die Gefahren des Mobbing im Internet darstellte. Ich kann leider nichts mehr tun.“ Ich wollte nichts mehr tun. Warum sollte ich die Schäden ausbaden für Vorgänge, die die Eltern zu verantworten hatten? Wenn sie ihren Kindern die modernen Kommunikationsgeräte zur Verfügung stellten, sollten sie selbst aufpassen, was die Blagen damit anstellten. „Das ist aber Ihre Pflicht. Wenn Sie sich weigern, muss ich wohl einmal mit dem Bürgermeister und dem Schulamtsleiter reden.“ Solche Drohungen bewirkten bei mir nur das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigten. „Dann tun Sie das! Auf Wiedersehen!“ Ich ließ ihn im Schulflur stehen.
In der nächsten Jahreshälfte sah ich nur Chantals Mutter. Von Mobbing war nicht mehr die Rede, es gab keine Anrufe mehr, am Sprechtag ging es sachlich um Chantals Schulerfolg, mehr um ihr Lern- und weniger ihr Sozialverhalten. Ich wollte gar nicht wissen, wie und ob die Eltern das Problem gelöst hatten. Ich war Deutsch-, Geschichts- und Politiklehrerin. Ich hatte den Auftrag, den Schülern Deutsch-, Geschichts- und Politikwissen und einen Haufen anderer, von pädagogischen Koryphäen konstruierter Kompetenzen zu vermitteln. Ach, ja.
Exemplarisch: Ein Elterngespräch
Ich führte ein Telefongespräch mit einem Vater, den ich bisher noch nicht kennenlernen durfte. Zu Sprechtagen kam immer die Mutter, ihren Sohn an der Seite, so wie ich es immer den Eltern geraten hatte. Die Kritik seitens der Schule bezog sich auf das oft respektlose Verhalten des Jungen. Er kam zu spät in den Chemieunterricht, eine Kollegin sah ihn um 8.10 Uhr noch mit einem Getränk auf dem Schulhof, obwohl er in der Sporthalle sein sollte. Im Kunstunterricht war er mehrfach ermahnt worden, war im Unterricht oft abgelenkt und lenkte andere ab. Im Geschichtsunterricht, in dem es um Reformation und Gegenreformation ging, bezeichnete er unmotiviert eine Pastorin als „Scheiße“, dieser Meinung seien auch seine Mutter und seine Großmutter. Der Junge nahm Kritik nicht an, nach einer Ermahnung kam es kurze Zeit später wieder zu Störungen, er posaunte seine Meinung ungefragt in die Klasse, gab zu allem, was um ihn herum geschah, seinen Kommentar ab und zwang den Lehrer zur ständigen Unterbrechung des Unterrichts. Die Reaktion des Vaters auf meine klare Ansage war positiv. Auch zu Hause zeige sein Sohn pubertäre Verhaltensweisen, aber in der Schule müsse er sich natürlich benehmen. Er, der Vater, sei gerade von der Arbeit gekommen und wolle „heute Abend“ mit seiner Frau sprechen und auf den Jungen einwirken. Zu der Äußerung über die Pastorin sagte der Vater, dass sein Sohn mit einem Pastor, der aus dem Nachbardorf „oder so“ komme, sehr einverstanden sei, aber mit dieser Pastorin komme er nicht aus, sie könne wohl nicht so auf die Kinder eingehen. Er bat um einen weiteren Anruf, falls das Verhalten seines Sohnes sich nicht bessere. Er erklärte es sich mit der Pubertät, die ja auch der Schwester zeitweise sehr zu schaffen gemacht habe. Er bedankte sich für meinen Anruf und hoffte, dass es keine Ordnungsmaßnahmen seitens der Schule geben müsse. So ging es also auch.
