Schein und Sein – Im Elfenbeinturm

Hyperion Teil 3

Wer baute das siebentorige Theben? Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Wohin gingen die Maurer, als sie die Chinesische Mauer fertiggestellt hatten? Hatte Cäsar einen Koch bei sich, als er die Gallier besiegte?

In Bertolt Brechts berühmtem Gedicht aus dem Jahre 1935 stellt ein lesender Arbeiter Fragen.

Wir könnten also fragen: Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen wahr, die um ihn herum dafür sorgten, dass er in seinem Elfenbeinturm sitzen und erhabene Literatur produzieren konnte?

 

Die Familie Gontard und ihre Angestellten kamen aus der glänzenden Residenz Kassel und fühlten sich plötzlich „in eine urweltliche Umgebung versetzt“. Vor allem die schlechten Straßenverhältnisse werden erwähnt: die kahlen Berge, „schmutzige, unbeschreiblich ärmliche Dörfer und noch schmutzigere, ärmlichere holperige Wege“. Hölderlin sieht „Hütten, wo der fromme Landmann schlief“.

Der Kutscher saß bei Wind und Wetter auf einem der Pferde oder stand zeitweise auf der Deichsel und schwang die Peitsche. Er ist dem Dichter keine Zeile wert.

 

Nahm Hölderlin die arbeitenden Menschen in Driburg wahr, als er 1796 mit der Familie Gontard in unsere Stadt kam? Zunächst nahm er nur seine geliebte Diotima wahr, an zweiter Stelle schwärmte er von der Natur, und an dritter Stelle galt sein Interesse der Legende der Varusschlacht. Er stellte sich „Legionen erschlagener Krieger“ vor, die „mit ihrem Blut die Erde färbten“.

„In unserem Bade lebten wir sehr still.“

Der Bankier Gontard sollte ja auch möglichst unwissend bleiben.

Den erhabenen Dichter beeindruckte nicht die menschliche, sondern die landschaftliche Umgebung. Er wanderte nach Herste, von wo der Sauerbrunnen kam, der „Brunnengeist“, das Mineralwasser, das er mit Wein und Zucker genoss. Er besuchte das Glasmacherdorf Siebenstern, sah eine Schmiede in Neuenbeken. Aber wenn seine Diotima bei ihm war, flirrten die Hormone. Da war er ganz Hyperion.

Wer servierte ihm das Wasser, den Wein und den Zucker, wenn er durstig von der Wanderung zurückkehrte?

 

Rund 60 bis 80 Kurgäste, darunter Träger bekannter Namen, hielten sich im August 1796 im Bad auf. Die Stadt konnte „wegen der Ackerwirthschaft seiner meisten Bewohner nichts zur Erheiterung der Badegäste beitragen“, schreibt der Brunnenarzt Wilhelm Ficker.

Immerhin spielten bis in den Abend hinein die „böhmischen Musikanten“. Auf der „Liebhaberbühne“ des Kurhauses wurden Komödien aufgeführt, allerdings durch Kurgäste selbst. Es gab einen Raum zum Billardspielen.

Nicht so heiter war natürlich das Wecken morgens um fünf Uhr, wenn die „Dienstboten“ für die Badegäste Wasser pumpten und in den Badewannen verteilten. „Stubenmädchen“ eilten durchs Haus, über Dielen, Galerien, Promenaden, durch Säle und Säulengänge. Sie bereiteten das Frühstück vor.

Das Brunnentrinken und verschiedene Anwendungen füllten den Vormittag aus. Hölderlins Magen soll das Driburger Wasser sehr gut bekommen sein. Vielleicht saß er dann mit Diotima im Pavillon auf dem Rosenberg und schwärmte von Hermann dem Cherusker. Im besten Fall schwärmte sie zurück. Dann konnten sie sich auf das Mittagessen freuen: sechs Hauptschüsseln, drei Sorten Fleisch, etwa Wildbret, Geflügel, Forellen, Krebse, und Kuchen zum Nachtisch. Auch in seinem „sehr anständig“ möblierten und tapezierten Zimmer konnte Hölderlin sich bedienen lassen. Als Hauslehrer und Hofmeister durfte er aber auch „an gemeinsamer Tafel ohne Berücksichtigung von Rangunterschieden“ speisen.

Wer lieferte die Zutaten? Wer bereitete in der Küche die Speisen zu? Wer deckte die Tische? Wer spülte in der Küche?

 

Hölderlin könnte den Besitzer des Bades, den Freiherrn Kaspar Heinrich von Sierstorpff, kennengelernt haben. Er, anfangs begeistert von der Französischen Revolution und von der Republik träumend, erwähnt ihn nicht. Eine andere Quelle beschreibt die „Masse der Emigranten, die damals Westfalen überschwemmten und deren Gehaben er [Sierstorpff] so aus nächster Nähe beobachten konnte“. Von ihnen hatte der Freiherr „keine günstige Meinung“, während seine Frau sich „ihrer warmherzig annahm“.

Der Hausherr „ließ die alten, verwahrlosten Einrichtungen erneuern, Brunnenhaus und Kursaal errichten, die Umgebung durch Anlagen, wie den vorher kahlen Rosenberg, verschönern und verstand auf diese Weise das Ansehen des Bades […] zu heben“.

 

Wer erneuerte die Einrichtungen? Wer baute das Brunnenhaus? Wer pflegte die Anlagen?

Die Bürgerinnen und Bürger Driburgs spielen 1796 in der erhabenen Literatur keine Rolle. Arbeiter hatten in der Regel auch keine Zeit zum Lesen.

Literatur-Empfehlung:

Beatrix Langner: Übermächtiges Glück, Insel-Taschenbuch 2020

Erich Hock: „Dort drüben in Westphalen“, Metzler 1949/1995

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 2

Im ersten Teil ging es um Diotima, die zur Dichtung gewordene Geliebte Friedrich Hölderlins, die ihm kein Glück brachte. Ein Menschenfreund wurde der Dichter nicht, und auch der Staat bekommt in seinem Briefroman sein Fett ab und weg.

„Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen.

Aber was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden dürre liegt? Da hilft der Regen vom Himmel allein. O Regen vom Himmel! o Begeisterung! Du wirst den Frühling der Völker uns wiederbringen. Dich kann der Staat nicht hergebieten.“

 

Wenn man den Grad der Erhabenheit an der Anzahl des pathetischen „O“ in Friedrich Hölderlins „Hyperion“ misst, erreicht er große Höhen.

Erhaben ist zuerst die Kunst, das erste Kind göttlicher Schönheit, jedenfalls bei den Athenern.

Das zweite ist die Religion als Liebe der Schönheit, unendlich und allumfassend. „Ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürr Gerippe ohne Leben und Geist.“

 

Friedrich Wilhelm Weber ist ein religiöser Mensch. Des Himmels Huld ist sein Schirm, er lässt die Engel Gottes auch durch niedere Türen ein und aus gehen. „Dir dank ich, Gott, für jede Gabe.“

Hölderlin lässt seinen Hyperion sagen, dass er die Götter und die Menschen nicht mehr braucht. „Ich weiß, der Himmel ist ausgestorben, entvölkert, und die Erde, die einst überfloß von schönem menschlichen Leben, ist fast, wie ein Ameisenhaufe, geworden.“

Hyperion will nicht mehr zu friedenslustig, zu himmlisch, zu träge sein, er zieht in den Kampf. „Gerechter Krieg macht jede Seele lebendig.“

Hyperion schwärmt in einem Brief an Diotima von künftigen Vaterlandsfesten. Er geht heiter in den Kampf. Das kommt einigen von uns sicher bekannt vor.

Dann kommt es, wie es kommen muss. Hyperion schwärmt nicht mehr, er jammert. „O meine Diotima, hätte ich damals gedacht, wohin das kommen sollte? Es ist aus, Diotima! Es ist des Unheils zu viel.“

Auch seine Liebesgeschichte endet tragisch, Diotima stirbt einen schönen Tod. Ruhelos reist er durch Europa und:

„So kam ich unter die Deutschen.“

Hölderlin teilt als Hyperion aus, verbreitet seine Wut über die Landsleute, die seine Dichtergröße nicht anerkennen. Er bezeichnet die Deutschen als Barbaren, unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark, beleidigend für jede gutgeartete Seele.

 

Da will man doch gleich wieder zu Webers Gedichten greifen! Der fand „Ein Tal und Herzen, treu wie Gold. – Ein Städtchen dann im trauten Heimatland!“

 

Hyperion schwärmt nicht mehr, er ätzt, er verteilt Gift, als müsste er böse Kommentare in unseren „sozialen“ Medien schreiben.

 

„Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“

 

Friedrich Wilhelm Webers Welt ist auch nicht nur idyllisch. Als Arzt hat er manches bittere Schicksal, Krankheit und Tod kennengelernt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb bleibt er bescheiden und positiv.

„So zog ich aus zum fernen Ziele / Getrosten Muts bergab, bergan: / Es gibt der Täler ja so viele, / Wo man sein Hüttchen bauen kann.“

 

Und Beethoven, der erhabene Meister der Töne, der bei uns mit Hölderlin verkuppelt wurde? Der mit seiner Taubheit haderte? Er hat uns unter anderem eine Hymne hinterlassen mit Worten aus Schillers Ode an die Freude, die jeder auswendig kennt: „Alle Menschen werden Brüder.“

Hölderlin statt Weber

Schein und Sein – Die Suche nach Erhabenheit

Hölderlins Hyperion Teil 1

Es hat mehrere Ansätze gegeben, dem kleinen Städtchen Driburg am Osthang des Egge-Gebirges ein Flair zu verleihen, das es als etwas Besonderes erscheinen lässt, es über andere Orte erhebt. Heute nennt man es auch Alleinstellungsmerkmal. Mit dem Nationalpark hat es nicht geklappt.

Die Bemühungen der Familie von Sierstorpff, später von Oeynhausen-Sierstorpff, um den Ausbau der Kuranlagen gehörte eindeutig dazu. Die Einwohner der Stadt kamen nicht immer hinterher, bisweilen verharrten sie sogar in einer ablehnenden Haltung.

Als Driburg sich Bad Driburg nennen durfte, gefiel es fast allen, kurz nach einem verlorenen Krieg. Das Flair ließ noch auf sich warten. Nach dem zweiten großen Krieg war es noch schwieriger, weil auch der Kurbetrieb gelitten hatte.

Friedrich Wilhelm Weber gab der Stadt lange das Gefühl der Erhabenheit. Seine Büste findet man im Kurpark, seit 1934. Als Arzt nutzte er den Bürgern persönlich, als Politiker vertrat er sie unauffällig im fernen Preußischen Landtag in Berlin, und als Dichter rührte er ihr Herz. Die folgenden Generationen konnten gar nicht oft genug seine Verse zitieren: „Wonnig ist’s, in Frühlingstagen / Nach dem Wanderstab zu greifen / Und, den Blumenstrauß am Hute, / Gottes Garten zu durchschweifen.“ Man definierte ihn fast ausschließlich über sein Epos „Dreizehnlinden“.

Im Nationalsozialismus konnte man ihn leicht für völkisch-nationalistische Erzählungen missbrauchen. Er konnte sich nicht wehren.

Nun ist er aus der Mode gekommen.

An seine Stelle ist, auf Initiative von Annabelle Gräfin von Oeynhausen-Sierstorpff, Friedrich Hölderlin getreten. Zuletzt stellte man ihn an die Seite Ludwig van Beethovens, den er zwar nie kennenlernte, mit dem er aber dasselbe Geburtsjahr teilte. Beethovens Erhabenheit zweifelt niemand an.

Welcher Driburger könnte aber spontan einen Vers von Hölderlin aufsagen?

„Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings / Aufgegangen das Tal, wenn … Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume / Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft.“ Zu schwer.

Einfache Kost ist auch „Hyperion“ nicht. Webers Dreizehnlinden-Kloster kann man immerhin in unserer Region verorten. Hyperion schwärmt im fernen Griechenland, etwa von den geselligen Städtern in Smyrna. Sicher hätte er sie auch in unserem Badeort gefunden, wenn er es versucht hätte. Er will sich den Sitten und Gebräuchen der Bewohner anpassen, findet aber unter ihnen nicht genug Kraft und Geist.

„Es war mir wirklich hie und da, als hätte sich die Menschennatur in die Mannigfaltigkeiten des Tierreichs aufgelöst, wenn ich umher ging unter diesen Gebildeten. Wie überall, so waren auch hier die Männer besonders verwahrlost und verwest.“

Geistesschönheit und Jugend des Herzens vermisst er.

„Sahn jene Menschen einen Funken Vernunft, so kehrten sie, wie Diebe, den Rücken.“

Da möchte man doch lieber wieder Webers Idylle sehen: „Das ist dort hinter den Weiden, / das Dörfchen treu und gut, / Der einzige Winkel der Erde, / wo meine Seele ruht.“

Hölderlin hätte mehr als drei Wochen in Driburg bleiben sollen. Er hätte in Webers Dörfchen, Alhausen, sein pessimistisches Welt- und Menschenbild ändern sollen. „Komm! ins Offene, Freund!“ schreibt er doch zu seinem Gang aufs Land. Er hätte zur Iburg wandern sollen, wo er dem Himmel näher gewesen wäre. Stattdessen zieht er sich zurück. „Weder die Berge sind noch aufgegangen / des Waldes Gipfel nach Wunsch.“

„Ich war es endlich müde, mich wegzuwerfen, Trauben zu suchen in der Wüste und Blumen über dem Eisfeld.“

Weber begegnet den Widrigkeiten des Lebens pragmatischer, und wenn es hart wird, sucht er Trost im Glauben. Hölderlin fehlt solch ein Anker.

„Pathos, Schönheitssinn, Erhabenheit besitzen ja heute keine große Konjunktur mehr“, sagt ein Hölderlin-Experte. Vielleicht hat er unrecht.

Ostwestfälische Fröhlichkeit oder: Weber in der Bütt? „Jetzt war, vom Weine feucht, die Zunge los!“

Natürlich ist die Szene urkomisch, die unser Lokaldichter Friedrich Wilhelm Weber im Vorspann seines „Goliath“ schildert. Eine kleine Runde sitzt am Tisch der Gastgeberin, man ist beim Nachtisch angekommen. Die Dame des Hauses gibt dem Diener Friedrich einen Wink, das Dessert aufzutragen. Der aber, „ein frommes Blut vom Lande“, versteht ihre Aufforderung falsch und bringt die Küchenlampe. Bevor die Situation peinlich wird, brechen alle Gäste in fröhliches Gelächter aus.

Die Geschichte von Olaf, der wegen seiner Größe und Stärke Goliath genannt wird, ist nicht sehr fröhlich. Er arbeitet für zwei auf dem Hof des Bauern Knut, der sprichwörtlich zum Lachen in den Keller geht. Als der ihn vom Hof jagt, weil er es gewagt hat, seiner Tochter schöne Augen zu machen, erlebt Olaf nur noch die Natur als Freudenfest, den Bach und den Wind, die lustigen Bergkobolde. Auf dem Hof verlernt jedermann „Lied und Lachen“.

Der Dichter greift eine nordische Sage auf und beschreibt, wie Gott den Riesen Fäl straft, weil er am Karfreitag „in frechem Übermut zum Tanze pfiff, so wild und stürmisch, dass die Mädchen jauchzten“. Alle erstarren zu schwarzem Stein!

Da kann man nur hoffen, dass die Sachsen am Fuß der Iburg in Webers „Dreizehnlinden“ besser wegkommen. Immerhin greifen sie in Frühlingstagen wonnig nach dem Wanderstab, stecken sich einen Blumenstrauß an den Hut und ziehen nach dem langen Winter singend durch das Tal. Aber dann liest man von ihren Kämpfen mit dem „Landesfeind“, von einer weinenden Jungfrau, von rachelüsternen alten Frauen, die einem Mann an den Bart gehen, vom „Helden“, dem zähen, herben, ehrlichen Westfalen. Da könnte man schmunzeln, wenn nicht gleich der Uhu dazwischenginge: „Lass das Klimpern, lass das Leiern!“

Himmel, ist denn das Leben nur ernst und „Moloch unserer Tage“? Auf die Sachsen folgen die freudlosen Franken und dann auch noch die Preußen? Können bei Weber nur die Brunnen lustig hüpfen? Ora et labora?

Die sturen Heiden feiern „auf der Iburg stumpfem Kegel“ die Sonnenwende, essen und trinken, die Angst vor den Franken im Nacken.

In Webers Kloster nach Büttenreden zu suchen ist aussichtslos. Die Mönche brauen jedoch auch. Der Küchenmeister verwertet Kiebitzeier und sorgt für „Fastenspeise! Zwar genießbar / Ist die Welt in manchen Stücken, / Und mir deucht, zum Osterfeste / Gibt es einen Hirschkalbsrücken“. Die Brüder singen, aber nur zu Gottes Preis und Ehre.

Auf Webers Habichtshof geht es ähnlich humorlos zu. Die Sachsen brauen Met und zechen tapfer, bei Tisch gehen sie mit dem Trinkhorn bescheiden um, der Bischof von Paderborn und Kaiser Karl sitzen ihnen im Nacken. Im Herbst feiern sie das Erntefest, singen Stoppellieder. Wer getauft ist, fühlt sich stark und verspottet die Ungläubigen. Die Musikanten spielen auf. „Brauner Met, ihr wackern Leute, / Harrt auf euch in vollen Krügen; / Trinkt und esst und dann im Tanze / Lasst die Mädchenzöpfe fliegen.“ Das Volk sitzt auf der Tenne und lässt sich Kraut und Schinken schmecken. „Iss und schweig!“ Die Franken hören mit.

Damit die Füße beim Tanzen besser gleiten, hat man Wacholdernadeln auf den Boden gestreut. Die holden Frauen sitzen an der Seite und etwas höher als die Männer. Das Methorn macht die Runde. Kostbarer Riesling wird eingeschenkt, auch die Damen dürfen mit anstoßen. Wie es dann leider oft kommt, kommt es zum Streit. Gero und Elmar kabbeln sich, die Lage eskaliert. Die Feier ist vorbei, Frieden und Frohsinn sind fortgeflogen.

 

Zum Glück sind dies alles alte Geschichten. Auf der Iburg stumpfem Kegel wird nicht mehr gefeiert. Driburger trinken keinen Met, kein fermentiertes Drachenblut, allenfalls als Medizin. Driburgerinnen tragen keine Zöpfe, dagegen fast alle Männer Bärte. Kein Kaiser treibt mehr einen Zins und Zehnten ein, da fällt ein guter Grund zum Zechen weg. Vor den Franken muss sich niemand mehr hüten. Der Erzbischof ist in Rente gegangen. Es könnte allerdings sein, dass er Pastor Lauschus beauftragt hat, in die Bütt zu gehen und von dort ein wenig auf die Schäfchen zu achten. Helden- und Kampfgesänge sind verstummt. Getanzt wird einträchtig nach frommen Klängen wie „La-la-la-Layla“. Alkoholfreies Bier ist der Renner. Helau!

Weber-Rezeption in Bad Driburg

„Weit entfernt ist der Realist Weber von schwärmerischer Heimattümelei.“ (W. Freund)

Im Jahrbuch der Weber-Gesellschaft von 1987 schrieb Johannes Heinemann: „Webers literarisches Werk ist von der Fachwelt sehr unterschiedlich beurteilt worden. Neben hohem Lob steht die völlige Ablehnung.“ (S. 16) Leider nennt Heinemann keine Quellen für das zweite.

Im gleichen Band fragt Winfried Freund, „ob nicht gerade das intime Geschehen des ‚Goliath‘ in unserer Zeit wieder größere Anteilnahme hervorrufen könnte“, und setzt das Werk von „Dreizehnlinden“ ab (S. 31). „Intim“ würde man heute im Jahre 2021 anders verstehen, als Freund es verstand. Der „Goliath“ ist persönlicher, realistischer, ohne Mystik, ohne ideologische oder religiöse Überhöhung. Er enthält eine tragische Liebesgeschichte, bei der moderne Leser heute ruhig den Kopf schütteln können. Aber wer regelmäßig im Ersten die „Tatort“-Folgen genießt, wird auch den „Goliath“ nicht mit rein objektiven Maßstäben messen.

Freund urteilt 1987 auch, dass es der „Goliath“ verdiene, „über die regionalen Grenzen hinaus bekannt zu werden“ (32). Sein Urteil scheint in Bad Driburg nicht wahrgenommen worden zu sein. Als Hermann Sömer † mich bat, eine Lesung im Weberhaus in Alhausen zu gestalten, gefiel es ihm gar nicht, als ich ihm statt „Dreizehnlinden“ den „Goliath“ anbot. Sömer hatte gerade stolz den neuesten Film über Weber der Öffentlichkeit vorgestellt und auch darin die Geschichte von Elmar und Hildegunde in den Mittelpunkt gerückt. Damit war die Möglichkeit vertan, die modernere, zeitgemäßere Seite des Lokaldichters zu zeigen. Das nationale Pathos des 19. Jahrhunderts, das im Nationalismus des 20. Jahrhunderts mündete, ist im 21. Jahrhundert endgültig aus der Zeit gefallen. Die weiter abnehmende Frömmigkeit, die von Weber erkannte und beklagte zunehmende Säkularisierung, gegenwärtig verbunden mit Kirchenaustritten bei den beiden führenden Konfessionen, lässt die literarische Auseinandersetzung mit der längst vergangenen Epoche der Anfänge des Christentums überflüssig erscheinen.

Die Themen des „Goliath“ sind, wie Winfried Freund erläutert, allgemeinmenschliche, zeitlose, und daher – leider – immer noch aktuell. Der Leser erlebt die heile Welt einer heilen Familie mit idealen, liebenden Eltern und einem liebenden Kind, in die plötzlich der Tod in Form eines Erdbebens einbricht. Die Idylle wird zerstört. Der Leser erfährt die Kehrseite des Ideals: Ein tyrannischer, reicher Bauer herrscht über seine Familie und seine Arbeiter und verharrt in autoritären Strukturen. Auch in seine Familie dringen Katastrophen, die er nicht verhindern kann. Er betäubt seinen Ärger und seine Hilflosigkeit mit Alkohol. Das ist ein Thema, das auch für heutige Familien durchaus Bedeutung haben kann.

Moderne Eltern nehmen auf die Partnerwahl ihrer Kinder in der Regel nur wenig Einfluss. Insofern ist der Gehorsam der Tochter, die auf den geliebten Mann und daraufhin jede andere Partnerwahl verzichtet, heute nicht mehr nachzuvollziehen. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Jedenfalls gilt dies in verfassungsmäßiger, rechtlicher Hinsicht. Die Realität kann davon abweichen.

„Geld macht nicht glücklich.“ Dieser Spruch wird in einer Gesellschaft gern ironisiert, die im Vergleich zu früheren Jahrhunderten über großen allgemeinen Wohlstand verfügt. „Kein Geld macht auch nicht glücklich“, heißt der Gegenspruch, oder „Geld allein macht nicht glücklich, aber es kann beruhigen“. Ein Ideal wäre auch heute, reich und gleichzeitig glücklich, also den gewünschten Partner zu heiraten. In den meisten Fällen möchten Eltern ihre Kinder glücklich sehen.

Von unserer Gleichberechtigung war Webers Zeit weit entfernt, aber dass er einen Begriff von partnerschaftlicher Liebe hat, ist zu seiner Zeit beachtlich. Mag sein, dass die Eltern und besonders die Mutter hier Einfluss genommen haben, und Weber hat es im hohen Alter noch verinnerlicht.

Manchmal erreichen Eltern, wenn sie die Partnerwahl ihrer Tochter oder ihres Sohnes ablehnen, gerade das Gegenteil des Gewünschten. Kluge Eltern unserer Zeit wissen das und halten sich entsprechend zurück.