Kap. 21
Im Geschichtsunterricht der Klasse 8 behandelte ich das Thema Absolutismus und Aufklärung. Immer noch schilderte ich den Jugendlichen plastisch die historisch nicht belegte Kutschenszene mit der französischen Königin Marie Antoinette, die sich während einer Kutschfahrt über ihr Land über die halbverhungerten arbeitenden Bauern gewundert haben soll. Dabei soll sie durch ihren Kutscher erfahren haben, dass die Bauern hungerten, weil sie kein Brot hätten. Sie soll gefragt haben, warum die Bauern dann keinen Kuchen äßen. Selbst dem letzten meiner gesättigten, vom Leben und seinen Eltern in der Regel verwöhnten Schüler wurde mit dieser wissenschaftlich nicht haltbaren Geschichte klar, warum Menschen auf die Straße gingen und Revolution machten. Ich erklärte und ließ erklären: zwei Grafiken im Lehrbuch, die über das absolutistische Staatsmodell und über das aufgeklärt absolutistische informieren. Ich probierte brav den Transfer herzustellen und sah, dass die Klasse weder mit dem Begriff der Gewaltenteilung noch Gesetzgebung noch Parlament noch Kanzlerin und Ministern etwas anfangen konnte. Die Hälfte kannte Bundespräsident Joachim Gauck nicht und wusste auch nicht, dass der über der Kanzlerin stand und unser Staatsoberhaupt war. Könige kannten die meisten auch nicht, aber immerhin Schützenkönige. Geduld war nötig und eine weitere Stunde Grundlagen der Verfassung, wir setzten den Bundespräsidenten an die Spitze, ersetzten den Kopf des Königs in der Exekutive durch Kanzlerin Merkel und gaben rollenspielerisch dem Parlament Gesichter und einen Namen, brachten ein Gesetz durch den Bundestag und den Bundesrat, ließen es vom Bundespräsidenten unterschreiben, bestimmten einige Hühnerdiebe, die nach dem Strafgesetzbuch von einem unabhängigen, nur dem Gesetz verpflichteten Richter verdonnert wurden, und ich dachte optimistisch, dass nun das Prinzip der Gewaltenteilung auch dem letzten Zocker der Klasse in Ansätzen vertraut war. Im Test machten Bundeskanzlerin Merkel und das Volk die Gesetze, das Volk führte sie aus, und Polizisten sprachen Recht. Wunderte es mich, dass die Pöbler von Pegida auf die Straße gingen und dort Politik machen wollten?
Das Jahr 2015 hatte es in sich gehabt. Unsere gute alte Friedrich-Wilhelm-Weber-Realschule schmolz ab, aber das war ja keine Katastrophenmeldung. Die Gesamtschule baute in unserem Gebäude im gleichen Maß auf. Auch das war keine Katastrophe, vorausgesetzt, die Gesamtschule wurde weiter von der Bevölkerung angenommen und nicht kaputtgeredet. Ich wünschte mir außerdem, dass die Gesamtschule nicht nur die Haupt- und Realschule integrierte, sondern eine gymnasiale Oberstufe erhielt. Ansonsten war das Jahr nicht nur Silvester ein Knaller und nicht erst zu Weihnachten eine Bescherung. Ein trauriges Ereignis jagte das andere. Die Böller erschienen mir zahlreicher und lauter, die Raketen bunter zu sein als in den vergangenen Jahren, als wollten die Bürger das verflossene Jahr abhaken oder es sich aus dem Kopf böllern.
Ich gehöre nicht zu der Gruppe der „rationalen Optimisten“, die es wohl tatsächlich gibt, aber ich hatte das Bedürfnis, das neue Jahr in der Schule mit positiven Fakten zu beginnen. Wir hatten über die Feiertage bewusst auf den Fernseher verzichtet, um nicht immer und immer wieder das Elend der Welt ansehen zu müssen. Es wird nicht besser, wenn man es ständig liest und hört. Einem vermutlich Pegida-infizierten Kollegen schrieb ich in einer Mail, ich wünschte, wir hätten mehr Zeit und Ruhe für Gespräche. Unsere Schüler, Kinder oder Jugendliche, hätten grundsätzlich das Recht auf eine unbeschwerte Gegenwart. Ich fände es immer entsetzlich, wenn Flüchtlinge vor der Kamera ihre schlimmen Erlebnisse schilderten und die Kinder auf dem Arm oder neben sich hätten. Die seien schon traumatisiert und müssten das ganze Elend immer wieder anhören.