Ein behindert geborenes Kind ist auch heute noch für die Eltern und die Familie problematisch, während der Lebenszeit Webers und bis ins 20. Jahrhundert hinein war es ein tragisches Schicksal. An die Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten kann in diesem Fall ebenso erinnert werden. Im „Goliath“ verstärkt die Geburt des „schwachsinnigen“ Erik die Verzweiflung und den Alkoholismus des Vaters, der gern einen gesunden männlichen Erben hätte. Aus unserer heutigen Sicht mit unserem Bemühen um Inklusion und Teilhabe ist sein Verhalten inakzeptabel, aber eine solche Reaktion ist auch heute noch möglich. Weber verurteilt den Vater nicht, aber er führt dem Leser vor Augen, wie jemand verbittert, der sich mit seinem Schicksal nicht abfindet und seine Umgebung darunter leiden lässt. Als behandelndem Arzt ist Weber dieses Thema in den Familien sicher häufiger begegnet.

 

Liebesgeschichten kann man unter der Rubrik Romantik und Kitsch abtun, aber sie sind nach wie vor Standard in unserer Belletristik. Auch ein Blick auf die Fernsehprogramme zeigt, dass weiterhin reges Interesse an ihnen besteht. Daher ist auch die Liebesgeschichte zwischen Olaf, dem armen Goliath, und Margit, der reichen Bauerntochter, in all ihrer Klischeehaftigkeit noch längst nicht aus der Zeit gefallen. „Unter seinem Stand“ zu heiraten ist allerdings kein Thema mehr, die meisten dieser Geschichten haben in der entsprechenden Literatur einen glücklichen Ausgang, ein Happyend. Bei Weber fehlen allerdings die inzwischen gelockerten Normen, im „Goliath“ geht es hochmoralisch zu. Olaf erlaubt sich nicht mehr, als Margits Hand zu ergreifen. Was an dem einzigen Tag in all den späteren Jahren geschieht, wenn Margit Olaf in seiner Klause in der norwegischen Bergeinsamkeit besucht, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. „Ihr Mund hat niemals meinen Mund berührt“, betont Olaf, der „Goliath“.

Margit und Olaf reagieren auf die gleiche Art, sie verzichten auf die Ehe und Familie und versuchen mit dem Alltag, der vor allem aus Arbeit besteht, zurechtzukommen. Die jungen Menschen heute können dafür Verständnis entwickeln, auch wenn ihre Zukunftspläne und -aussichten sich davon grundlegend unterscheiden. Aussteiger kommen auch in unserer leistungsorientierten, materialistischen und kapitalistischen Gesellschaft noch vor.

Der Traum vom ewigen Bestand der Liebe zweier Menschen zueinander ist altmodisch, aber dauerhaft. Winfried Freund überhöht bei seiner Erklärung der dichterischen Rührseligkeit den moralischen, didaktischen Aspekt. Ausdrücke wie die Versagung, der heroische, sittliche Willen, der sittlich wollende Mensch, die Brandung widriger Umstände und sieghafte Selbstbehauptung der Persönlichkeit (S. 40) kann man vor allem der jungen Generation der Gegenwart nicht mehr vermitteln, auch nicht den Bezug zum biblischen Sündenfall. Entscheidend für die Verurteilung und Versenkung oder die erfolgreiche Entstaubung des Dichters und seines Werkes wird sein, wie wir sprachlich mit ihm umgehen.

Der bis zum Überdruss wiederkehrende Hinweis auf Weber als Dichter des Dreizehnlinden-Epos verdeckt auch eine Würdigung seiner Balladen. Winfried Freund ordnet ihre „Blüte“ der Phase des Realismus zu, „weil es in situativ konkreter Zuspitzung die Darbietung elementarer Konflikte und exemplarischen Verhaltens aus objektiver Distanz ermöglichte“ (S. 47). Ein „populärer“ Dichter darf dem Populus auf diese Weise nicht angeboten werden. Literatur- und sprachwissenschaftliche Analysen und Interpretationen kommen in der Regel beim „Volk“ nicht an, weil sie – zu Recht – in eben diesen speziellen Regalen abgelegt werden.

Das ist schade. Die Erzählung vom Handschuh, die Weber dem Pömbser Pfarrer Gerhard Lödige zuschreibt, könnte im positivsten Sinn nicht volkstümlicher sein. Schillers „Handschuh“-Ballade mit dem Tiger, der den Leu scheu umgeht, ist sprachlich nicht moderner und inhaltlich nicht aktueller.  Nichts spricht dagegen, einige Balladen Webers in Bad Driburger Schulen „exemplarisch“ zum Unterrichtsstoff zu machen. Die Pömbser würden sich freuen, vor allem die in der Gerhard-Lödige-Straße wohnenden.

Dazu müssten die Lehrerinnen und Lehrer die Balladen aber kennen. Wenn sie schon beim Dreizehnlinden-Epos die Achseln zucken, weil man ihnen nur damit kommt, werden sie auch die anderen Dichtungen kaum anschauen. Winfried Freund schreibt 1987 über den „Handschuh“: „Keine großen Worte fallen, kein spektakulärer Fall wird hier mit balladischem Pomp inszeniert.“ (S. 48). Das ist geradezu eine Einladung zu einem neuen Bild von Weber, dem diese Schlichtheit auch gerecht wird.

Absolutistische Härte kann man an der Ballade „Der Wildschütz“ nachvollziehen. Webers „König Jerôme“ und Heinrich Heines „Romanzero“ eignen sich zum Vergleich.

Über einen „Zwischen Halde und Heerweg“ erfrorenen Obdachlosen dürften auch heutige Jugendliche in den Schulen nicht achtlos hinwegsehen.

Im Jahr 2019 erschien von Christian Neef das Buch „Der Trompeter von Sankt Petersburg: Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“, in dem er u.a. den Tod des Trompeters Oskar Böhme dokumentiert. Webers Ballade „Zwei Trompeter“ könnte in diesen Zusammenhang gestellt werden und einen Beitrag zur Friedenserziehung leisten.

Joseph Victor von Scheffel und sein „Trompeter von Säckingen“ sind in die Stadtgeschichte eingebunden, der Dichter wird in einer eigenen Website dargestellt und vermarktet. Säckingen hat 4000 Einwohner weniger als Bad Driburg. Die Liebesgeschichte des Trompeters erinnert an die von Olaf und Margit. Von Scheffel wurde nach Weber geboren und starb vor ihm. Auch von ihm gibt es Prachtausgaben.

Natürlich ist beim Einsatz im Unterricht der Einsatz der Lehrkräfte gefragt, denn fertige Interpretationen gibt es nicht.

„Webers Balladendichtung kann den Zugang zu seinem Gesamtwerk neu eröffnen“, schreibt Freund (S. 61). Ohne die Deutschlehrerinnen und -lehrer wird dies kaum gelingen. Da hilft kein Kräutergarten hinter Webers Geburtshaus in Alhausen.

Das nationale und religiöse Pathos von „Dreizehnlinden“ kann man mitsamt dem Stempel und der altertümlichen Sprache getrost in die Schublade mit dem Schild „Ablage“ geben. Dort gehört auch der Stempel „Heimatdichtung“ hin. Dann wird auch ein Nachdenken über die Anteile an diesem Dichter in Bad Driburg, Thienhausen und Nieheim beendet werden können. Winfried Freund betont zu Recht, dass Weber von Heimattümelei weit entfernt sei (S. 50).

Er gibt den Bad Driburgern für den Umgang mit ihrem Lokaldichter – vielleicht unbewusst – Arbeitsanweisungen: „Illusion ist es zu glauben, sich vor den Geschichtsabläufen in der heimatlichen Enge abkapseln zu können“ (S. 53). Immer wieder den Beginn von Dreizehnlinden („Wonnig ist’s in Frühlingstagen“) zu zitieren stellt diese Enge dar. Aus einem Tal kommt man leicht wieder heraus, es ist nicht eingemauert.

Sachlich korrekt müssen die Angaben in jedem Fall sein. Wenn die jetzigen Besitzer des Schlosses Thienhausen auf ihrer Webseite behaupten, dass Weber, „Leibarzt“ von August von Haxthausen, bis zu seinem Tod in Thienhausen gewohnt hat, hätte ein Blick in das einschlägige Online-Lexikon sie eines Besseren belehrt. „Dieser verbrachte auf Thienhausen die letzten Jahre seines Lebens (gestorben 1894) und verfasste dort sein Versepos Dreizehnlinden, das von der Christianisierung unserer Region handelt. Das epische Werk erlebte hohe Auflagen und zählte in manchen Gegenden Deutschlands als obligatorische Schullektüre.“

Wer wie die „Schloss Thienhausen Event e.K.“ Weber auf diese nachlässige Weise mit Staub bedeckt, kann seine Erwähnung auch sein lassen.

Aber Bad Driburg hat nur diesen einen Dichter. Wir sollten ihn nicht wie ein altes Stück Seife in den Kulturbeutel stecken. Machen wir etwas Modernes daraus!

Friedrich Wilhelm Weber – ein genialer Dilettant?

Als ich 1977 nach Bad Driburg kam, hörte ich zum ersten Mal von einem Arzt, Politiker und Dichter namens Friedrich Wilhelm Weber. Ebenso unvorbereitet hatte mich die Änderung des Themas meiner Examensarbeit an der WWU Münster durch einen Prüfer aus Detmold getroffen. Ich wollte über die Rezeption von Gottfried Benn im Nationalsozialismus schreiben, der Prüfer ersetzte Benn durch Christian Dietrich Grabbe, den ich so wenig kannte wie Weber. Ich rümpfte über den Provinzialismus und Lokalpatriotismus ein wenig die Nase. Aus meinem Heimatkreis Diepholz war kein Lokaldichter hervorgegangen, nur Hermann Löns war mir von Zeit zu Zeit begegnet, vor allem seine Lieddichtung. Niemals hätte ich ihn in die Reihe künstlerisch wertvoller Literaten eingeordnet. Der Ruch des Nationalismus hing an ihm.

Die aufgelöste Realschule in Bad Driburg trug von 1970 bis 2018 den Namen des in Alhausen, dem heutigen Ortsteil von Bad Driburg geborenen Weber. Die Reihenfolge Arzt, Politiker und Dichter stammt von Johannes Heinemann und der Weber-Vereinigung – Vereinigung der Freunde des Dichters Friedrich Wilhelm Weber –, die 1995 in Friedrich-Wilhelm-Weber-Gesellschaft e.V. umbenannt wurde.

Bei Jubiläen dienten Teile des Werkes als Grundlage für Vorträge und Spielszenen auch mit Schülern. Die Weber-Gesellschaft blieb erstaunlich verborgen. Die Stadt unterstützte die Bemühungen, aus Webers Geburtshaus in Alhausen eine sehenswerte Gedenkstätte zu machen. Der Garten stand zuletzt im Mittelpunkt des Interesses. Zur 200-Jahr-Feier des Geburtstages 2013 konnte das Weber-Museum fein herausgeputzt präsentiert werden.

Die Stadt hatte den Lokaldichter abonniert. Es gab keinen anderen, wenn man von Hermann Fromme und einigen Gelegenheitsdichtungen absieht, die im Mitteilungsblatt abgedruckt waren.

Nach dem Tod des letzten Vorsitzenden Hermann Sömer 2018 und durch die Corona-Pandemie ist es sehr still um die Gedenkstätte und die Weber-Gesellschaft geworden.

Unter den Kolleginnen und Kollegen Germanisten gab es keine Diskussion über den Wert der Weberschen literarischen Erzeugnisse. Er galt in Bezug auf Inhalte und Sprache als verstaubt, provinziell, altbacken, nationalistisch und von daher indiskutabel. „Den kann man heute nicht mehr lesen!“ war die einhellige Meinung. Die Produktion von temporärem Lokalkolorit nahm man hin.

Propagiert wurde Weber als Dichter des Epos „Dreizehnlinden“, der die Überwindung des sächsischen Heidentums durch das fränkische Christentum besingt. Unermüdlich, aber nicht übermäßig überzeugend stellten Stadt und Weber-Gesellschaft ihn als Heimatdichter auf einen Sockel. Damit weckten  sie bei manchem literarisch Gebildeten unliebsame Assoziationen mit den Nationalisten und Nationalsozialisten. Das Bestreben, die ostwestfälische als westfälische Region darzustellen und Weber als westfälisch geprägte Persönlichkeit mit Vorbildcharakter, stieß bei jüngeren Menschen eher auf Abneigung. „Glaube, Sitte, Heimat“ als Motto auf den Balken der Schützenhäuser mochte man noch hinnehmen. Aber der strenggläubige Katholizismus, den man Weber unterstellte, war ebenso verdächtig wie der kitschige Heimatbegriff. Schriftsteller wollte man international, kosmopolitisch und allgemeingültig, also zeitlos wahrnehmen.

Die Schüler zwingt man heute nicht mehr zum Lesen, man motiviert sie. Schülerredakteure stellten ihre Sicht 1988 in einer Karikatur auf dem Titelblatt der Schulzeitung dar. „Hör auf zu dichten, Friedrich! Aus dir wird nie was!!!“, sagt ein unsympathisch gezeichneter Lehrer und schlägt dem schreibenden Jungen mit dem Lineal auf den Kopf. „Ist ja gut, ich bin doch schon lange tot!“ lautet die Bildunterschrift.

Die Büste Friedrich Wilhelm Webers wurde nicht zufällig 1934 im Kurpark aufgestellt. Nach der Verbrennung und Verbannung unliebsamer Bücher arbeiteten überall im „Dritten Reich“ Heimatbünde mit den Machthabern zusammen. Der Westfälische Heimatbund war bereits 1933 auf deren Linie geschwenkt.

„Bei den ‚Klassikern‘ der westfälischen Literatur (Droste, Weber, Freiligrath, Grabbe) wurde dagegen das ,Westfälische‘ krampfhaft herausdestilliert und verabsolutiert“, schreibt Walter Gödden (S. 6). Die Heimatbewegung lieferte die Schubladen mit genehmen Autoren, westfälischen vor allem. Der Westfälische Provinzialverband stiftete 1935 den Westfälischen Literaturpreis. Gödden beschreibt, wie die Beziehung zu Westfalen, die geforderte Heimattreue, dominant wurde. Gefördert wurden provinzielle Kulturpolitiker und Heimatdichtung, durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe auch noch nach 1945.

Hatten vor 1933 noch Religion und Moral die größere Rolle gespielt, war es danach die Kompatibilität mit nationalistischen Zielen.

In den katholischen Regionen Ostwestfalens, im Hochstift vor allem, spielte die volkstümliche Dichtung des Katholiken Weber – den Protestantismus des Vaters ausblendend – eine traditionell größere Rolle. Allerdings unterschieden die Akteure nicht mehr zwischen volkstümlich und volkstümelnd. „Man klammerte sich fast ängstlich an den Begriff des Westfälischen“, erklärt Gödden (S. 8). Indem man die Grenzen Westfalens in der Literatur nachzog, grenzte man die Literatur ein.

Auch Weber, der sich der Enge seines „Dörfchens treu und gut“ während seines Lebens immer mehr entzog, wurde genau auf diese Grenzen reduziert.

Zum Volkstümelnden kam das Deutschtümelnde. Ob Webers Literatur ästhetisch anspruchsvoll oder innovativ war, wurde nicht gefragt. Dass er sich in die Tiefen der germanischen und nordischen Literatur zurückzog, wurde als besonders inniges Geschichtsbewusstsein gedeutet. Der Kampf der (heidnischen) Sachsen gegen die (christianisierten) Franken wurde überhöht, dass aus guten Germanen gute Christen, aber vor allem gute Deutsche und gute Westfalen werden konnten, das begeisterte das Volk. Weber konnte sich nicht mehr wehren.

„Literatur wurde in diesem Kreis hauptsächlich unter nationalem Aspekt gesehen“, konstatiert Gödden (S. 11).

Webers Biograf Julius Schwering (1863 – 1941) war Literaturprofessor in Münster, Experte für deutsche Sprache und Literatur. Er sah die Universität als „westfälische Hochschule“, die von dem „alten Kulturboden“ abhängig war (Gödden S. 11). Diese hatte „westfälisches Geistesleben, insbesondere der heimatlichen Dichtung“, die Dichtung der „Roten Erde“ zu erforschen, als deren „Sohn“ er sich empfand.

Die Literaturforschung war völkisch-nationalsozialistisch, es tümelte: Volkstum, Schrifttum, Westfalentum, Deutschtum, Germanentum. Der Volks- und Stammescharakter zählte.

„Provinzielle und nationalsozialistische Literaturauffassung bewegten sich immer mehr auf einander zu“, schreibt Gödden (S. 12).

Wolfgang Rinschen beschreibt den Buchschmuck des „durchaus beachtlichen“ „NS-Künstlers“ Albert Reich für die Prachtausgabe von 1928 und die „eindrucksvollen Stimmungsbilder“. Reich idealisiere das rassistische Menschenbild des Unrechtstaates und lasse Elmar als kraftstrotzenden Helden, Hildegunde als tugendsame nordisch-arische Frau mit blonden Zöpfen auftreten. (52/53)

„Wer geboren ist im Gaue der alten Sachsen“ – so zitiert Rinschen Heinrich Deiters –, der lehnt heute diese Klischees ebenso ab wie der Zugezogene. Der Zwang zur Identifikation kann sich ins Gegenteil verkehren.

Webers Tochter biederte sich den Nazis an und unterstützte sie in Nieheim. Rinschen bezeichnet sie als „Hitlers beste Wahlkämpferin“ (65). Auch das erzeugt bei heutigen Demokraten eher Abneigung, auch wenn Existenzangst bei Elisabeth Weber das Motiv war. Ebenso unangenehm erscheint heute das Bemühen des Schöningh-Verlags nach 1933, mit Etiketten wie „urgermanisch“ neue Auflagen zu promoten. Es ist gut für die Rezeption, dass „Dreizehnlinden“ in der NS-Zeit aus den meisten schulischen Lehrplänen gestrichen wurde. Rinschen begründet dies: „Webers Ideale der Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Konfliktüberwindung stehen den nationalsozialistischen Erziehungszielen konträr gegenüber.“ (68)  

Ich halte in diesem Zusammenhang auch die religiöse Komponente für wichtig. Die Kirchen unterstützten das menschenfeindliche Regime nur bedingt, der Widerstand wurde mit der Judenverfolgung stärker. Driburger Straßennamen belegen, dass Geistliche, auch Bürger der Stadt, zu Opfern der Terrorherrschaft wurden: Pater Riepe, Eduard Müller, Dechant Wilhelm Becker. Die Christianisierung war für die Nazis kein Thema, sie brauchten Weber nicht.

Nach 1945 musste sich die Literaturwissenschaft mühsam wieder aus diesen engen Fesseln lösen. Als Clemens Heselhaus über die Frage „Was ist das eigentlich Westfälische an der westfälischen Literatur?“ referierte und den Begriff „westfälisch“ als irrelevant zerlegte, löste er einen Sturm der Entrüstung aus. Er behauptete: „Die Dichter aus Westfalen hätten keinerlei

Gemeinsamkeit, es gäbe [gebe] keine innerregionale Traditionsbildung, vielmehr hätten die Autoren jeder für sich geschrieben, seien eher geniale Dilettanten gewesen als Repräsentanten ein und derselben westfälischen Literaturschule. Auch sei Literatur in Westfalen immer die Sache einer kleinen Minderheit gewesen; weder bei Grabbe, Freiligrath, Friedrich Wilhelm Weber oder der Droste sei etwas spezifisch Westfälisches auszumachen, ja das Westfälische sei überhaupt eine Mystifikation; es stehe ein für falsches Pathos, und auch der Geist von Blut und Boden schwinge noch gehörig mit.“ (Gödden S. 15)

Gödden bemerkt über Heselhaus‘ Rückzug an die Uni Gießen: „Er war es offensichtlich leid, sich mit Berufswestfalen herumzuzanken.“ (S. 16)

Friedrich Wilhelm Weber als genialen Dilettanten zu sehen ist nicht besonders schwer. Sein Hauptberuf war der des Mediziners, damit ernährte er seine Familie. Der zweite Beruf, der des Abgeordneten im Preußischen Landtag, brachte ihm eine Abgeordneten-Entschädigung, Tagegelder (1876: 15 Mark) und Reisekosten-Erstattungen. Dass ihm zum Lesen, Dichten und Übersetzen überhaupt noch Zeit blieb, verdankt er zu einem großen Teil der Entfernung von seiner Familie, zum andern der Unterstützung dieser Familie, seiner Frau und vor allem seiner ledig gebliebenen Tochter Elisabeth.

Außerdem waren seine literarische Tätigkeit und seine Kenntnis verschiedener Sprachen auch das Tor zur Welt. Über sie hielt er Kontakt zu vielen literarisch Gebildeten, bis nach Skandinavien.

Nach 1945 distanzierten sich seriöse Literaturwissenschaftler von der Art der Rezeption, die die Nationalsozialisten gepflegt hatten. Gödden zufolge waren deren regionalen Bezüge Zeichen ihrer „restaurativen Ideologie“, sie hatten „zweit- und drittklassige Heimatautoren“ gefördert.

Im Jahre 2013 gab die Weber-Gesellschaft eine Festschrift heraus, in deren Titel der Dichter Weber zwischen dem Arzt und Politiker stand. Der Untertitel lautet: „Ein ungewöhnlich populärer Westfale“. Das Berufswestfalentum kam wieder zum Vorschein. Ihn 2013 noch oder wieder populär zu nennen war dem Bemühen zu verdanken, Weber zum Werbeträger zu machen. Der Landrat zitierte im Grußwort einen Zeitungsartikel: „Der große Dichter und Arzt imponiert durch die reiche Fülle vorbildlichen Menschseins.“ Weber habe einen „Auftrag in der Welt“ gehabt, immer hätten für ihn „die Mitmenschen“ im Mittelpunkt gestanden. Er habe „Ruhm weit über seine Heimat hinaus“ gehabt. „Sein menschliches, christliches und nachdenkliches Wesen“ sei immer noch vorbildhaft.

Der Bürgermeister von Bad Driburg erweiterte den Reklamecharakter von Webers „Kulturgut“ bis zum Antrag des Klosters Corvey auf Anerkennung als Weltkulturerbe. „Im Interesse unserer Bürgerschaft“ engagierten sich „Personen für die Erhaltung der Kultur und Literatur“.

Der Nieheimer Bürgermeister betonte, dass junge Leute der Ausbildung wegen wegzögen, dass es aber entscheidend sei, dass sie „wieder den Weg in die Heimat“ fänden. Er sieht Weber auch als Vorbild, sogar „völlig losgelöst von seinem dichterischen Wirken“, und empfiehlt einen Besuch im Nieheimer Weberhaus: „Nieheim ist und bleibt die ‚Weberstadt‘ – und wir sind stolz darauf!“.

Das Pathos überwältigt immer noch, aber es steckt ja auch viel Geld und Arbeit in den Erinnerungsstätten und die sollen sich möglichst auch bezahlt machen.

Der Kreisheimatpfleger erwähnte immerhin, dass Webers Dichtung „nicht mehr so leicht vermittelbar“ sei, weil sie „einem bestimmten historischen Sprachstil verpflichtet ist“. Webers „Gesänge und Verse“ bezeichnet er als virtuos, ihre Inhalte als gefällig und ernsthaft. Er regt schließlich eine weitere Auseinandersetzung mit Webers Zeit an. Webers Persönlichkeit sei ein „wichtiges Bindeglied und Identifikationsmerkmal unserer Region“.

Wenn ein Westfale dichtet, dürfen sich alle Westfalen geschmeichelt und alle Nichtwestfalen ausgeschlossen fühlen?

Das Weberhaus, in dem Weber die letzten sieben Jahre bis zu seinem Tod wohnte, ist inzwischen (2021) kein Weberhaus mehr, es war Kolpinghaus, „Heimvolkshochschule“ und Flüchtlingsunterkunft (ZUE). Es ist aktuell ein Bildungshaus im Besitz der Koptischen Kirche und damit vor dem Abriss bewahrt worden. Webers Wohnräume sind als Museum weiterhin erhalten.

Die jetzigen Besitzer des Wasserschlosses Thienhausen behaupten auf ihrer Website, Weber habe bis zu seinem Tode dort gelebt. Die Website teutoburgerwald.de nennt Weber einen der bedeutendsten Nieheimer Dichter und Denker.