Wir Lehrer müssten auch ausgleichend wirken. Wir könnten die Gegenwart nicht besser machen, als sie sei, aber nur die negativen Ereignisse zu schildern könne nicht unsere Aufgabe und unser Ziel sein. Leider greife die Presse oft nur Sensationsmeldungen auf, und die seien eben oft negativ.
Es sei wie im Chemieunterricht: Wenn der Lehrer das Molekül erkläre, gähnten alle, aber wenn es knalle und zische und stinke, seien alle wach.
In einer Präsentation ging ich am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien auf viele positive Aspekte des vergangenen Jahres ein. Es bestand nicht nur aus Krieg, Gewalt, Flucht, Attentaten, Mord und Totschlag. Ich wollte positiv denken und den Schülern eine positive Grundstimmung vermitteln. Auf der Weltklima-Konferenz am 12. Dezember trafen sich in Paris 195 Staaten, Gespräche wurden geführt, Vereinbarungen getroffen, ein Vertrag geschlossen. Sogar Indien und China nahmen daran teil. Von den 7,28 Milliarden Menschen, mit denen die Erde nahezu überbevölkert war, hatte sich der Anteil der extrem Armen angeblich entscheidend verringert, er lag unter 10 %. Ein pflanzliches Malaria-Mittel wurde von der Medizin-Nobelpreis-Trägerin, der Chinesin Tu JuJu gefunden, Impfprogramme neu aufgelegt oder fortgesetzt, der Sieg über die Ebola-Epidemie in Afrika errungen, bei den Masern ein Rückgang der Kindersterblichkeit um 79 Prozent erreicht, Polio, also die Kinderlähmung, so gut wie ausgerottet. Die Alphabetisierung in Afrika hatte eine Quote zwischen 81 und 95 Prozent erreicht. Fast 80 Prozent mehr Elektrizität und 80 Prozent mehr Mädchen in den Grundschulen waren doch ein positives Ergebnis der internationalen Bemühungen. Das 20. Jahrhundert hatte blutige Kolonialkriege, Bürgerkriege, zwei Weltkriege, den Koreakrieg, Vietnamkrieg, Nahost-Kriege. Trotzdem gab es insgesamt weniger Kriegstote – trotz der Konflikte im Irak, in Syrien, Ägypten, Libyen, in der Ukraine. Deutschland konnte sich über 70 Jahre Frieden freuen, Europa über die Einigung, den seit 2001 geltenden Euro, das Schengen-Abkommen – keine Grenzkontrollen mehr für EU-Bürger. Die Arbeitslosigkeit befand sich auf einem Tiefstand, auch in unserem kleinen Kreisgebiet, der Mindestlohn war Erfolgspolitik, wir verzeichneten fast Vollbeschäftigung, nicht zuletzt durch die Flüchtlingsbetreuung, die auch in unserem Städtchen etliche Stellen geschaffen hatte. Last but not least war Bundeskanzlerin Angela Merkel – „Yasssss Mom!!!!!!! Merkel kween!“ (Jezebel) – als die erste Frau seit 1986 zur Person des Jahres gekürt worden. Ich wünschte den Schülern unter dem Motto „Wir schaffen das!“ ein gutes Halbjahres-Zeugnis, den Verzicht auf nächtliches Zocken, Enthaltsamkeit beim Alkoholkonsum, Miteinander statt Mobbing, Fröhlichkeit und Humor. Ich wollte nicht als „besorgter Bürger“ angeworben werden. Ich machte mir ständig Sorgen, aber Politik durfte in Deutschland nie wieder auf der Straße gemacht werden.
Niemand flüsterte mir zu: „Dein Wort in Gottes Ohr!“ Ich würde ihn auch nicht hören, denn ich war inzwischen auf Hörhilfen angewiesen und verstand nur noch klare Ansagen ohne Probleme.
Kap. 22 in Teil 4
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