Die Betonung der Popularität ist noch kein Beweis für ihre Existenz. Sich mit fremden Federn zu schmücken war noch nie ein Qualitätsmerkmal.

Eine „stille Liebe“ zu Webers Dreizehnlinden-Epos wird sich bei mir nicht entwickeln, ich lasse sie Wolfgang Rinschen, der 2007 herauszufinden versuchte, warum das Werk „versunken und vergessen ist“. Ich teile seine Wertschätzung des Moralisten Weber: die Gedanken von Frieden und Versöhnung, ein tolerantes christliches Weltbild, Gottes Liebe, Nächstenliebe und die Toleranz als Kernaussage.

Rinschen erwähnt die Randnotizen eines Theologen, der Gedanken aus den „Lehrsprüchen des Priors“ interpretiert.

„An ein Buch zu erinnern, das unseren Eltern und Großeltern wertvoll war“ ist schon ein gewichtiges Motiv, Weber nicht zu vergessen. Aber gilt das auch noch für die Urgroßeltern? Rinschen selbst bezweifelt es. Es nütze weder Weber noch seinem Werk, dass Urgroßvater, Großvater und Vater sie gelesen und im Bücherschrank aufbewahrt hätten.

Frauenliteratur scheint es dann ja überhaupt nicht zu sein.

Weber hat das Ende des Kaiserreiches nicht erlebt, nicht die Erfolge und das Scheitern der Republik, die Diktatur der Nazis, den Zweiten Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten und den absolut unmoralischen, intoleranten, unchristlichen Massenmord an den Juden.

So unschuldig, wie Weber sich in das neunte Jahrhundert zurückzog, können wir uns nicht in sein Jahrhundert zurückziehen. Die Säkularisierung, der Materialismus, den Weber so abstoßend fand, die Industrialisierung, die er weitgehend ignorierte, die Demokratisierung und der relative Wohlstand auch der Kleinbürger, das Abwenden vom Christentum bzw. von den Kirchen sind mit dem Thema der Christianisierung der heidnischen Sachsen heute nicht mehr zu verbinden.

Ich zitiere gern Webers Rat, rückwärts blickend vorwärts zu schauen. Den Anfang des Epos, das vielzitierte, auswendig gelernte „Wonnig ist’s“, ertrage ich in seiner Abgegriffenheit nicht, so viel Flachheit wird dem Dichter Weber auch nicht gerecht. Goethes „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ ist ein ähnliches Klischee, aber das Zitat wird dann unerträglich, wenn man es mit falschem nationalen Pathos belegt.

Man kann je nach Herkunft und Interesse dem gesamten Werk Webers in Teilen etwas abgewinnen. Wer Naturlyrik liebt, wird Weber mögen. Wer in Alhausen geboren wurde, darf eine Sympathie für die dörfliche Idylle in Webers Gedichten entwickeln. Wer die zunehmende Abkehr vom christlichen Glauben beklagt, darf sich mit Weber verbunden fühlen. Wer noch betet, darf auch mit Webers Lyrik beten und sich von ihr trösten lassen. Wer den Artikel 3 unseres Grundgesetzes mag, darf Webers Aussagen zur Menschenwürde gern weiter nutzen.

Wer tragische Liebesgeschichten gern hat, kann sich auch mit dem „Goliath“ anfreunden.

Wer ihm im Garten des Weberhauses in Alhausen auf die Büste klopft, darf ruhig sagen: „Fritz, dein Bart ist altmodisch!“ Dennoch ist er für Weber charakteristisch.

Eine pathetische, lokalpatriotische, frömmelnde oder nationalistische Überhöhung trägt dazu bei, Weber in der historischen Versenkung verschwinden zu lassen. Dafür ist er einfach nicht mehr populär genug.

Seine Fraktionsfreunde vom Zentrum hätten ihn gern in Berlin begraben. Die Nieheimer fanden es erhebend, dass seine Beerdigung ein Spektakel wurde. Die Driburger packten ihre Verehrung mit großem finanziellen und ehrenamtlichen Engagement in sein Geburtshaus, weil Alhausen heute Ortsteil der Stadt ist.

Die Prachtausgabe von Karl Rickelt kostete 1904 vierzig Mark. Ich erhielt sie aus einem Göttinger Antiquariat für einen Euro.

Winfried Freund versuchte 1993 den Dichter als poetischen, christlichen, moralischen und didaktischen Realisten zu würdigen, ihn zu entstauben. Das Staubtuch liegt im Moment unbenutzt im Spind der Webergesellschaft, von der man seit dem Tod des letzten Vorsitzenden nichts mehr hört.

Ich stimme Rinschen zu: „Das Publikum ist interessanter als das Werk, der Verbraucher wichtiger als der Künstler.“ (82) Bei allen Jubelfeiern waren die Redner und Akteure als Selbstdarsteller wichtiger als der Dichter Friedrich Wilhelm Weber.

Aber Bad Driburg hat keinen anderen.

 

Walter Gödden: Westfälische Literaturforschung gestern und heute, lwl.org; in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Region – Literatur – Kultur. Regionalliteraturforschung heute. Bielefeld: Aisthesis 2001 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 2), S. 97-119

F.W. Weber-Gesellschaft (Hg.): 200 Jahre Friedrich Wilhelm Weber, Bad Driburg 2013

W. Rinschen / Weber-Gesellschaft: Friedrich Wilhelm Webers „Dreizehnlinden“. Spurensuche in der Geschichte des Versepos, Paderborn 2007

Winfried Freund / Weber-Gesellschaft: Friedrich Wilhelm Weber – ein Porträt des Dichters, in: Friedrich Wilhelm Weber – Arzt, Politiker, Dichter, Paderborn 1993 (2. Aufl. 1996), S. 129 ff.

Friedrich Wilhelm Weber und die Eisenbahn

Von Elisabeth Affani

Wie das Zugfahren die Gesellschaft und das Verhalten der Menschen veränderte, schildert Friedrich Gerstäcker in einer „humoristischen Erzählung“ von 1865 (Q 1 S. 107). Er stellt die Eisenbahn als Instrument des Fortschritts dar. Die Gemütlichkeit habe jedoch im Vergleich mit der guten alten Postkutsche abgenommen. Es gebe keine Reisegefährten mehr, man kenne die anderen Passagiere nicht mehr und schließe auch keine Freundschaften wie „unter früheren Verhältnissen“. Die beschauliche Ruhe sei vorbei, und auf säumige Reisende warte der Zug nicht. Der Dampfwagen bringe wunderliche Leute zusammen.

So idyllisch waren die Kutschfahrten keineswegs. Eine Fahrt in einer engen, holpernden, vollbepackten Kutsche mit Pferden, die scheuen und mit dem Fahrzeug durchgehen konnten, mit einer Achse, die brechen konnte, brachte durchaus etliche Male die Insassen in Lebensgefahr. Wenn Friedrich Wilhelm Weber in der Mitte des 19. Jahrhunderts  mit der Kutsche über den Stellberg nach Buke oder Lippspringe unterwegs war, musste der Kutscher mit seinem Gespann nicht nur eine erhebliche Steigung, sondern auch den einspurigen Hohlweg bewältigen, an dessen Anfang er mit der Peitsche knallte, um Entgegenkommenden anzuzeigen, dass er den Weg nun befuhr. Wie ging Weber mit der sich rasch ausbreitenden Eisenbahn um?

Johannes Mahr stellt fest, dass sich im 19. Jahrhundert die Bedeutung der Bahn „für die Industrialisierung, für die Veränderung im Charakter der Städte, für den Umbau der bisher fast unberührten Landschaft, für die Form des Zusammenlebens kaum überschätzen“ lasse (Q 2 S. 11). Für ihn ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Technik und der Literatur bedeutend. Er beschreibt die Polarisierung, die teilweise zu einem angenommenen Gegensatz von Kultur und Zivilisation führte. Von vielen Schriftstellern wurde demnach die Technisierung als Gefahr und Bedrohung für die menschliche Natur empfunden. Dennoch haben laut Mahr alle namhaften Dichter des 19. Jahrhunderts Eisenbahngedichte geschrieben, Heinrich Heine und Gottfried Keller inbegriffen.

Weber trat in den ersten Jahrzehnten seiner dichterischen Nebenbeschäftigung vor allem mit romantischer Naturlyrik hervor. Auf sie beruft man sich, wenn man seine Verbundenheit mit seinem Geburtsort Alhausen, dem „Dörfchen treu und gut“, herausstellt. Dass er dreißig Jahre lang dieser Idylle mittels der Eisenbahn entfliehen konnte, stand niemals zur Debatte. Interessierte ihn die technische Seite seines Reise- und Transportweges überhaupt? Fand er die richtigen Worte, um die Technik in sein lyrisches Werk einzubinden? Meinte er, sie im Dienste einer wahren Poesie ignorieren zu müssen? Seine lyrische Epik war zeitabgewandt, rückwärtsblickend. Mit der Eisenbahn hätte er vorwärts schauen können. Was hinderte ihn daran?

Es gibt tatsächlich einen Versuch von Weber, das Motiv aufzugreifen. Johannes Mahr zitiert die ersten zehn Zeilen von Webers Gedicht „Eisenbahnphantasie“, und zwar veröffentlichte Weber es 1857 unter dem Pseudonym B. Werder in einer Festschrift zum fünfundzwanzigsten Bestehen der Lippspringer Bäder an der Arminiusquelle. Mahr bezeichnet den „Versuch, durch mythologische Figuren die neuen Kräfte zu benennen“ (Q 2, S. 117), als erfolglos und drückt seine Freude darüber aus, dass Weber keine weiteren Versuche unternommen habe.

Der Renner stampft und braust dahin! Jetzt durch des Blachfelds Niederung, /Jetzt über des Berges schroffen Grat, über den Strom mit kühnem Schwung; /Jetzt aus des Tunnels schwarzem Schlund, der ihn verschlang, sein Brodem braut: – /Hermode auf dem Hela-Ritt! Es keucht das Roß, dem Reiter graut! /Jetzt über Wall und Viadukt weitaus im Sturm die Mähne weht! /Ha! Durch die Lüfte ras’t er hin, ein düstrer, qualmiger Komet. / Krieg bringt er, wie im Jahre Eilf, Krieg Allem, was bestand und galt: / Was früher groß, war gestern Nichts, was gestern jung, ist heute alt. / Ein Dämon ist’s, der ihn beseelt, den in geheimnißvoller Nacht /Am Flammenheerd Vulkans gezeugt das Wasser mit des Feuers Macht …

Weber ist nicht Adalbert von Chamisso, der schon 1830 die Eisenbahn lyrisch verwertete, auch nicht Theodor Fontane, der das Unglück von der Brücke am Tay zu einer Ballade über den Tand, der das Gebilde von Menschenhand ist, verarbeitete und zu einem Lesebuchtext verewigte. Weber ist nicht Peter Rosegger, der unvergesslich seine erste Eisenbahnfahrt schilderte und das Motiv der Eisenbahn in mehreren Werken aufgriff, und nicht Georg Herwegh, der Poesie auch im Qualm eines Dampfschiffs entdeckte.

Weber passt in die Reihe der Dichter, die den wachsenden Materialismus beklagten und innere Werte wie eine tiefe Gottgläubigkeit dagegen setzten. Hier scheiden sich die Romantiker von den Realisten.

Gibt es von Weber Reisebeschreibungen? Wie fühlte es sich an, als er das erste Mal die Fahrt nach Berlin antrat? Der Dichter Weber, der über jedes Schlüsselblümchen am Bachrande und jeden Postillon warme Verse komponierte, fand keine Worte über das Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts, das so viele Menschen emotional berührte.

Von Bad Driburg über Hannover kann man heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln, hier mit der Eisenbahn, in knapp fünf Stunden den Hauptbahnhof in Berlin erreichen. Der Abgeordnete des Preußischen Landtags Friedrich Wilhelm Weber benötigte 1862 vermutlich einen ganzen Tag, wenn er nicht sogar eine Übernachtung einplanen musste.

Für Freunde der Eisenbahn dürfte die Frage interessant sein, was Weber während der langen Zugfahrt nach Berlin am Gleisrand entdeckte und in seinen Aufzeichnungen festhielt.

Wolfgang Ewers vom Verein der Bad Driburger Eisenbahnfreunde stellte mit Hilfe eines Putzger Weltatlas, erschienen in der 85. Auflage 1963, die mögliche und wahrscheinliche Fahrtroute des Abgeordneten Weber im Jahre 1863 zusammen. Ewers nimmt an, dass Weber zunächst mit der Postkutsche von Bad Driburg, über den alten Postweg und den Stellberg, nach Buke fuhr, wo es an der Chaussee nach Paderborn eine Poststation gab, von der man ab 1853 in den Zug nach Warburg umsteigen konnte. Zu der Einweihung der Strecke Paderborn–Altenbeken–Warburg kam als Ehrengast der preußische König Friedrich Wilhelm IV. mit Gefolge. Stand auch Weber unter den Zuschauern und winkte?

Von Warburg ging es nach Kassel, danach folgten Bebra (seit 1849), Erfurt und Halle (1848/49), von dort konnte man weiter nach Köthen fahren, das damals bereits ein Knotenpunkt war, und schließlich nach Berlin (1841). Wolfgang Ewers nimmt an, dass um 1850 deutsche Lokomotiven mit einer Geschwindigkeit von unterhalb 50 km/h fuhren.

Im Jahre 1863 erhielt auch Bad Driburg einen Bahnhof. Doch erst 1872 konnte Weber über Altenbeken nach Hannover und von dort weiter nach Berlin fahren. Die Strecke war 200 km kürzer, inzwischen fuhren die Züge schneller, die besten Lokomotiven erreichten bis zu 70 km/h. Theoretisch konnte man Berlin nun in etwa sechs Stunden erreichen, also in der Hälfte der Zeit, die Weber noch 1863 benötigte.

Quellen:

(1) Friedrich Gerstäcker: Auf der Eisenbahn, in: Berthold Auerbach’s deutscher Volks-Kalender auf das Jahr 1865. S. 107–118, http://de.wikisource.org

(2) Johannes Mahr, Eisenbahnen in der deutschen Dichtung, München 1977; http://daten.digitale-sammlungen.de

(3) Arminia. Geschichtliches und Gedichtetes zur Feier des fünfundzwanzigsten Bestehens der Bäder an der Arminiusquelle zu Lippspringe. Paderborn 1857, S. 78-84, Zit. S. 78

© Elisabeth Affani 2013

Friedrich Wilhelm Weber als Politiker

Von Elisabeth Affani

„His practice as a doctor did not keep him from writing poetry.“ (Catholic Encyclopedia newadvent.org)

Politik ist niemals mein eigentliches Element gewesen.“ (F.W. Weber)

Die Möglichkeiten eines Arztes, seinen Patienten zu helfen, waren zur Zeit Friedrich Wilhelm Webers begrenzt. Kranke auch in abgelegenen Ortschaften zu behandeln, ohne Telekommunikationstechnik, ohne Auto, ohne Chauffeur wie bei den heutigen Notärzten, ohne geregelte Vergütung, war schwierig und zeitraubend.

Hausärzte und Landärzte haben, weil sie mobiler sind, heute nicht mehr Freizeit. Welchem engagierten Hausarzt gelingt es, neben seiner ärztlichen Tätigkeit noch Nebentätigkeiten auszuüben? Welcher Arzt engagiert sich politisch? Welcher Arzt betätigt sich neben seiner Berufstätigkeit als Dichter oder Schriftsteller? Eckard von Hirschhausen und Philipp Rösler dürften als Beispiel dienen, dass es in der Regel nur ein Entweder-Oder gibt. Generalisten sind in allen drei Berufsgruppen so selten geworden wie Idealisten.

Ein Politiker wird von  manchem schlichten Bürger beneidet und argwöhnisch beobachtet. Kritik wird gern an jeder Diätenerhöhung geübt, die nur sporadisch gefüllten Abgeordnetenreihen geben Anlass, über die säumigen Parlamentarier zu schimpfen. Die Politikverdrossenheit ist angesichts der schwindenden Wahlbeteiligung ein gängiges Thema in allen Medien. Dichtende Politiker sind jedenfalls eine Rarität, die fehlten uns noch. Politiker schreiben schon einmal ein Buch oder geben es heraus, wobei der Leser nie sicher sein kann, ob ein Buch wirklich von der Persönlichkeit stammt, die ihren Namen über den Titel setzt. Biografien sind nach einem erfüllten Politikerleben Pflichtprogramm.

Wie gelingt Weber der Spagat zwischen drei Berufen? Als niedergelassener Arzt und als Privatmensch war er zu Fuß, zu Pferd oder in der Postkutsche unterwegs, später sicher auch mit dem Zug. Die mündliche Kommunikation geschah von Angesicht zu Angesicht, die schriftliche mittels des postalischen Briefes oder per Kurier. Den Quellen nach führte Weber einen umfangreichen Briefverkehr. Handschriftliche Briefe kosteten Zeit und Tinte, Kugelschreiber und Filzstifte gab es nicht. Er arbeitete abwechselnd in Bad Driburg und Bad Lippspringe. Nach seinem Umzug ins Schloss Thienhausen musste er zusätzlich seine kranke Frau pflegen, er kultivierte den verwilderten Schlosspark und empfing regelmäßig Sommergäste. Er musste selbst mit Krankheiten kämpfen. Er vertiefte sich in die europäische Literatur des Mittelalters. Er beschäftigte sich mit altdeutscher, englischer und skandinavischer Literatur. Er war nicht einfach als Übersetzer tätig, sondern verfasste möglichst authentische Nachdichtungen, die vielfach gelobt werden.

Wie um alles in der Welt konnte er sich auch noch die notwendigen Grundlagen und speziellen Kenntnisse von politischen Zusammenhängen aneignen?

Aus meiner modernen, beschränkten Perspektive möchte ich feststellen: Er war ein besorgter Vater und Ehemann, falls er denn zwischen Bad Lippspringe und Berlin Zeit für die Familie fand, er war ein guter Freund, er war für damalige Verhältnisse sicher ein guter Arzt, er war ein gewissenhafter und fleißiger Sprachforscher, ein Lyriker und ein episch breiter Versdichter. Er konnte tränenreiche Briefe an seine Frau schreiben, in denen er beklagte, dass er nicht bei ihr und seiner Tochter sein könne. Heute würde sich wohl ungewollt manches Verdachtsmoment, manch skeptischer Gedanke ausbreiten, ob Weber wirklich nur der Politik wegen in Berlin war.
Wortreich schildert sein Biograf Julius Schwering die vielen geistigen Anregungen, die ihm die preußische Hauptstadt und der Kontakt zu vielen Persönlichkeiten gaben. Vom Parlament ist kaum die Rede.
Brauchte der preußische Landtag keine Vollzeitpolitiker? Reichte der Zentrumsfraktion ein Abgeordneter, der hauptberuflich Arzt und nebenberuflich Dichter war? Weber war politisch nicht gebildet. Seine politische Bildung beruhte überwiegend auf dem Selbststudium. Die Grundlagen seines Denkens findet man, falls man seinen Biografen Glauben schenkt, in seinem christlich-katholischen Bekenntnis. Er war Humanist, seine politische Grundeinstellung war national, liberal, sozial und nach einer gemäßigt revolutionären Sturm- und Drangzeit auch monarchisch. Er heilte Verletzungen, er verursachte keine.
Warum wurde er vom Wahlkreis Höxter-Warburg drei Jahrzehnte lang ins preußische Parlament gewählt? Er war als Arzt und Mitbürger auch über die Grenzen Bad Driburgs hinaus in Lippspringe und später im Umland von Thienhausen und Nieheim bekannt und beliebt. Er war katholisch. Man traute ihm zu, sich vor einem parlamentarischen Gremium zu äußern. Diese Fähigkeit hatten nicht viele Bürger. Die gebildete Schicht war naturgemäß nicht übermäßig groß. Das Abitur konnten nur wenige im Landkreis ablegen, die allgemeine Schulpflicht wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Mehrheit der Bürger und Ackerbürger, wenn auch oft zähneknirschend, akzeptiert. Die Schulbildung kostete Geld und Zeit. Kleinstädte wie Driburg brauchten Lehrer, Ärzte, Juristen und Priester, aber nicht unbegrenzt. Weber konnte mit Hilfe seines Bruders und einiger Gönner in Paderborn die Hochschulreife erlangen und in Greifswald und Breslau Medizin studieren. Er gehörte zu einer Minderheit.

Man traute ihm also zu, quasi als Abfallprodukte seiner medizinischen und literarischen Studien und vor dem Hintergrund eines existenzsichernden Berufes auch die Aufgaben eines Politikers zu bewältigen. Er gehörte zu den Notabeln, den Honoratioren. Wenigstens einen Teil des Jahres, während der Berliner Sitzungsperiode, lebte er für die Politik und nicht von ihr. Er bezahlte für seine politische Funktion, für sein höheres Ansehen. Sein Einkommen war die Voraussetzung für die Wahl.
Als Weber Ende 1813 geboren wurde, war der Kanonendonner der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig gerade verhallt. Viele blutige Hände waren in der Weißen Elster, in Pleiße und Parthe gewaschen worden. Als er 1833 das Abitur ablegte, war nach der Restauration in der Folge des Wiener Kongresses der politische Vormärz angebrochen.
Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist:

Weber freundete sich während des Medizinstudiums unter anderen mit den Schriftstellern Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dem Dichter des Deutschlandliedes, und Gustav Freytag an, der seine Dissertation „Über die Anfänge der dramatischen Poesie bei den Germanen“ verfasste.
Der Germanist Freytag trat der Burschenschaft „Corps Borussia Breslau“ bei, gehörte zum liberalen Bürgertum und wurde wegen seiner kritischen Berichterstattung über die Niederschlagung der Weberaufstände aus Preußen ins politische Asyl nach Sachsen getrieben. Im Reichstag des Norddeutschen Bundes war er von 1867 bis 1870 Abgeordneter der Nationalliberalen und trat aus Enttäuschung über Bismarcks Politik zurück. Er überlebte Weber um ein Jahr. Hoffmann war fünfzehn Jahre älter als Weber und Mitglied der „Alten Göttinger Burschenschaft“ sowie später der „Alten Bonner Burschenschaft“. Auch er eckte wegen seiner liberalen Tendenzen bei der preußischen Regierung an, weil er die Kleinstaaterei, die Pressezensur und die Unterdrückung der Bürgerrechte verurteilte. Er wurde 1843 ausgebürgert und war auf die Hilfe von Freunden angewiesen. An der Märzrevolution 1848 nahm er nicht aktiv teil. Er wurde 1849 rehabilitiert, zog 1860 nach Corvey und war dort als Schlossbibliothekar angestellt.
Wenn Weber offen für den Einfluss seiner Freunde war, teilte er sicher ihr Nationalgefühl wie ihren Nationalismus, ihr Freiheitsdenken sowie ihre späte Freude über die Reichsgründung 1871 auf Kosten der Franzosen. Weber trat 1835 in Greifswald dem „Corps Pomerania“ bei. Da er verdächtigt wurde, sich an revolutionären Aktionen beteiligt zu haben, musste er sich vor dem Universitätsgericht verantworten. Er konnte einige Zeit nicht mehr kostenlos in der Mensa am sogenannten Freitisch essen, bis er freigesprochen wurde. Aber er musste sich nicht verstecken und niemanden um Asyl bitten. Im Gegensatz zu Hoffmann veröffentlichte er nur wenige politische Lieder und provozierte keine Repressionen.
Sogar in Driburg tauchten 1848 einige schwarz-rot-goldene Revolutionsfahnen auf, die aber auf Anordnung des Bürgermeisters rasch eingezogen wurden. Weber erschien hier unter den maßgeblichen Akteuren, die öffentliche Versammlungen abhielten und den Bürgern demokratische Ideen vermittelten. Gern wurde dabei auf den König und die preußische Regierung, auf den Adel und die Geistlichkeit geschimpft. Weber soll jedoch Auswüchse, auch Übergriffe auf jüdische Bürger, verhindert haben.

Er stellte sich 1848 als Wahlmann für die preußische und die erhoffte deutsche verfassunggebende Versammlung zur Verfügung. Noch 1849 bezeichnete er sich als Demokraten. Er hatte sich dem „Verein der Volksfreunde“ angeschlossen. Angeblich war seine Verlobung der Grund, weshalb er zunächst nicht als Deputierter nach Berlin gehen wollte. Berlin war noch zu weit entfernt. Möglicherweise war auch seine Enttäuschung über den Verlauf der Revolution zu groß. Der Driburger Bürgermeister charakterisierte ihn als Anhänger der demokratisch-konstitutionellen Monarchie.
Webers politische Laufbahn begann im Driburger Stadtrat 1854 als Mitglied im Demokratischen Verein. Von 1854 bis 1860 gehörte er der Driburger Stadtverordnetenversammlung an. Dort war er vier Jahre Schriftführer und schrieb die Sitzungsprotokolle. Johannes Heinemann stellt fest: „Als Weber […] ausschied, hatte er seine revolutionäre Phase endgültig überwunden.“ (Qu 1 S. 94)
Die Bezeichnung Roter Weber besagt nicht viel, solange man nicht erforscht, wer ihm diesen Spitznamen zulegte und welche Motive dahinter steckten. Den radikalen Jakobinern mit ihren roten Mützen fühlte sich Weber ganz sicher nicht verbunden. Aufstände schreckten den unpolitischen, politisch unmündigen und an preußische Ordnung gewöhnten Bürger eher ab. Dass Weber vom Verhalten des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. enttäuscht war, machte ihn noch nicht zum Revolutionär, sondern passte in den Revolutionsjahren 1848/49 zur vorherrschenden nationalliberalen Stimmung. Die Hoffnung vieler Bürger auf die nationale Einigung und eine liberale Verfassung hatte sich nicht erfüllt. Die politischen Hauptakteure des Vormärz waren hingerichtet worden, saßen im Gefängnis oder waren ins Ausland geflohen. Da setzte sich das Bürgertum lieber wieder die weiße Mütze des Michels auf.
Viel Revolutionäres dürfte Weber also wohl nicht verinnerlicht haben. Im Alter begründete er den „Sturm im März“ mit jugendlicher Schwärmerei. Die Sturm- und Drangphase endet gewöhnlich spätestens dann, wenn der Eintritt ins Establishment erfolgt ist.

Wie gut war der Politiker Weber, wie aktiv, wie engagiert konnte er neben seinen beiden anderen Berufen sein? Wen vertrat er im Landtag – die Berufstätigen, die Ärzte, die gebildeteren Akademiker, die Bürger, die katholische Kirche? War er Lobbyist?

Der anfangs parteilose, liberale, eher demokratische als konservative Weber ließ sich 1861 das erste Mal in den preußischen Landtag wählen, und jetzt war vom Roten Weber keine Rede mehr, er wählte die Fraktion des katholischen Zentrums. Es war gefahrlos, unverfänglich, offen in viele Richtungen und politisch unverdächtig wegen seiner Kirchenverbundenheit. Es steigerte Webers Ansehen in seiner überwiegend katholischen Gemeinde und seinem Freundeskreis.

„Das Treiben der Oppositionspartei hatte durchaus nicht Webers Billigung“, schreibt Julius Schwering (Qu 2 S. 179) und begründet dies damit, dass das Zentrum eine „der Staatsleitung freundliche Haltung“ einnahm (S. 180). Weiter überlegt Schwering: „Wenn eine dichterische Natur […] sich an dem parlamentarischen Leben seiner Nation beteiligt, so erwartet nur in den seltensten Fällen ein Verständiger von ihr den Scharfblick und die Weitsicht eines gereiften Politikers. […] So lag auch dem schlichten westfälischen Dichter […] nichts ferner als die ehrgeizige Absicht, im politischen Leben eine führende Rolle zu spielen.“  Er bezeichnet Weber als Fremdling „auf dem Felde der Staatskunst“. Weber selbst sprach hochtrabend von der Mission, die er erfüllen müsse. Eine Entwicklung, die man als fortschrittlich bezeichnen könnte, zeichnete sich in seiner Persönlichkeit nicht ab.

Ich nehme den Politikerdichter beim Wort. Das breite AlhausenerTal hinter dem Driburger Rosenberg, in dem er aufwuchs, war ihm zu eng und klein, er brauche mehr Licht, mehr Luft, schrieb er in dem Gedicht „Verstiegen“. Statt des großen Lichtes erblickt das lyrische Ich „Dunst und Qualm“ (Q 3, S. 167). Und dann – singt die Schwalbe wieder vom Lindenast.

Aus dem Jahre 1862, seinem ersten Jahr in Berlin, dem Jahr, das ihm Luft und Licht verschaffen konnte, stammt sein Gedicht „An die Volkspoesie“. Was ist nur aus dem Roten Weber geworden? Angeblich fühlt die Volkspoesie, also der Volkspoet, also der Dichter Weber „des Volkes Freud‘ und Pein“ (Q 3, S. 155), angeblich kennt er „sein Sorgen und sein Schaffen“. Er folgt dem Volk in das „Gewühl der Schlacht“ (S. 156). Wirklich? Die vielen Toten, die der Kampf mit oder gegen Napoleon hinterlassen hatte, wollten besungen werden? Hier folgt Weber seinem Zeitgeist so unkritisch, dass er auch mit einem Transparent mit der Aufschrift „Blut und Eisen“ nach Berlin hätte fahren können. Wenn dann doch Zweifel kamen, konnte er immer wieder auf das ländliche Idyll, die Garben, Brunnen, Drosseln, Wachteln und Spinnerinnen ausweichen.

Wo flogen seine Lieder 1862 hin? „In die weite Welt“, „vom Bodensee zum Belt“, „vom Elsaß bis zur Warthe“ sollten „des Heldensaals bestaubte Bilder“ (S. 157) erglühen. Weber ging nach Berlin, um „von alter Zeit“ zu singen und „frisches Immergrün um rostige Wappenschilder“ zu winden. Und dann versteigt er sich wirklich, indem er den alten „Schläfer im Kyffhäuser“ (S. 158) aufwachen sehen will, den legendären, gar nicht friedlichen Kaiser Friedrich Barbarossa, der tief im Berg schläft, bis er erwacht und den Deutschen die nationale Einheit bringt.

Damit erhalten die preußisch-deutschen Kriegszüge von 1864, 1866 und 1870 eine fatale Zwangsläufigkeit. Die Restauration ist noch in vollem Gange und wird auch vom gebildeten Bürgertum mitgestaltet. Wenn wir uns heute fragen, warum Weber so mühsam und vehement als großer Westfale angepriesen werden muss und damit in der Öffentlichkeit so wenig Erfolg erzielt wird, dann finden wir hier die Antwort. Weber hat sich selbst in eine solche Nische gezwängt, dass er daraus künstlich und künstlerisch nicht herausgeholt werden kann. Auch die Reduzierung auf den Westfalen lässt ihn mitsamt seiner teilweise deutschtümelnden Rezeption in kleinbürgerlicher Enge, in Fraktur stecken.

Johannes Heinemann beschreibt den Politiker Weber 1984 im Jahrbuch des Kreises Höxter ebenso wie Franz Schuknecht anlässlich des 100. Todestages des Dichters 1994 als geistig-moralische, aber zeitgebundene Größe. Im Jahre 2013, zu seinem 200. Geburtstag, wird er überwiegend auf sein Epos „Dreizehnlinden“ reduziert. Das macht der Nachwelt jedoch den Zugang zu diesem Dichter nicht leichter und wird ihm auch nicht gerecht.

Bereits im März 1862, nach acht Wochen, wurde das Abgeordnetenhaus, in dem Weber sich gerade einrichten wollte, vom König aufgelöst. Auf das nächste Mandat verzichtete Weber, wohl auch aus gesundheitlichen Gründen. Seine Fraktionsfreunde baten ihn jedoch im Sommer bereits zur Rückkehr nach Berlin, aufgeschreckt auch durch die Abspaltung eines linken Flügels, der weniger kompromissbereit und viel oppositioneller war. Der König löste auch 1863 den Landtag auf, der ihm für seine militärischen Ziele das Budget verweigerte. Aber der Widerstand wurde nach zwei gewonnenen Kriegen schwächer.
Seine Stellung als Badearzt in Lippspringe gab Weber 1865 auf und begründete seine Kündigung mit seinen Familienpflichten und seiner angeschlagenen Gesundheit. Kurz darauf fuhr er jedoch schon wieder nach Berlin, um an den Kammerverhandlungen während der Frühjahrssession teilzunehmen. Dort lernte er in den Mußestunden (!) die englische Sprache. Dort hatte er auch die Muße, Briefe an befreundete Damen zu schreiben. Er schickte ihnen fröhliche Verse. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Ohne den Druck des Lippspringer Badebetriebs konnte Weber sich nun eher um politische Themen kümmern. Aber politische Studien sind wohl eher nicht sein Ziel gewesen. Er wird die Zeit im Zug nach Berlin, die vermutlich einen ganzen Tag in Anspruch nahm, auch für politische Lektüre genutzt haben. Die Eisenbahn und die damit verbundene Aufbruchsstimmung, die Industrialisierung, neue Mittel der Kommunikation wie die Telegrafie und andere Zeichen des technischen und gesellschaftlichen Fortschritts gingen offensichtlich spurlos an Weber vorüber. Es gibt allerdings einen Versuch von Weber, das Motiv der Eisenbahn aufzugreifen.
Johannes Mahr zitiert die ersten zehn Zeilen von Webers Gedicht „Eisenbahnphantasie“. Er bezeichnet den „Versuch, durch mythologische Figuren die neuen Kräfte zu benennen“ (Q 5 S. 117), als erfolglos und urteilt vernichtend in einer Klammer: „Diese von Klopstock abgesehene bardische Manier war eigentlich auch bei den poetae minores seit mehr als 50 Jahren überholt.“ (Q 5 S. 118) Weiter heißt es: „Ohne Anmerkungen ist der Text nicht verständlich – schon dies hat zum Glück weitere Versuche solcher Art verhindert.“
Weber wollte rückwärts blickend vorwärts schauen, es gelang ihm aber nicht. In Berlin selbst traf er sich mit Kollegen und Freunden, ging gern auch ins Theater oder Museum und fand in den Bibliotheken alle wesentliche Literatur für seine Studien. Oft aber äußerte er sich über den Berliner Politikbetrieb spöttisch, ironisch oder auch frustriert. Leeres Geschwätz langweilte ihn. Dass ein epischer Dichter selbst mehr Worte als üblich produziert, fiel ihm wohl nicht ein und an sich selbst auch nicht auf. Wenn er sich in die mittelalterliche Sagen- und Minneliederwelt vertiefte, blieb die Realpolitik außen vor. Doch aufwühlende politische Ereignisse gingen in seine schriftstellerische Arbeit ein. Teilweise wurde er von ihnen überwältigt. Er hatte 1864 im Dänischen Krieg „die Freudenkunden von Düppel und Alsen mit Jubel begrüßt“ (Qu 2, S. 215). Obwohl er wegen seines christlichen Humanismus selbst absolut friedfertig war und ganz sicher das fünfte Gebot kannte, dichtete er nach dem Sieg über die französische Armee 1871

Poetenwort, Prophetenwort! / Mein frommes Volk, nun schlage drein, /Und wasche dir nach blut’gem Werk / Die Händ‘ im deutschen Rhein!

Wie fromm ist ein Volk, das sich begeistert ins Kriegsgetümmel stürzt und in sieben Jahren drei Nachbarvölker mit Krieg überzieht: 1864 Dänemark, 1866 Österreich und 1870/71 Frankreich? Wie fromm ist ein Dichter, der diesem Volk zubilligt, es könne seine Hände im deutschen Rhein – wohl nicht mehr in Unschuld – waschen? Was ist das für eine Moral?
Das große Aber muss folgen. Aber: In verdichteter Lyrik werden alle Deutschen zu Unrecht über einen Kamm geschoren. Aber: Weber ist durchaus zuzutrauen, das fromme Dreinschlagen und das Reinwaschen blutbefleckter Hände ironisch zu meinen, weil er seine Bescheidenheit aufgibt und sich selbst mit einem Propheten vergleicht. Aber: Jeden Menschen, jeden Arzt, Dichter und Politiker muss man im Kontext seiner Zeit sehen. Noch kommt kaum ein Deutscher oder ein gebildeter Weltbürger auf die Idee, den edlen, hilfreichen und guten Goethe nicht mehr lesen zu wollen, weil er für Todesurteile verantwortlich war.

Weber trat ab 1867 als Mitglied der Medizinalkommission auf und beschäftigte sich mit der Vereinheitlichung der Medizinal- und Handelsgewichte, mit Umrechnungstabellen, Stellenplänen im öffentlichen Gesundheitswesen und der Vereinheitlichung der Gehälter von Medizinalbeamten. Große Begeisterung dafür ist bei ihm nicht erkennbar. Mathematik war schon in der Schule nicht gerade sein Neigungs- und Leistungsfach

Weber erschrak zu Beginn des Krieges gegen Frankreich 1870 nur kurz und sang dann mit seiner Familie patriotische Lieder. Naiv und absolut unpolitisch forderte er Bismarck auf, die Manessische Liederhandschrift aus Frankreich ins Deutsche Reich „zurück“ zu holen. Wieso sollte sich Bismarck für Beutekunst erwärmen?
Erst mit Bismarcks sogenanntem Kulturkampf zogen wieder einige dunkle Wolken auf. Außenpolitik war nicht Webers Metier. Weniger innenpolitisch als kulturpolitisch wurde er berührt, als die preußisch-protestantische Reichsregierung sich mit der katholischen Kirche anlegte. Er stammte selbst aus einer konfessionellen Mischehe und hatte darin nie ein Problem gesehen, auch wenn er den katholischen für den besseren Glauben hielt. Die Ökumene hatte er in seinem Elternhaus vorgelebt bekommen. Aber in dem kirchenpolitischen Konflikt drohte er sich zu zerreiben. Allgemeine Menschlichkeit, Moral und christliche Nächstenliebe waren keine politischen Lösungsansätze. Liberalismus und Säkularisierung galten als protestantisch und materialistisch, Konservativismus und Papsttreue als katholisch und idealistisch. Der Dichter Weber wollte auf der idealistischen Seite bleiben. Der Arzt war per se und sine dubio Idealist. Der Politiker musste mit.
Weber brachte in seiner Zentrumspartei jahrelang die Kraft, die ihm seine ärztliche und dichterische Tätigkeit ließ, für parlamentarische Auseinandersetzungen auf. Den Kulturkampf bezeichnete er als Unglück. Um so lieber arbeitete er vermutlich an der Sozialgesetzgebung mit, die das Zentrum wieder zu einer staatstragenden Partei machte. Neue Spannungen ergaben sich durch die Absicht der Regierung, den Wehretat zu erhöhen. Aber dazu äußerte sich Weber nicht öffentlich.
Als Parlamentsredner trat er bis zum Schluss 1892 nicht in Erscheinung. Er lernte den berühmten Arzt und liberalen Politiker Rudolf Virchow kennen und verfolgte sicher dessen Forschungen und Projekte, die das gesamte Gesundheitswesen modernisierten. Aber Weber blieb einfacher praktischer Arzt ohne Ambitionen auf ärztlichem Gebiet.
Heute müsste er mit seinem Fortbildungscode eine punktegesteuerte Quote erfüllen und Bußgeld zahlen, wenn er die Quote nicht erreichte.
Bis zu fünf Monaten musste er während der Sitzungsperioden in Berlin ausharren, das er Babylon oder Babel nannte. Heute würden die Patienten aus der Praxis eines niedergelassenen Arztes zu anderen Ärzten abwandern, wenn der Arzt seinen Betrieb fünf Monate schlösse.
Parallel zum Kulturkampf, einem vom Protestanten Virchow geprägten Begriff, schrieb Weber an seinem Epos „Dreizehnlinden“, das damit durchaus politische Züge erhält. Wie viel Energie ihn dies kostete, lässt sich nicht genau bemessen. Doch diese Energie widmete er eben nicht der Politik.
Auch die Verbindung zu seinen Patienten riss in Berlin nicht völlig ab. Wenn er nach Thienhausen zurückkehrte, teilte er sein Leben in einen ärztlichen und einen literarischen Teil. Der Politiker blieb in Berlin, in der Metropole, deren Luft er über dreißig Jahre lang schnupperte.
Es ist wohl zu viel verlangt, wenn ein Mensch versucht, in drei Professionen professionell zu sein.

Quellen:
1 F. Schuknecht: Der Abgeordnete im preußischen Landtag (1862-1893). In: Friedrich Wilhelm Weber, hgg. von der Weber-Gesellschaft 1993, S. 95 ff.
2 Julius Schwering: Friedrich Wilhelm Weber. Paderborn 1900
3 Friedrich Wilhelm Weber: Gedichte. Eine Auswahl. Paderborn 1990
4 J. Heinemann: Friedrich Wilhelm Weber als Politiker. In: Jahrbuch des Kreises Höxter 1984, S. 253 ff.
5 Johannes Mahr, Eisenbahnen in der deutschen Dichtung, München 1977; http://daten.digitale-sammlungen.de

© Elisabeth Affani 2013






Friedrich Wilhelm Weber: Der Handschuh

Eine Ballade

An einem Nachmittag im Januar herrscht in Pömbsen ein Schneesturm. Ein Bote, Wigand aus Schönenberg, eilt durch das Dorf zum Pfarrhof. Sein Vater liegt im Sterben, und er bittet den Pömbsener Pfarrer Gerhard Lödige um die Himmelsspeise. Der Priester, selbst schon betagt, schickt den Boten weiter zum Arzt in Nieheim und lässt vom Hausknecht den Fuchs zäumen. Zu Fuß könnte er den Weg nicht mehr bewältigen. Mit dem Sakrament unter dem Hemd, Hut und Mantel sowie pelzgefütterten Handschuhen, einem Geschenk des Probstes Finet, steigt er schwerfällig mit Hilfe des Knechtes auf das Pferd und reitet durch die Kälte. Er möchte bald den obersten Mantelknopf schließen, um sich besser gegen den eisigen Wind zu schützen, und zieht darum den rechten Handschuh aus. Als er den Knopf endlich geschlossen hat, entgleitet ihm der Handschuh. Der Pfarrer kann nicht absteigen, um ihn aufzuheben, denn er wäre nicht in der Lage, ohne Hilfe wieder auf das Pferd zu steigen. Also streift er nach kurzer Überlegung auch den linken Handschuh ab und wirft ihn hinunter zum Zwillingsbruder, der allein ein wertlos Ding für Jud‘ und Christ ist. Dann reitet er weiter nach Schönenberg und wärmt sich im Haus des Sterbenden die Hände, reicht ihm die Liebesspende und spricht ihm Trost zu. Spät in der Nacht kehrt er nach Pömbsen zurück und denkt nicht mehr an seine Handschuhe.

Der Dichter lässt sein lyrisches Ich den Wunsch aussprechen:

Gott mag ihm einen seligen Traum
und zum Ehrenkleide in jenem Leben
zwei warme weiche Handschuh‘ geben.

Friedrich Wilhelm Weber: An der Himmelstür

[Franz Sänger, Wirt des „Braunen Hirschen“ in Bullerborn]

Nach einem Gedicht von Friedrich Wilhelm Weber

Die armen Heiden, die Seehundsfänger, die Eskimos, wollten nicht in den christlichen Himmel, weil sie dort keine Robben fangen konnten. Aber auch Menschen, die noch nie in Grönland waren, haben ihren fetten Seehund.

Heute genauso wie früher möchten Reiche und Christen gern nur dann in ihren Himmel eingehen, wenn sie ihren Götzen mitbringen dürfen: Urkunden, Wappen, Orden und Auszeichnungen, Bücher und Bilder, Kisten und Kästen, schwer von Gold. Einer möchte am liebsten sein Jagdgewehr mitbringen.

Die Gaststätte „Zum braunen Hirschen“ in Bullerborn war ein stattliches Haus am Markt, gerade der Kirche gegenüber. Der Wirt streifte für sein Leben gern mit Büchse und Hund den Berg entlang und durch die Wiesen. Im Winter wie im Sommer nahm er an jeder Hetzjagd teil. Nun aber war er achtzig Jahre alt geworden und sollte sich für immer von Feld und Wald verabschieden. Nur ungern begab er sich auf die letzte Reise.

Er stand vor der Himmelstür und klopfte leise an. Der heilige Petrus öffnete und fragte ungehalten: „Wer bist du, und was willst du hier?“ Der Wirt antwortete: „Nun, Sankt Peter, wir kennen uns schon lange. Bei jeder Prozession trug man dich an meinem Haus am Markt vorbei. Heimlich blickte ich durch das Fenster und nickte dir immer einen freundlichen Gruß zu. Du musst mich doch gesehen haben. Ich bin es, Franz Sänger aus Bullerborn!“ „Du bist der Wirt des ‚Braunen Hirschen‘, oder? Klapperst und knallst und pirschst du nicht gern? Zeigst du mir als Eintrittskarte in den Himmel etwa deinen Jagdschein vor? Am liebsten schickte ich dich wieder zurück, du Hasenmörder, du Iltisfänger. Aber der Herr will sich deiner erbarmen. Also tritt herein! Warum kommst du eigentlich so spät? Warum hat deine Reise von Bullerborn zu mir herauf drei Tage gedauert? Wo hast du dich herumgetrieben?“ „Ach, Herr, ich musste mich durch Disteln und Dornen, durch tiefe Täler, durch Gebüsch und über Felsen kämpfen. Meine alten Beine wurden müde. Die Zeit vergeht, wenn man immer wieder Pause machen und sich erholen muss. Außerdem hörte ich am Berghang Jagdrufe, Hörnerklänge und das Gebell der Jagdhunde. Plötzlich lief in Schussweite ein mächtiger Hirsch, ein Vierzehnender, an mir vorbei. Und ich stand da und hatte nichts zum Schießen, es war schrecklich!“

Empört zog Sankt Peter die Augenbrauen hoch und murrte: „Mensch, das ist ja furchtbar! Du hast den Bernd Hackel gehört, und zwar mitten in der Hölle!“ „Tatsächlich? Aber mir gefiel die Jagd. Gibt es hier bei dir eigentlich auch Wild zum Jagen?“ Franz Sänger zeigte auf die Himmelstür. Petrus rasselte zornig mit dem Schlüsselbund und rief: „Heilloser Kunde, willst du mit Horn und Hund in den Himmel einziehen, mit Schießen und Schreien? Willst du den heiligen Frieden der Menschen stören, die nicht mehr leben und leiden mögen? Hier kannst du nicht mehr sündigen. Willst du nicht endlich rasten und ruhen?“ Franz Sänger raufte sich die grauen Haare und sprach erschrocken: „Es gibt hier keine Jagd? Auch nicht ein bisschen private Herrenjagd?“ „Gar nichts, du Strolch!“, antwortete Petrus, der Pförtner. „Für die ganze ewige Zeit? Das tut mir aber leid! Ach, da fällt mir ein, dass ich meinen Stock dort unten bei der Jagd vergessen habe. Seit ich am Rehberg, an der Heidenmauer beim Sachsenborn, den Keiler geschossen habe, war der Stock aus Schlehdorn immer mein Begleiter. Ich erzähle dir später die Geschichte. Ich will erst einmal zurück nach unten gehen und den Stock holen, ich komme wieder. Lasse das Tor offen. Du weißt, ich bin alt und muss langsam gehen.“ Hastig schritt der Alte den Wolkenberg hinunter.

Petrus strich sich über den grauweißen Bart. „Franz Sänger, du warst schon immer ein komischer Vogel. Hoffentlich gibt es keinen, der schlimmer ist als du. Ich denke, du findest den Stock in den Büschen, aber dann findest du auch den Rückweg zu mir.“

[Das letzte Hemd hat eben keine Taschen.]

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